Kapitel 67

48 7 2
                                    

Ich erwischte mich so oft dabei, dass ich alles um mich herum ausblendete und nur an Mathias dachte. Was machte er wohl gerade? Physio, Training oder Video-Analyse. Klar. Die Dänen gaben immer 200%. Deshalb waren sie so erfolgreich. Auch wenn wir ständig schrieben und abends telefonierten, war es nicht das Selbe. Viel schöner wäre es, wir könnten diese wundervollen Eindrücke und Erfahrungen teilen. Aber er war in München und ich in Düsseldorf. Es ging nicht.
Das Eröffnungsspiel war ein wahrer Traum. Ich war selten so aufgeregt wie an diesem Tage. Ich kümmerte mich hauptsächlich um die Presse und deren Anfragen rund um Konferenz und Interviews. Ich hatte Kontakt zu den TV-Sendern, die die Spiele aufzeichneten und rannte praktisch den ganzen Tag von einer Ecke zur anderen. Und es waren weite Wege. Sehr weite Wege. Und wenn ich mal eine bestimmte Person suchte, dann dauerte es vergleichsweise etwas länger. All der Stress war mir völlig egal. Es war der Weltrekord. Es war eine ausverkaufte Arena für ein Eröffnungsspiel einer Europameisterschaft meines Lieblingssports. Es konnte nicht schöner sein. Eine Gänsehaut breitete sich über meinem gesamten Körper aus, als die Hymne erklang. Es war magisch.
Ebenso magisch war auch Andi Wolff im Tor. Die Schweizer fanden einfach keine Lösung gegen ihn, er war unfassbar! Soll ich ehrlich sein? Ich hatte vor dem Spiel Angst vor einer Niederlage. So viele Zuschauer waren hier, sie sollten feiern! Ich wollte bis zur letzten Sekunde bombastische Stimmung. Aber trotzdem hatte ich Bedenken, dass es eng werden könnte gegen die Schweiz. Ich hatte meine Rechnung ohne Andi gemacht. Ich hatte die gesamte Mannschaft falsch eingeschätzt. Wir gewannen haushoch, jeder Einzelne lächelte von einem Ohr zum Anderen. Okay - bis auf die Schweizer natürlich. Es wäre ein guter Tag für eine ordentliche Feier geworden, aber das ging nicht, wir mussten weiterreisen nach Berlin. Es war keine Zeit, um den Fokus zu verlieren.
Nach dem Spiel fiel ich Nils in die Arme. So konnte es gerne weitergehen! Die Euphorie hielt noch Stunden an, ich glaube niemand von uns konnte ordentlich schlafen. Ich tippte auf meinem Handy herum, um Videos und Fotos von dieser krassen Atmosphäre an Mathias zu schicken. Doch dann stoppte ich. Sicher hätte er auch gerne in dem Stadion gespielt. Vielleicht war es unfair, ihm das so unter die Nase zu reiben. Vielleicht war es auch unfair, ihm zu zeigen, wie stark Deutschland war. Und so beließ ich es bei einer Sprachnachricht, bevor ich zumindest versuchte, ein paar Stunden Schlaf abzubekommen.

Es ging zurück in meine zweite Heimat. Zurück nach Berlin. Ich konnte nicht anders, als ab und an mal im Büro nach dem Rechten zu sehen. Und wen sah ich dort meist stundenlang am PC sitzen? Bob natürlich. Er konnte es ebenfalls nicht lassen. Es brachte mich immer mehr dazu, lachend den Kopf zu schütteln und die Augen zu rollen, auch auf die Gefahr hin, einen Spruch gedrückt zu bekommen. Unser Verhältnis hatte sich entspannt und das machte mich eigentlich noch glücklicher als die Tatsache, bei der EM eine Rolle spielen zu dürfen. Es machte mir Mut, die richtige Entscheidung getroffen zu haben und mir das Angebot der Flensburger nicht einmal angehört zu haben. Ich hatte es fast schon vergessen. Ich wollte Harmonie, ich hatte Harmonie. Alles war super. Und auch wenn ich Zeit bei den Füchsen verbrachte, wurde die Arbeit für den DHB natürlich nicht weniger. Was ich mir trotz aller Aufgaben aber nicht nehmen ließ, war es, bei genau einem Training dabei zu sein. Nämlich beim Training in der Arena. Dort durfte jede Mannschaft vorher einmal rein. Und hier saß ich nun in meinem Poloshirt mit dem deutschen Adler auf der Brust und schaute mich um.
„Also...in weiß-rot würdest du mir besser gefallen!", hörte ich eine sehr vertraute Stimme und sprang von der Bank auf.
„Lasse!", rief ich und fiel ihm in die Arme, als hätten wir uns monatelang nicht gesehen.
„Du schuldest mir eine ausführliche Berichterstattung aus dem Stadion!"
Ich nickte lächelnd. Nils kam auf uns zu und klatschte Lasse zur Begrüßung ab.
„Wie bist du denn hier reingekommen?", fragte er dann.
„Kontakte", zuckte Lasse nur mit den Schultern, „ich muss euch doch im Auge behalten!"
„Du bist neugierig!", stellte Nils fest.
„Klar. Hab nix zu tun."
„Training?", fragte ich.
„Jarons Motivation hält sich in Grenzen! Ist ja kaum jemand da!"
„Oh nein! Beginnt die dänische Invasion etwa schon vor der Halbfinalrunde?!", stöhnte Andi und kam auf uns zu. Ich nahm Luft, um ihn zu ermahnen und Lasse in Schutz zu nehmen, aber die beiden grinsten sich an und fielen sich in die Arme. Okay, sie schienen sich zu kennen und zu mögen.
„Wie geht's Nanna?", fragte Andi.
„Sehr gut! Sie ist Zuhause mit unserem Baby."
„Stimmt, du bist Vater geworden! Glückwunsch, Alter! Wir haben uns viel zu lange nicht gesehen!", stellte Andi fest, „ihr müsst zurück in die Champions League, man! Dann haben wir wenigstens zwei Termine im Jahr!"
„Ich arbeite dran!", nickte Lasse und zückte sein Handy, um Fotos von Kalle zu zeigen.
„Gut Nils, wir sind abgeschrieben. Willst du was essen gehen?", lachte ich.
„Nix da, ihr kommt mit zu mir! Nanna freut sich schon!", warf Lasse ein, „lass mich nur gerade noch"
„stundenlang über Kalle reden, jaja!", ergänzte Juri, der sich uns nun ebenfalls näherte und ich lachte. Auch er nahm Lasse zur Begrüßung in den Arm. Ich dachte kurz darüber nach, ob sie sich aus Barcelona kannten, aber fragte nicht weiter nach. Andi kam mir sowieso schon zuvor.
„Ach, Apropos Baby", sagte Andi.
„Och nee, jetzt fängt er schon wieder an!", stöhnte Juri und drehte sich kurz weg.
„Welches Baby?", fragte Lasse.
„Ja, das ist hier die große Frage! Juri, wie sieht's denn mit dir und Friederike aus?"
„Ich glaub wir haben da noch ein paar Jahre Zeit!"
„Hä?", fragte Lasse.
„Er will ein Heim-EM-Baby...ist unser Running Gag hier!", erklärte Nils.
„Was ist mit dir, Nils?", fragte Andi.
Nils seufzte und begann zu lachen, bevor er den Kopf schüttelte.
„Tja Malia, wird eng für dich", zuckte Andi mit den Schultern.
„So geht das die ganze Zeit!", erklärte ich Lasse, „er ist kein bisschen besser als du!"
„Ey!", beschwerte Lasse sich, „ich gehe mit Andi - ein Gidsel-Baby fände ich gut!"
„Ja, damit kann ich auch leben!", warf Nils grinsend ein.
„Ihr Verräter!", sagte ich empört, „das hat noch sehr viel Zeit!"

Traum und Wirklichkeit (Mathias Gidsel | Füchse Berlin FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt