Kapitel 51

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„Na, haben Lasse und du sprechen können?", begrüßte Hans mich auf der Geschäftsstelle.
„Was machst du denn hier?", fragte ich überrascht.
„Ich vertrete Paul. Der hat sich irgendeinen Virus eingefangen und liegt Zuhause im Bett."
„Der auch noch?", fragte Bob, der gerade zur Tür hereinkam, „jetzt sind Andersson und Gidsel ja völlig auf sich alleine gestellt!"
„Wieso? Fabi ist doch da! Und Paul konnte doch sowieso nicht spielen!", fragte ich irritiert.
„Paul hat doch in den letzten Wochen mittrainiert, er ist soweit, wenigstens minutenweise auszuhelfen", erklärte Bob, „ist dir das nicht aufgefallen?"
„Sorry, ich...ich hab wohl nicht aufgepasst."
„Und Fabi hat sich das Sprunggelenk gebrochen", erzählte Hans, „im letzten Auswärtsspiel gegen Balingen."
„WAS?!", rief ich geschockt, „das wusste ich nicht..."
„Sag mal, Malia, wo warst du denn die letzten Wochen gedanklich?!", fragte Bob. Ich schüttelte mich einmal und blinzelte.
„Wie geht's ihm denn?", fragte ich besorgt.
„Naja, Hinrunde und EM kann er vergessen", antwortete Hans, „ich würde behaupten bescheiden..."
„Oh nein, der Arme...", seufzte ich. Bob verabschiedete sich kopfschüttelnd. Aber ich glaube, es hat ihn eher amüsiert, dass ich nicht Bescheid wusste, statt verärgert.
„Ich hoffe du bist mir nicht böse", sagte Hans dann. Ich runzelte die Stirn.
„Weil ich mit Lasse gesprochen habe."
„Nein...es ist besser, dass er es weiß. Und ohne dich hätte er mir wahrscheinlich gar nicht zugehört..."
„Er ist ein guter Kerl. Auch wenn er das manchmal versteckt."
„Ich weiß...er war sehr emotional, als wir gesprochen haben. Ich bin ihm nicht böse. Wie könnte ich auch? Ich bin diejenige, die Fehler gemacht hat. Und ich hoffe, das hört jetzt auf!"
„Malia, das wird nie aufhören. Wir alle machen unser ganzes Leben lang Fehler. Das ist okay. Aber es ist nicht okay, sich alles gefallen zu lassen, ja?"
Ich nickte. Er hatte recht. Er hatte eigentlich immer recht. Das war schon fast unheimlich.
„Ich kann dir nur raten: Vertrau dich jemandem an, wenn etwas passiert. Wir sind hier in Berlin, es ist hier gefährlicher als da wo du herkommst. Also bitte: Ruf mich an, wenn etwas passiert, okay?"
„Okay. Danke Hans. Für alles."
Er breitete seine Arme aus und ich erwiderte die Umarmung. Ich konnte endlich wieder durchatmen. Alles war gut. Und damit meinte ich auch endlich mal alles. Gegenwart und Vergangenheit. Und die Zukunft? Die wird so oder so noch einiges für mich bereit halten. Es wird sicher nicht immer alles gut gehen, aber ich wusste, dass ich nicht alleine war. Ich hatte Mathias, Hans und Lasse. Und sicherlich auch Paul - naja gut, wenn er wieder genesen war. Und so nutzte ich einen kurzen Moment, um ihm Genesungswünsche auf sein Handy zu schicken. Dann ging es zurück an die Arbeit. Doch lange still war es nicht, bis mein Handy erneut klingelte. Sicher Paul, der sich bedanken wollte. Aber nein, das Display meines Handys zeigte einen anderen Namen. Ich nahm ab.
„Heyhey, pretty girl, was hältst du davon, wenn wir heute Abend nach dem Training die Stadt unsicher machen?", meldete sich Lasse.
„Bin dabei. Wer noch?", antwortete ich sofort.
„Nanna und Mathias."
„Was ist mit Kalle?"
„Der kommt noch nicht in den Nachtclub rein!", lachte Lasse und ich verdrehte die Augen, „Hans und Jeanette passen auf. Wir gucken regelmäßig auf die Handys."
„Na gut, also...ich würde Jerry noch einladen. Ich schulde ihm noch einen Tanz."
„Äh, du weißt schon, dass er in dich verknallt ist...mach kein neues Drama..."
„Neues Drama? Er ist ein Freund von mir!"
„Vielleicht solltest du erst deine Energie in Mathias stecken und dann erst in Jerry...bitte verletz ihn nicht...nicht schon wieder...", seufzte er ernst.
„Du meinst das würde ihn verletzen? Die beiden sind doch befreundet!"
„Die beiden sind Arbeitskollegen und verstehen sich gut. Das soll so bleiben."
„Verstehe...na gut, dann wir vier...und Lasse? Ich will nichts von Jerry! Nur falls das irgendwann mal Thema wird..."
„Ich weiß...wir sehen uns dann heute Abend! Wir holen dich ab!"
Das Gespräch mit Lasse brachte mich zum Nachdenken. Scheinbar wusste Mathias nichts von Jerrys Gefühlen und das sollte auch so bleiben. Mathias fraß viel mehr in sich hinein als er zugab. Und ich sollte ihm endlich zeigen, dass wir nichts weiter als ein glückliches Pärchen ohne Probleme sein konnten. Angefangen mit sofort.
Mein Weg nach der Arbeit führte mich also nach Hause. Ich entspannte kurz auf der Couch und verbrachte dann eine Stunde im Bad, um mich ganz gemütlich auf den Abend vorzubereiten. Und dann klingelte es endlich. Ich schnappte mir meine Tasche und verließ meine Wohnung. Nanna fiel mir direkt in die Arme.
„Ich wollte nicht dich stehenlassen bei Spiel!", flüsterte sie in mein Ohr.
„Schon gut! Ich bin dir doch nicht böse deswegen!"
Nachdem wir uns wieder gelöst hatten, begrüßte ich auch Lasse mit einer Umarmung und Mathias mit einem Kuss.
„Das ist allererste babyfreie Abend!", lächelte Nanna und legte einen Arm um Lasse. Ich ließ mich einfach überraschen, wohin uns der Abend führte. Ich war nun schon eine ganze Weile in Berlin, und doch konnte ich in punkto feiern kaum mitreden. Aber ich war mir sicher, dass Lasse und Mathias da durchaus informierter waren. Mit der U-Bahn ging es zum Stadtkern Berlins. Auch hier war ich gefühlt viel zu selten. Dort, wo sich alle Touristen aufhielten. Ich hatte mir noch nicht einmal alle Sehenswürdigkeiten angeschaut, seit ich hier war. Ich war lediglich mit Mathias auf dem Fernsehturm gewesen. Ich stürzte mich wohl wirklich zu viel in die Arbeit. Das ließ mich kurz grinsen. Ich mutierte zu einem neuen Bob. Wobei - hoffentlich nicht. Wir beiden Mädels ließen die Jungs vorangehen. Unser Weg führte uns in einen relativ versteckten Nachtclub. Die Musik war laut, die Stimmung ausgelassen. Lasse schien den Türsteher zu kennen. Er klatschte ihn ab und wir folgten ihm in den Club. Ohne Bezahlung. Nanna zog mich sofort auf die Tanzfläche, während die Jungs erst mal an der Bar ein Bier bestellten. Wie gerne hätte ich mich mit Nanna unterhalten. Hätte ihr gesagt, wie leid es mir tat, was ihr Opa ihr angetan hatte. Aber hier war weder der richtige Ort dafür noch die richtige Zeit. Nanna sollte ihren freien Abend genießen. Und gerade war ihr nach feiern und tanzen und das wollte ich ihr nicht vermiesen. Es war schön, sie so lächeln zu sehen. Wir hatten einfach nur Spaß. Hin und wieder ging mein Blick in die Bar. Die Männer beobachteten uns und unterhielten sich. Nach geraumer Zeit näherten wir uns auch der Bar und bestellten unser erstes Getränk. Mathias legte einen Arm um mich und küsste meine Schläfe.
„Hast du Spaß?", fragte er.
„Ja total! Und du?"
Er nickte. Für eine weitreichende Konversation war es einfach zu laut. Ihm ging's gut, mir ging's gut. Das war das Wichtigste. Nanna und ich ruhten uns kurz auf einer Bank aus. Und als unsere Getränke leer waren, stürmten wieder die Tanzfläche. Ich griff nach Mathias' Handgelenk und zog ihn mit. Und somit war auch Lasse gezwungen, uns zu folgen. Was sollte er auch alleine an der Bar stehen. Wir tanzten erst zu viert, dann schlang Nanna ihre Arme um Lasses Nacken. Sie nutzte es wohl aus, dass ihr Mann einmal mit ihr tanzte. Ich schätzte Lasse als Tanzmuffel ein und so, wie er sich gerade bewegte, schien das auch zu stimmen. Mathias griff nach meinen Händen und zog mich an sich heran. Ich genoss seine Nähe, die Öffentlichkeit machte mir gar nichts aus. Im Gegenteil. Ich war verliebt und jeder sollte es sehen. Nun hatte ich wieder den schönsten Blick: Ich sah direkt in Mathias Augen. Sie leuchteten förmlich. Und seinen Grinsen kam ebenfalls zum Vorschein. Die beiden Männer hielten länger als erwartet mit uns aus, bevor sie sich dann wieder in die Bar begaben und das nächste Bier bestellen.
„Ob Jaron damit einverstanden ist?", schrie ich Nanna fast schon ins Ohr, damit sie mich verstand. Sie lachte.
„Das war für Lasse schon immer egal!", schrie sie zurück. Ja, das konnte ich mir vorstellen. Typisch Lasse! Und Mathias? Der zog mit. Die Disco wurde immer voller und voller. Irgendwann sahen wir die Bar schon gar nicht mehr. Aber wir hatten Spaß. Zu zweit. Was immer auch die Männer gerade taten war uns egal. Aber was natürlich leider nicht ausblieb, war das ständige Hin- und Hergeschubse der anderen Gäste. Es war brechend voll. Und direkt wusste ich wieder, warum ich bislang die Touristen-Spots ausgelassen hatte. Vielleicht wären wir lieber nicht gerade im Kern von Berlin unterwegs gewesen. Aber naja, wir waren jung, wir konnten feiern. Verkriechen vor allen und jedem konnten wir immer noch. Später. Nicht heute.
Mir fiel eine Gruppe junger Männer auf, die immer näher auf uns zukamen und nun neben uns auf der Tanzfläche standen. Einer von ihnen kam grinsend zu uns und streckte seine Hand aus, um Nanna zu einem Tanz zu bitten. Sie schüttelte den Kopf.
„Komm schon!", lies ich an seinen Lippen ab. Wieder schüttelte Nanna den Kopf und drehte ihm nun vermehrt den Rücken zu. Ich beobachtete die Situation erstmal nur, aber hielt schonmal Ausschau nach Lasse. Es war zu voll, wie sahen die beiden nichtmehr. Und als hätte ich es geahnt, griff der Typ nun nach Nannas Arm und zog sie an ihn.
„Hey, lass sie los!", schrie ich und drängte mich dazwischen. Zwei Kumpels von ihm stellten sich mir in den Weg. Ich versuchte, mich weiter durchzudrängen während Nanna mit den Armen herumfuchtelte, um den Typen loszuwerden. Er griff ihr an die Hüfte und fuhr mit einer Hand runter zu ihrem Po, zog sie nah an sich heran. Ich drehte mich nochmal um in der Hoffnung, Lasse irgendwo sehen zu können. Sollte ich sie nun hier alleine lassen, um ihn zu suchen? Nein. Ich griff nach meinem Handy und tippte eine Nachricht, doch ein Kumpel von diesem schmierigen Typen nahm es mir aus der Hand. Ich schnappte mehrfach danach, aber keine Chance. Gut, dann geht's wohl nicht ohne Gewalt. Auch wenn ich wusste, dass er sich vielleicht wehren wollte. Ich hatte das noch nie gemacht. Ich hatte mich noch nie gewehrt. Aber jetzt war der Augenblick gekommen. Ich trat ihm so fest ich konnte zwischen die Beine. Er ging vor Schmerz in die Knie und ich nahm mir mein Handy zurück und bahnte mir meinen Weg zu Nanna. Und ja - kurz war ich stolz auf mich.
„Finger weg!", schrie ich und versuchte, die beiden auseinander zu ziehen. Vielleicht würde auch hier Gewalt helfen. Anders schien es nicht zu gehen. Ich holte aus und wollte mit der Faust sein Gesicht treffen, doch mein Arm wurde von hinten festgehalten. Ich sah mich um. Lasse. Ich machte ihm Platz, er zog den Typen sofort von Nanna weg und packte ihn am Kragen. Das würde nun richtig Ärger geben. Auch Mathias kam hinterher und zog Nanna zu sich.
„Komm mal runter, wir können auch teilen!", hörte ich den Typen sagen.
„Lasse, er ist es nicht wert! Komm, wir gehen!", ich zog ihn an seinem T-Shirt, aber er ignorierte mich völlig. Auch Mathias versuchte nun, die Situation zu kontrollieren. Die Kumpels des Fremden stellten sich in einem Kreis um uns herum und grölten. Sie wollten ihm nicht helfen - das war schonmal gut für uns - aber sie stifteten ihn an. Und so schubste der Mann Lasse kräftig zurück. Er stolperte kurz und stand nun genau vor Nanna und mir. Mathias stellte sich zwischen die beiden und hielt sie auseinander. Der Typ lachte nur und warf Nanna einen ekelhaften Blick zu, bevor er die Hand ausstreckte und nochmal nach ihr griff. Das war zu viel für Lasse. Er schubste Mathias aus dem Weg, der noch versuchte, ihn zurückzuhalten. Dann packte er den Typen wieder am Kragen und holte ähnlich wie ich eben zu einem Schlag aus. Er stoppte plötzlich und drehte sich geschockt um. Was war passiert? Ich sah Nanna an. Sie hielt sich schmerzverzerrt eine Hand vors Gesicht. Lasse hatte sie beim Ausholen getroffen. Mathias packte den Fremden und zog ihn weg, bevor dieser nun auch noch auf Lasse losgehen würde. Nannas Augen füllten sich mit Tränen. Sie stand erstmal einfach nur ganz geschockt da. Lasse wollte ihre Arme berühren und sich entschuldigen, doch sie drehte sich um und verschwand in der Menge. Ich sah Lasse kurz an und folgte Nanna dann, ehe ich sie unter so vielen Menschen nichtmehr wiederfinden würde. Sie ging zur Toilette und sperrte sich dort in einer Kabine ein. Als ich sie schluchzen hörte, klopfte ich an.
„Nanna? Bist du okay?" Sie weint, Malia, natürlich ist sie nicht okay! Ich schlug mir leicht gegen den Kopf. Wie dumm von mir.
„Lässt du mich rein?", fragte ich dann. Tatsächlich öffnete sich ganz langsam die Tür. Ich zog sie sofort in meinen Arm und ließ es erstmal zu, dass sie weinte. Ich strich ihr über den Rücken.
„Du weißt, Lasse hat das nicht mit Absicht gemacht!", flüsterte ich ihr zu. Hier konnte man sich wenigstens ordentlich unterhalten.
„Alles okay da drin?", fragte eine fremde Frauenstimme.
„Jaja, alles gut!", versuchte ich sie abzuwimmeln.
„Sicher? Können wir helfen?"
Ich öffnete kurz die Tür. Vier Mädels die ich auf Mitte zwanzig schätzte standen davor.
„Das ist total lieb von euch! Aber es ist zum Glück nur ein Missverständnis! Trotzdem vielen Dank!", erklärte ich. Ich war überrascht, dass es hier in Berlin und vor allem beim Feiern noch Menschen gab, die ihre Hilfe anboten. Aber Nanna war nun lieber gerne alleine. Sie stand langsam auf und ging zum Spiegel. Mit einem feuchten Papiertuch versuchte sie, ihre Schminke zu retten. Ich strich ihr durch die Haare.
„Lasse macht sich bestimmt Sorgen!", sagte ich und sah auf mein Handy. Drei Anrufe in Abwesenheit. Natürlich. Aber seinen Namen zu erwähnen brachte sie nur wieder zum Weinen.
„Nanna...", seufzte ich und nahm sie wieder in den Arm.
„Er liebt dich! Das war ein Unfall!", erklärte ich trotzdem nochmal. Wir schwiegen uns an und ich tröstete sie. Nebenbei schrieb ich Lasse, wo wir waren. Ich hatte viel Zeit nachzudenken. Und ich erinnerte mich an ihre Kindheit, von der Lasse mir erzählt hatte.
„Die Erinnerungen von damals kommen wieder hoch, oder?", fragte ich. Sie nickte.
„Okay verstehe...es ist in Ordnung, wenn du daran zurückdenkst. Und wenn du weinen möchtest, dann ist das auch okay. Aber Lasse würde dich niemals schlagen! Niemals! Er hat versucht dich zu beschützen, das weißt du, oder?"
Sie nickte leicht.
„Lass uns nach Hause gehen und dein Auge kühlen, das ist schon blau!", sagte ich und zog sie sanft zur Tür. Davor warteten die beiden Männer schon auf uns.
„Nanna, jeg er så ked af det! Jeg elsker dig! Jeg ville aldrig såre dig!", Lasse näherte sich vorsichtig und strich über ihren Arm, doch sie wendete sich von ihm ab. Ich warf Mathias einen Blick zu, er sollte sich um Nanna kümmern, dann konnte ich mit Lasse sprechen. Mathias verstand, legte einen Arm um sie und wir verließen den Club. Mit weitem Abstand folgten Lasse und ich den beiden.
„Sie weiß, dass das keine Absicht war", erklärte ich ihm, „sie erinnert sich an ihre Kindheit. Das kommt jetzt einfach gerade alles hoch..." Lasse nickte.
„Dachte ich mir...sie braucht jetzt einfach kurz Zeit für sich...", murmelte er, „auch wenn ich sie lieber gerne trösten würde..."
„Weißt du vielleicht, was sie trösten kann?"
Wieder nickte er.
„Unser Baby. Aber", er sah auf die Uhr, „es ist ein Uhr, ich müsste ihn bei Hans und Jeanette abholen..."
„Nein, mach das morgen...", riet ich ihm, „lass sie schlafen..."
Lasse zückte sein Handy und tippte darauf herum, bevor wir in die U-Bahn stiegen. Wir vier saßen uns gegenüber. Lasses Blick die ganze Zeit and Nanna, Nanna jedoch blickte schüchtern zu Boden. Mathias und ich sahen uns fragend an. Was sollten wir nur machen, um aus dem verkorksten Abend einen wenigstens halbwegs guten Abschluss zu finden? Aber dazu war es schon zu spät. Lasse beugte sich vor und legte tröstend eine Hand auf ihr Knie, die sie Sekunden später wegdrückte und dann die Arme verschränkte. Noch immer mit Tränen in den Augen. Als würde sie ihre Kindheit nochmal verarbeiten. So blöd es sich anhörte: Vielleicht war es auch etwas Gutes? Vielleicht musste es einfach mal raus? Auch wenn es sich gerade nach nichts Gutem anfühlte.
„Hans ist noch wach", flüsterte Lasse mir zu und zeigte mir seinen Handybildschirm. Ich schüttelte den Kopf. Doch an der nächsten Station stieg Lasse aus und ließ uns drei alleine zu seiner Wohnung fahren. Nanna und Mathias sahen ihm irritiert hinterher. Also brachten wir Nanna alleine nach Hause. Sie fragte nicht nach. Sie sagte überhaupt nichts. Wir legten je einen Arm um sie und gingen so bis zur Wohnungstür. Mit zitternden Händen suchte sie nach ihrem Schlüssel und schloss dann die Tür auf. Sie ging schnurstracks ins Wohnzimmer und setzte sich aufs Sofa. Sie starrte einfach nur nach vorne und wischte sich hin und wieder eine Träne weg. Mathias suchte ein Kühlkissen, während ich eine dünne Decke über Nanna legte und sie dann wieder in den Arm nahm. Mathias reichte ihr das Kühlkissen und setzte sich dann zu uns. Die Region um ihr Auge sah wirklich böse aus. Höchste Zeit zu kühlen.
„Wo ist Lasse?", flüsterte Mathias.
„Bei Hans", antwortete ich knapp. Nanna sah kurz hoch und fiel dann aber wieder in ihre Schockstarre.
„Weißt du Bescheid?", fragte ich und deutete auf Nanna.
„Ja", antwortete er, „und du?"
„Ja." Dann war es wieder still. Es wurde später und später. Und dann klingelte es endlich. Mathias stand auf und ging zur Tür. Wenig später kam Lasse hinein. Als Nanna sah, dass er einen Kinderwagen dabei hatte, begann sie wieder zu weinen, stand auf und nahm Kalle auf den Arm, bevor sie sich wieder hinsetzte und weiter weinte. Sie drückte in fest, wenn auch vorsichtig, an ihren Oberkörper und streichelte sein Köpfchen. Kalle selbst schlief zum Glück einfach weiter. Mathias klopfte Lasse auf die Schulter und versuchte, ihn aufzumuntern. Ich ging zu den beiden rüber.
„Das wird wieder!", flüsterte ich. Lasse nickte.
„Ich werd wohl heute auf der Couch schlafen", murmelte er und kratzte sich am Kopf.
„Willst du mit zu uns kommen?", fragte ich.
„Nein, ich will bei ihr sein", antwortete er. Ich nickte. Wir blieben noch etwas bei ihm und leisteten ihm Gesellschaft. Er hatte immer ein Auge auf Nanna gerichtet, die noch immer mit Kalle im Arm auf der Couch saß und versuchte, sich zu beruhigen. Irgendwann fing Kalle an zu weinen. Lasse ging rüber zu Nanna und wollte Kalle übernehmen. Er streckte ihr seine Hände entgegnen, doch sie drehte sich weg und verwehrte ihm, sich um Kalle zu kümmern. Lasse seufzte. Er blieb kurz bei Nanna stehen, sie hatte sichtlich eine abwehrende Haltung eingenommen und hielt Kalle noch immer fest. Als er sich wieder entfernte, wurde Nanna lockerer und begann, Kalle zu trösten. Lasse ging an uns vorbei und ließ sich in der Küche auf einen Stuhl fallen.
„Hab ich was falsch gemacht?", fragte er.
„Nein, hast du nicht!", antwortete Mathias und ich schüttelte den Kopf.
„Hab ich's übertrieben?"
„Nein...", sagte ich wieder.
„Eigentlich weiß ich, dass Nanna nur Zeit braucht, aber trotzdem fühlt es sich sche*ße an...", seufzte er.
„Du kannst nicht ändern, was war in Vergangenheit. So wenn sie jetzt denkt an ihr Opa, es ist nicht gegen dich", erklärte Mathias.
„Ich weiß. Dieser miese"
„Lasse, Tote beleidigt man nicht!", unterbrach ich ihn und kniff die Augen zusammen, „das bringt Unglück!"
„Hä? Ist das jetzt wieder so ne deutsche Regel, die niemand versteht?!"
„Das ist Aberglauben", antwortete ich. Die Männer sahen mich schief an.
„Was denn?! Als ob ihr nicht vor dem Spiel immer das gleiche Ritual habt, erst den linken Schuh, dann den rechten oder so was..."
Lasse und Mathias sahen sich an.
„Nein!", antworteten sie dann beide grinsend.
„Na immerhin lacht er wieder", stöhnte ich.
„Ihr Deutschen seid echt bescheuert!", lachte Lasse.
Immerhin schafften wir es, Lasse aufzuheitern. Alles weitere klärte sich wohl morgen. Wir verabschiedeten uns schließlich und gingen zu mir nach Hause. Es würde eine kurze Nacht werden, aber immerhin war Mathias bei mir und lenkte mich ab. Ich konnte mir genau vorstellen wie Nanna sich fühlte. Diese Starre, die ich verspürte, als Chris und Lasse aneinander gerieten...diese Starre hatte nun Nanna erwischt. Und immer war Lasse der Leidtragende der Geschichte...

Traum und Wirklichkeit (Mathias Gidsel | Füchse Berlin FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt