Das Problem mit Berührungen

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Also Tim konnte sich nicht vorstellen, dass Stegi bei einer Panikattacke noch ruhig zu Boden sinken konnte. Gerade wenn man das Bewusstsein verlor, kippte man ohne Vorwarnung nach hinten weg. Hatte er selbst schon zwei Mal erfahren. Einmal in der Schule bei einem Sportevent und einmal im Basketball Camp im Sommer bei vierzig Grad. Zugegeben, es war nicht ihre beste Idee gewesen, in der prallen Sonne vier Stunden Volleyball zu spielen. Wenn man dann noch zu wenig trank war man schnell weg.
„ Also ich weiß nicht anfassen, aber wenn du umkippst wirst du kaum noch Kontrolle über deinem Körper haben.", argumentierte Tim gegen. So funktionierte der Körper einfach nicht.
„ Ja und nein. Bei einer Panikattacke hab ich noch Kontrolle. Da schaff ich es noch langsam zu Boden zu sinken. Hab ich mir antrainiert. Früher hatte ich nämlich ständig überall blaue Flecken. Bei uns in der Wohnung lagen dünne Weichböden aus und alle Möbelkanten waren abgeklebt mit Stoff oder Styropor. Sollte ich bewusstlos werden, dann ja, kipp ich einfach um und bin weg. Ist aber eher die Ausnahme." Gut zu wissen, dass Panikattacke nicht gleich Panikattacke war. Es gab wohl die soft Variante aus dem Training und die hard Variante aus der Schule. Wobei ihm ersteres wesentlich lieber war. Gerade auch körperlich schien ihm bewusstlos mehr zuzusetzen, als einfach nur ne Panikattacke. In der Schule hatte er ja kaum mehr aufstehen und sich auf den Beinen halten können und hatte sich in Verzweiflung berühren lassen und nach dem Training hatte er noch abhauen können.
„ Darf ich dich da wenigstens abfangen, wenn ich nur an deine Arme packe? Ich mein, umzukippen ist nicht ohne. Hatte damals ne Platzwunde am Kopf, als ich umgekippt war wegen Kreislaufproblemen." Seine Verletzung wäre wesentlich weniger schlimm gewesen, wenn er nicht zur Seite getaumelt wäre und mit dem Kopf auf der Steinkante aufgekommen wäre. Sonst wäre er auf der roten und durchaus weicheren Laufbahn aufgekommen.
„ Probier es ruhig. Tobi ist acht von zehn mal gescheitert, als er mir das damals vorgeschlagen hatte." Es war westlich öfter gewesen. Hunderte Male durften es schon gewesen sein. Mindestens. Doch er hatte es runter gebrochen. Gerade zu Beginn war er dauernd umgekippt. Meist bewusstlos, weil er mit seinem Traumata nicht richtig umgehen konnte. Er hatte nur verdrängt und nicht verarbeitet. Daher war jede neue Berührung für ihn eine Höllen Qual. Damals hatte er zusätzlich noch das zwanghafte Bedürfnis sich nach jeder Berührung zu waschen. Zu Beginn mit Seife und Schwamm. Oft hatte er am Körper dann Wunde Stellen gehabt, weil er sich die Haut mit aufgekratzt hatte. Auch wenn es höllisch gebrannt hatte, danach war es ihm wesentlich besser gegangen. Optimal war das nicht gewesen. Seinen Körper zierten noch etliche Narben von solchen Stürzen und Waschaktionen. Mittlerweile war dieses Verlangen nicht mehr so stark. Es kam mehr drauf an, wer ihn wo berührte. In seinem nahen Umfeld hatte es sich beruhigt und er hatte sich von Wenigen wieder an Berührungen gewöhnen können.
Das beschränkte sich auf seine Eltern und Tobi. Bei seinen Großeltern ertrug er es meist einfach, auch wenn ihn schreckliche Bilder heim suchten. Danach ging er meist abends einfach ausgiebig duschen. Bei Fremden waren es einfachste Berührungen, die eine zwanzig minütliche Dusche auslösten. Umarmungen und Berührungen am Oberkörper sorgten dafür, dass er zu diesem schmerzhaften schrubben griff. Auch Tims Berührungen nachdem er umgekippt war, hatten zusätzlich mit Bastis dafür gesorgt. Sagen würde er es keinem der beiden. Sie wussten bescheid und das reichte.
„ Ich probier's zumindest.", meinte Tim mit einem milden Lächeln auf den Lippen. Für einen kurzen Augenblick wurden sie ruhig, weil die Kellnerin auf ihren Tisch zusteuerte. In der Hand ein Tablett, zwei Tassen Kakao und zwei Stück Kuchen. Genauer gesagt ein Apfelkuchen und ein Schoko-Muffin. Sie stellte alles bei ihnen ab, wünschte ihnen guten Appetit und verschwand dann wieder so schnell wie sie gekommen war. Tim hob direkt die Tasse an seine Lippen, pustete vorsichtshalber noch mal, bevor er einen kleinen Schluck trank. Er hatte einfach Durst. Der Kakao schmeckt so gut wie immer, war nur deutlich zu heiß. Stegi hingegen hob die Tasse zögerlich zu seinen Lippen und nippte nur einmal kurz an der Flüssigkeit, ehe er sie als viel zu heiß abstempelte und zurück auf den Tisch stellte. Statt was zu trinken würde es jetzt wohl erstmal essen werden.
Wobei Stegi so langsam und zierlich aß, wie ein Spatz. Er brach immer mit zwei Fingern ein kleines Stück des Muffins ab und steckte es sich in den Mund. Meist leckte er sich dann mit der Zungenspitze ein paar Krümel von den Lippen, was so unendlich süß aussah. So kam es, dass Stegi auch lange nachdem er sein Stück Kuchen gegessen hatte noch mit seinem Muffin beschäftigt war. Und statt wieder ein Gespräch in Gang zu bringen, schwieg Tim und musterte den kleineren beim Essen, wobei er selbst ab und zu einen Schluck Kakao trank. Den Gott war Stegi niedlich. Tim wusste ja, dass Stegi klein, zierlich und gutaussehend war, doch diese Angewohnheit war unendlich niedlich. Zumal Stegi es immer und immer wieder tat, ohne es zu merken. Selbst nachdem Stegi fertig mit essen war, blieb es noch eine kleine Weile ruhig zwischen ihnen. Die Stille war tatsächlich angenehm und wirkte nicht so gezwungen. Sie konnten es genießen und Stegi tat es gerade mal gut, einfach nicht reden zu müssen. Reden bereitete ihm selbst bei Tim immer noch ein wenig Probleme. Gerade Gespräche in Gang zu bringen, erforderte noch ein bisschen Mut. Wenn sie aber erstmal sprachen, ging es sogar ganz gut. Erst als die Kellnerin zu ihnen an den Tisch kam und fragte, ob sie noch etwas sollen, mussten sie beide mit einem nein Antworten. Oder zumindest den Kopf schütteln in Stegis Fall.
„ Ähm könnten wir bitte die Rechnung haben?", fragte Tim mit einem freundlichen Lächeln. Stegi wollte sofort protestieren und noch anhängen, das sie getrennt bezahlen würden, doch er traute sich nicht den Mund aufzumachen und es anzusprechen. Somit musste er mit ansehen, wie die Kellnerin am Tisch noch ihre Bestellung zusammenrechnete und Tim ihr das passende Geld hinlegte, ohne das Stegi etwas tun konnte. Und das war es, was ihn am meisten störte. Er war alt genug sein Zeug selbst zu zahlen. Dazu müsste er es aber auch ansprechen können.
„ Ich weiß, was jetzt kommt. Sieh es als Entschuldigung dafür, dass ich dich so bedrängt hatte und den Zusammenbruch ausgelöst hab.", rechtfertigte sich Tim, ohne ihm die Chance zu geben, seinen Einwand einzubringen.

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