Kapitel 1.4: Drei Frauen

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Eine Stunde später trat ich durch die geöffneten Flügeltüren in die Bibliothek der Magierinnen. Ich hatte mich hier mit Thalia verabredet, um zu beratschlagen, wie wir auf die neusten Entwicklungen reagieren sollten. 

Die Bibliothek war ein Raum wie eine Kathedrale, weiß, mit steinernen Regalen, die bis zur Decke reichten. Die Bogenfenster glichen denen im Gebetsraum und auf den Lesetischen aus weißem Holz brannten Kristallampen mit pastellfarbenen, zweifellos magischen Flammen. In der kühlen, trockenen Luft lag ein Geruch, den ich nicht wirklich einordnen konnte. Bienenwachs, Lotus und frisches Papier vielleicht? 

Am Lesetisch vor dem Fenster saß Veronika, vor ihr ein Glas Limettenwasser und einen Berg an Schriftrollen und Büchern, durch den sie sich mit konzentriert gerunzelter Stirn arbeitete. Ohne zu zögern ließ ich mich ihr gegenüber auf die Bank sinken. Genau wie Thalia und ich war sie vor der Versammlung entschlossen gewesen, Damian zu befreien. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie so leicht aufgab.

Doch noch ehe ich etwas sagen konnte, kam sie mir zuvor: „War das nötig?" Sie blickte nicht auf. Nach wie vor blieb sie über eine Schirftrolle gebeugt, während sie mit einem angespitzten Schilfrohr Notizen in eine Bienenwachstafel ritzte. 

Nun runzelte auch ich die Stirn. „War was nötig?"

„Stell dich nicht dumm. Sie ist deine Mutter. Und mehr noch, die Herrin dieses Hauses. Was du gesagt hast-"

„-war die Wahrheit." Auf einmal macht mich ihre Einmischung richtig wütend. „Ich dachte, gerade Ihr wüsstest die zu schätzen."

„Das tue ich." Seufzend legte sie den Stift zur Seite, faltete die Hände. „Und deswegen lass mich dir etwas sagen, für was im Moment offensichtlich kein anderer den Mut hat." Sie sah mir in die Augen. „Nur weil du jetzt erst deine leibliche Mutter kennengelernt hast, bedeutet das nicht, dass du deine kindliche Trotzphase nachholen musst. Du führst dich auf wie eine Dreijährige, die  glaubt, die ganze Welt dreht sich um ihr scheinbar erlittenes Unrecht. Dabei bist du doch die am wenigsten Leidtragende von allen Beteiligten."

Ich schnappte nach Luft. Veronika ignoriert es. 

„Kore hat sich siebzehn Jahre ihres Lebens rauben lassen, damit du in Frieden aufwachsen konntest. Sie hat alles geopfert, damit du leben kannst! Was machst du ihr zum Vorwurf? Dass sie dich in die Hände einer liebenden Familie gegeben hat? Sie wäre für dich gestorben, hat für dich gelitten! Ananke tut es noch immer!"

„Ich habe keine von beiden darum gebeten", sage ich kühl.

„Nein. Aber das ist, was selbstlose Liebe macht. Und anstatt dich permanent in deinen Verletzungen zu suhlen, wäre ein wenig Dankbarkeit dafür angebracht." Veronika musterte mich aufmerksam, die Brauen zusammengezogen. „In Wahrheit geht es doch gar nicht um Kore, richtig?", fragt sie sanft, „Du hast einfach Angst. Angst vor zu viel Liebe."

„Was?"

„Jahrelang warst du von zu vielen Dingen ausgeschlossen, fast ausgestoßen. Hast niemanden an dich rangelassen. Nun bist du zum ersten Mal in einer Gemeinschaft, die dich annimmt und du hast keine Ahnung, wie du dich in dieser neuen Situation verhalten sollst. Also machst du es so, wie du es gewöhnt bist. Du nutzt die Wut auf Kore als Ausrede, um alle ein wenig auf Abstand zu halten. Und dich damit in Sicherheit. Du hast Angst, verletzt zu werden. Deine Unabhängigkeit zu verlieren. Angreifbar zu sein. Verständlich, denn das alles wäre tödlich im Arbor. Aber Mera: Du bist nicht mehr nur die Waldweise. Nicht alle Verletzungen sind tödlich. Manche gehören zum Leben einfach dazu." 

Eine Weile schwieg ich, sah sie nur an. „Ich verstehe, warum Damian Euch so schätzt."

Bei meinen Worten senke  Veronika den Blick auf die Wachstafel unter ihr. Als sie wieder aufsah, zitterte ihre Unterlippe. „Ich liebe Damian", sagte sie leise, „Und ich würde alles tun, um ihn nochmal in die Arme zu schließen. Für uns ist es vielleicht zu spät. Aber für dich und deine Mutter nicht. Lerne aus uns. Das Leben kann schnell vorbei sein und man bekommt nicht immer eine zweite Chance."

Die Dornen der GötterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt