Mera
Jemand schrie.
Mein Traum war warm gewesen, flüssiges goldenes Licht, bis Damians Schrei ihn durchschnitt wie ein schwarzes Messer und mich zurück in die Realität riss.
Ich öffnete die Augen und fand mich im Bett meiner Mutter wieder. Meine Wange lag auf einem seidenen Kissen und jemand hatte mir eine Decke über die Schultern gelegt, damit ich nicht irgendwann im Laufe der Nacht vor Kälte wach wurde. Nach und nach kamen die Erinnerungen zurück. Mein Gesicht fühlte sich geschwollen an, so lange hatte ich in den Armen meiner Mutter geweint. Irgendwann war ich so erschöpft gewesen, dass sie mich hinlegen musste. Das letzte, was ich wahrgenommen hatte, war Kore, die an meiner Seite sitzend gewacht hatte, bis ich eingeschlafen war. Jetzt war der Platz neben dem Bett leer.
Meine Augen suchten den Raum ab. Kore stand mit dem Rücken zu mir auf dem Balkon. Die gerade aufgegangene Morgensonne umstrahlte sie und warf die Schatten der ausgehöhlten Ornamente ihres steinernen Balkongeländers über den Marmor. Ein daumengroßes Glas Kaffee stand darauf, sichtbar dampfend. Vor ihr schoben sich verästelte Akazienzweige über die Aussicht, in denen sich lautstark eine Gruppe bunt schillernder Vögel jagte. Dahinter erstreckte sich schweigend das Panorama der umgebenden Berge. Jetzt bei Sonnenaufgang glitzerte jeder ihrer sonst so versteckten Wasserfälle im Sonnenlicht.
Der Schrei war längst an den steinernen Bergflanken widergehallt und verklungen, aber für mich bestand kein Zweifel, wer es gewesen war. Meine Mutter musste es noch besser gehört haben. Ich richtete mich auf und die Decke rutschte von meinen Schultern. „Ist sie-"
„Ja. Sie ist tot." Kore drehte sich zu mir um. Langsam durchquerte sie den Raum und setzte sich neben mich auf die Bettkante. Müdigkeit und Traurigkeit waren ihr ins Gesicht geschrieben, aber als sie mich ansah, lächelte sie schwach. „Hast du Hunger?"
Ich schüttelte den Kopf.
Kore nickte wissend. Sie streckte die Hand aus und strich mir eine lose Strähne zurück. „Geh zu ihm."
„Was", begann ich und schluckte, „was, wenn ich ihm nicht helfen kann?"
„Das wirst du nicht. Aber das ist auch nicht deine Aufgabe. Sei da für ihn, wenn er dich braucht. Oder warte, bis er es tut."
Mein Herz klopfte mir bis in die Ohren, als ich wenig später durch die sonnendurchfluteten Gänge schritt. Ich öffnete die Tür zu Veronikas Zimmer und wäre fast mit einer jungen Magierin zusammengestoßen, die mit blutigen Leinentüchern in den Armen nach draußen trat. Sie mied meinen Blick.
Drinnen waren noch immer die Überbleibsel der letzten Nacht zu sehen, als die Magierinnen um Veronikas Leben gerungen hatten. Eine Spur aus verschmiertem Blut führte zum Bett. Am Boden lagen Leinenfetzen von zerrissenen Verbänden verstreut. Halbleere Fläschchen mit Kräutern und Tinkturen standen noch geöffnet auf dem Nachttisch, daneben eine Schüssel mit rot gefärbtem Wasser, in dessen stiller Oberfläche sich Damians Gesicht spiegelte. Er saß neben dem Bett und hielt Veronikas Hand.
Ich hatte im Eldra-Tal schon einige Verstorbene gesehen. Die meisten Menschen wirkten im Tod kleiner. Zerbrechlicher. Aber nicht so Veronika. Ihre Augen waren geschlossen und es wirkte, als schliefe sie. Als sei sie ihr eigenes steinernes Bildnis, wie es reiche Menschen auf ihren Grabmälern anfertigen ließen. Von ihren Schmerzen oder den Kämpfen der Nacht war in ihrem Gesicht nichts mehr zu erkennen. Und trotzdem schien etwas anders. Etwas an ihr war verschwunden. Fort, für immer. Damian wusste es und ich wusste es. Meine Sicht auf ihn verschwamm, als ich seinen zitternden Kiefer sah. Den dumpfen Schock in seiner Miene, der ihn betäubte und dadurch die Tränen zurück hielt. Noch.
Auf der anderen Seite des Betts stand Hypatia und sah auf Veronika herab. Ihr besorgter Blick streifte Damian, dann mich. „Majestät", sagte sie sanft. „Wenn Ihr erlaubt, kümmern wir uns um ihr Begräbnis. Ich kannte sie nicht gut, aber nach allem, was wir wissen, wäre eine Totenfeier nach dem alten Ritus wahrscheinlich in ihrem Sinn gewesen."
„Ja."
„Wir könnten sie in unserer Krypta zur Ruhe legen. Natürlich müsste ich Kore um Erlaubnis fragen, weil sie keine Magierin ist."
Damian nickte abwesend.
„Gibt es Leute, die wissen sollten, was passiert ist? Angehörige? Wir haben Mittel und Wege jemandem in Thisbe eine Nachricht zukommen zu lassen."
„Sie hat nie was von Verwandten gesagt." Seine Stimme war brüchig. „Wenn, dann kenne ich sie nicht."
„Wir hören uns um." Hypatia holte tief Luft. „Der Tradition nach wird ihr Begräbnis übermorgen bei Sonnenaufgang stattfinden. Heute Abend halten wir das Totenmahl für sie. In der Zeit dazwischen sollten auch die anderen Schwestern Zeit haben, von ihr Abschied zu nehmen. Würdet...Majestät, wir müssen sie für die Beerdigung zurecht machen."
Wieder nickte Damian. Er beugte sich vor, strich ihr übers Haar, küsste ihre Stirn, während er ihre rechte Hand, die er gehalten hatte, auf ihren Bauch legte. Dann atmete er zitternd aus und stand auf.
„Merope wird bei Euch bleiben", sagte Hypatia. „Vielleicht geht ihr in den Tempel und sprecht ein paar Gebete?"
Es war, als hätte ihr letzter Satz Damian aus seiner Lähmung gerissen. Sein Blick klärte sich, wie wenn ein grauer Schleier fallen würde. Er wirbelte herum und seine Augen wurden eng. „Glaubt mir", wisperte er mit bebender Stimme, „Beten ist das letzte, was ich will."
Mit diesen Worten rauschte er an mir vorbei durch die Tür, ohne mich auch nur zu beachten und verschwand im Gang.
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Die Dornen der Götter
Fantasy„Hexen müssen sterben. So ist es Gesetz in Verlon. Seit dem Tag, als sich ihre Magie gegen uns wandte und Monster schickte. Seit dem Tag, als unser König die Kreaturen bezwang und in den Wald verbannte. Die Monster waren Gottes Strafe für Zauberei...