Bilder

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Stegi stockte, schaffte es nicht diesen Satz über die Lippen zu bringen. Er zitterte am ganzen Körper vor Angst, sein schluchzen hallte so laut in Tims Ohren, dass es sich für immer in sein Gedächtnis brannte. Einen solchen Laut konnte man nicht mehr vergessen. Etwas schlimmeres hatte Tim noch nie in seinem Leben gehört und wenn er könnte, würde er es am liebsten direkt wieder vergessen. Sich wünschen, dass er Stegi dieses Leid nehmen konnte und so mit diesen Laut nie wieder hören konnte. Dieses kleine zitternde und schluchzende Wesen vor ihm hatte nichts mehr mit dem starken Jungen zu tun, den Tim kennengelernt hatte. Der strake Junge, der sich freiwillig seinen Berührungen ausgesetzt hatte, der Basketball mit ihm gespielt hatte. Der ein halbwegs normales Leben zu führen schien, wenn man nicht all zu genau hinsah. Der Junge, der sich auf eine Beziehung eingelassen hatte, obwohl ihn jede Berührung so unendlich quälte, dass er es selbst kaum aushielt. Und doch hatte diese Seite immer tief in ihm geschlummert. Verborgen und begraben von seinen Schwächen, überlagert mit einer Schutzschicht und ummauert von einer Meter hohen und dicken Wand, um seinen Besitzer davor zu schützen, den Verstand zu verlieren. Und dennoch schafften es einzelne Gedanken wie kleine Parasiten diese Mauer zu erklimmen und sich auszubreiten. Seinen Besitzer innerlich zu quälen und aufzufressen. Tief im Kern schlummerte etwas, was sie wohl alle nicht beschreiben könnten, doch es war erwacht und brach sich durch die langsam einstürzende Mauer, die sie alle zum einstürzen gebracht hatten. Stück für Stück immer weiter, bis sie zu instabil war weiter zu bestehen. Tim gingen tausende Gedanken durch den Kopf, rauschten in einzelnen verschwommenen Bildern an seinem inneren Augen vorbei und versuchten aus dem Satzanfang ein Bild zu bauen, was Sinn ergab, was ihm alles erklärte. Eines schlimmer als das andere. Und auch wenn sie sich alle unterschieden, waren sie im Kern doch gleich und vor allem schrecklich. Das erste Bild, welches er festhalten konnte, war eine undeutlich verschwommene und doch scharfe jüngere Version von Stegi, die zitternd in der Ecke saß und einen Teddy umklammerte, während sich vor ihm ein bedrohlicher Schatten aufbaute und ihn schlug. Nicht nur einmal, sondern immer und immer wieder. Stegi sich unter ihm windend und schreiend und weinen, bis sich die grün gelben Augen verdrehten und der kleine Stegi bewusstlos zur Seite kippte und dabei den Teddy los ließ. Sein einziger Schutz, seine einzige Sicherheit, seinen einzigen Freund.
Das Bild wechselte. Wieder eine jüngere Version von Stegi, die diesmal unter einem Bett lag und sich das Schluchzen und jeglichen Laut unterdrückte. In seinem Arm wieder der kleine Teddy, den er fest an seine Brust gedrückt hatte, wohl aus Angst und als Talisman. Vor dem Bett zwei undeutliche Schatten, wobei einer männlich und einer weiblich war. Der männliche unter Alkohol oder drogeneinfluss auf die Frau einschlagend, bis sie zu Boden fiel, blutend an Schläfe und Lippe und regungslos liegen blieb, fast schon tot. Stegi hatte erschrocken die Luft eingestuft und sich dann eine Hand auf den Mund gepresst, um keinen weiteren Laut von sich zu geben. Die Augen groß aufgerissen in Angst vor dem Schatten, der vor dem Bett stand und sich jetzt herunter lehnte. Bevor er sich vorstellen konnte, ob Stegi gefunden wurde und was dann mit ihm passiert wäre, verschwamm das Bild.
Wieder tauchte ein neues Bild vor ihm auf, wieder eine völlig andere Szene, die er nicht richtig zu deuten wusste im ersten Moment. Zwei undeutlich verschmolzene und verschwommene Figuren, die nah beieinander standen und etwas tun tun schienen, was sich durch die Dunkelheit des Bildes nicht entziffern ließ. Allein das leise Wimmern gab Aufschluss darüber, dass es keine freiwillige Situation war und etwas gegen den Willen eines anderen passierte. Gegen Stegis Willen. Allein dieses Bild hielt er für realistisch genug, dass es wirklich wahr sein konnte. Das Stegi wirklich gegen seinen Willen berührt worden war, oder schlimmer. Aber wer würde sowas einem kleinen Kind antun? Eigentlich ja niemand. Andererseits hatte Stegi das alles hier nicht gespielt. Sein Schmerz, die Angst und die Tränen waren zu einhundert Prozent echt. Er wollte keines dieser Bilder wirklich wahrhaben, aber Stegi hatte ein Trauma davon getragen. Er konnte nicht damit rechnen, dass es einfache Berührungen waren. Auch wenn er es sich wünschte, tief in seinem inneren wusste er, dass es kompletter Quatsch war. Stegi war etwas schlimmes widerfahren und das hatte er von Anfang an gewusst. Jemand musste Stegi bis aufs Äußerste gequält haben, dass so etwas zu Stande kam. Das eine solche Panik, ein solches Traumata zustande kam. Auch wenn er es nicht wahrhaben wollte, so war es doch immer bittere Realität gewesen.
Wieder verschwamm das Bild, wieder eine neue Szene, die ihm einen Schauer über den Rücken jagte und ihn das ganze am liebsten wieder vergessen lassen wollte. Diesmal war es keine körperliche Folter, sondern rein mentale Folter, der Stegi verzweifelt versuchte zu entkommen. Versuchte sich vor der Wahrheit zu verschließen, die ihm so grauenhaft zu sein schien, dass er nur noch weg wollte. Doch er wurde dazu gezwungen die Augen zu öffnen und einen nicht identifizierbaren Gegenstand anzuschauen, was Stegi sichtlich keine Freude war. Tränen liefen seine Wangen hinab und er flehte stumm darum, dass es aufhören sollte. Das er was auch immer nicht mehr sehen wollte. Doch er wurde weiter dazu gezwungen es sich anzusehen, angeschrien und beschimpft, ohne das ein klarer Wortlaut zu vernehmen war. Sicher eine Minute hielt dieses Bild, bevor Stegi zitternd zusammen brach und einfach bewusstlos zur Seite kippte. Erst da wurde er losgelassen und reglos alleine liegen gelassen.
Wieder veränderte sich das Bild in Tims Kopf, wieder eine andere Szene, die sich nicht wirklich von den anderen Unterschied und es dennoch tat. Schatten die sich um Stegi drängten, auf ihn herab sahen, lachten und sich köstlich amüsierten, während Stegi in der Ecke immer kleiner wurde und versuchte unsichtbar zu werden. Aus der Situation zu fliehen und dennoch Stark zu sein und so zu versuchen, das Unheil von sich abzuwenden. Aber das interessierte niemanden. Die Schatten traten näher und engten Stegi immer weiter ein, bis er mit dem Rücken an der Wand saß und kein Blattpapier mehr zwischen sie passte. Das lachen wurde lauter in Tims Kopf, während sie ihn immer und immer wieder anfassten und piesackten. In Stegis Augen der Wunsch dem ganzen zu entfliehen und es aufhören zu lassen, während er klein gekauert am Boden hockte und sich nicht wehren konnte. Dazu waren sie zu viele. Dazu war Stegi nicht stark genug.

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