"Scars" von @Nico

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Amélie Cooper

An: Eva Schulte > 22:28

Erinnerst du dich an Caden? Den Typen, den ich hin und wieder in meinen Mails erwähnt hatte? Ich... ich muss mit dir reden. Über ihn. Dringend.

Alles begann, als ich neu in die Klasse kam. Ich will nicht behaupten, dass die anderen etwas mir gegenüber falsch machten, im Gegenteil. Eine Gruppe aus meiner Klasse führte mich herum, zeigte mir alles und gaben über jeden Mitschüler den ich in sämtlichen Kursen hatte Bericht. Als wir in den Raum für Deutsch kamen, fiel er mir sofort auf. Er trug einen dunklen, weiten Kapuzenpulli, schwarze, lange Jeans und das alles im Sommer bei locker 25°. Wahrscheinlich war es das, was mich so stutzig machte oder zumindest stutzig gemacht hätte haben sollen. Stattdessen war ich einfach geblendet. Geblendet von ihm und geblendet von seinen Kritzeleien auf dem Collegeblock, der vor ihm lag und über den er sich schützend gebeugt hatte, während er zeichnete. Seine dunkelbraunen Haare fielen ihm dabei ins Gesicht und ich fragte mich, wie er dabei überhaupt irgendetwas sehen konnte.

Sofort warnte Luke, einer der Typen, die mich von Anfang an unter die Fittiche genommen hatten mich vor ihm ,,Das ist Caden", hatte er mit einem abfälligen Grinsen gesagt. ,,Er hat einen gehörigen Knacks in der Birne, halt dich am besten so weit von ihm fern wie du kannst."

Das hatte ich vor gehabt, keine Frage, doch wie es das Schicksal wollte, landete ich direkt neben ihm. Sonst war kein Platz mehr frei. Er redete nicht viel und eine Zeit lang fragte ich mich, ob er überhaupt sprechen konnte. Die Antwort darauf sollte ich bekommen, als es wieder passierte. Der Grund, der unserer Klasse damals den Grund gab, mich abgrundtief zu hassen. Mich zu provozieren und damit alles schlimmer zu machen. Vielleicht hattest du es bemerkt, zwischendurch drehte ich ohne jegliche Vorwarnung wie aus dem Nichts durch. Schlug um mich, krümmte mich und heulte wie verrückt. Ich hätte es dir vielleicht früher sagen sollen, immerhin warst du die einzige, die sich nicht wie ein Idiot verhalten hat. Und das schlimmste, ich war nicht besser als die anderen, habe Verständnis für etwas verlangt, was niemand wissen konnte.

Doch zurück zu Caden. In der Deutschstunde war es laut, zu laut. Hinter uns grölten die Jungs zu irgendeinem Lied, das sie über ihre Kopfhörer hörten, die Mädchen vor uns unterhielten sich in voller Lautstärke. Unser Deutschlehrer ist alt, geht bald in Rente. Ihn hat noch nie interessiert, was seine Schüler taten, er hält einfach seinen Unterricht ab und wer nicht mitkam hat Pech gehabt. Die Tatsache, dass wir bald eine Prüfung schreiben würden und ich so nichts von einem Thema, dass ich sowieso kaum verstanden hatte hören können würde, verschlimmerte es nur. Meine Gedanken fuhren Achterbahn, ich hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können.

Panisch schnappte ich nach Luft, es war zu wenig, viel zu wenig. Noch einmal versuchte ich, meine Lungen mit Sauerstoff zu füllen. Es brannte bereits, doch es fühlte sich noch immer nicht genug an. Man kann es vielleicht damit vergleichen, Unterwasser atmen zu wollen, aber es von seinem Überlebensinstinkt verweigert zu bekommen. So in etwa fühlt sich das an. Im Schwimmbad kann man wieder an die Wasseroberfläche schwimmen, doch in der Deutschklasse hatte ich das Gefühl, eine riesige Schwimmmatte war über mir aufgetaucht und versperrte den sicheren Weg an die Luft.

Niemand bekam etwas mit, niemand bemerkte, wie mir, immer noch nach Sauerstoff hechelnd die erste Tränen in die Augen traten und mir meine Sicht nahmen. Alles verschwamm, der Strudel der Panik wurde stärker. Und unter all dem drang Cadens dunkle, beruhigende Stimme hindurch. Ich weiß nicht mehr, was genau er sagte, ich kann mich kaum noch an irgendetwas in diesem Moment erinnern. Was ich sagte oder dachte, ob ich überhaupt etwas dachte. Doch es half, wie er mir vorsichtig über die Schulter strich, auf mich einredete und mir schließlich eine Plastiktüte zum hinein atmen gab.

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