Kapitel 23

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Es kam, wie es kommen musste. Keine 10 Minuten später saß ich bei Ben Kuntz, unserem Physiotherapeuten.
„Sie ist den ganzen Tag darauf rumgelaufen!", beschwerte sich Lasse bei Ben.
„Kannst du jetzt auch mal aufhören?!", meckerte ich zurück, „ich versuche uns allen hier den Arsch zu retten! Dir eingeschlossen!"
„Leute! Aufhören jetzt! Wir sind hier nicht im Kindergarten!", ermahnte Ben uns. Lasse verschränkte die Arme vor der Brust.
Ben öffnete meine Schiene. Mein Fuß war definitiv angeschwollener als vorher. Und blau.
„Tut das weh?", fragte Ben und drückte vorsichtig auf meinem Knöchel herum.
„Natürlich tut das weh, der ist ja auch gebrochen!"
„Aber die Schwellung war heute morgen sicher noch nicht....Malia, der Knochen ist noch nicht verheilt, wenn du darauf rumläufst, riskierst du bleibende Schäden!", erklärte Ben mir.
„Ben, du siehst doch, was hier los ist! Das war keine Absicht!"
„Du gehörst eigentlich ins Bett oder zumindest irgendwo hin, wo du den Fuß hochlegen kannst!"
„Das mache ich! Morgen. Den ganzen Tag, versprochen!"
Ben seufzte und schüttelte den Kopf. Er drückte mir zwei Kühlkissen in die Hand.
„Die Schwellung muss so schnell wie möglich abklingen. Dann sehen wir weiter...", seufzte er.
„Ich kann sie auch ins Krankenhaus fahren und dann", mischte sich Lasse ein.
„Was soll ich denn im Krankenhaus, Lasse?! Ich bleibe hier."
„Leg den Fuß hoch! Und kühlen nicht vergessen!", ermahnte mich Ben nochmal.
„Ich sorge dafür!", nickte Lasse.
Die Schiene war durch die Schwellung vorerst zu eng geworden. Somit versuchte Ben mit Tape, so viel Stabilität wie möglich in meinen Fuß zu bekommen. Und dann ließ er mich gehen. Morgen werde ich mir an den Kopf fassen und mich fragen, warum ich nur so unvorsichtig war. Aber heute war ich voller Adrenalin und wollte nur, dass alles gut geht. Ich ging zurück zur Tribüne, wo Nadine und Anna auf uns warteten. Lasse ließ es sich nicht nehmen, noch gefühlte 500 Mal zu wiederholen, dass ich den Fuß erstens hochlegen und zweitens kühlen sollte. Noch war die Halle leer, aber beim nächsten Spiel würde das Hochlegen wahrscheinlich ein Problem werden. Und nun saß ich hier. Immerhin hatte ich mehr Zeit für meine Freundinnen, die mich mit Essen, Trinken und netten Gesprächen umsorgten. Lasse kam uns mehrfach kontrollieren. Ich verdrehte die Augen. Aber eigentlich war es ja nett von ihm. Als er ein weiteres Mal bei uns vorbeischaute, hatte er wieder eine Portion Currywurst-Pommes in der Hand.
„Lasse, du musst dich gleich aufwärmen!", erinnerte ich ihn.
„Ich hab noch 10 Minuten!", antwortete er nur.
„Mit vollem Bauch ins schwierigste Spiel...", seufzte ich.
„Passt schon!", zuckte er mit den Schultern, „kümmer' du dich lieber um deinen Fuß!"
„Ich bin dabei wie du siehst!", sagte ich und deutete auf das Kühlkissen. Lasse verdrückte tatsächlich noch den ganzen Teller, bevor er sich zum Warmmachen verabschiedete. Die Halle füllte sich langsam wieder. Ich sah Herrn Maus ebenfalls zu seinem Ehrenplatz gehen. Jetzt ging es um den Tagessieg. Berlin und Magdeburg waren punktgleich, das jetzige Spiel entschied. Der Hallensprecher heizte das Publikum nochmal ordentlich ein, es war eine fantastische Stimmung, wie Nils sagte: Bundesliganiveau. Es ging mir nun viel zu schnell, bis das Spiel angepfiffen wurde. Es hieß nun Daumen drücken und jubeln bei jedem Tor. Mathias nahm sich gleich den ersten Wurf. Und traf ins linke Eck. Für ihn war es wichtig, von Anfang an im Spiel zu sein - endlich! Auch im nächsten und übernächsten Angriff hatte er Glück und traf erneut. Das war der Mathias, den wir alle aus dem Fernsehen kannten. Trickreich, abgeklärt und treffsicher. Und es war schön, das endlich mal zu sehen! Doch Nikola Portner im Tor des SCM kam auch gut ins Spiel, zur Halbzeit hatte er schon sechs Paraden. An der Qualität im Angriff mussten wir noch deutlich arbeiten. Dejan dagegen hielt nur zwei Bälle. Und so ging Magdeburg mit einem Vier Tore Vorsprung in die 5 minütige Halbzeitpause.
Es waren jetzt noch 15 Minuten zu spielen. In diesem Moment wäre mir lieber gewesen, wir hätten die normale Spielzeit und somit mehr Chancen, den Vorsprung einzuholen. Viktor Kireev ging nun für uns ins Tor. Magdeburg führte immer weiter, es waren noch fünf Minuten und noch immer vier Tore. Ich schüttelte den Kopf. Das konnte doch nicht gehen. Nicht mit so einem Torwart wie Portner. Hans traf und verkürzte auf drei Tore. Die Halle bebte und feuerte die Jungs stehend an. Ich verfluchte GOG, die mir für heute absagten. Ich verfluchte den Teil in mir, der zuvor sagte ‚Ostderby ist eine tolle Idee'. Und vielleicht verfluchte ich auch diesen Tag.
Im nächsten Angriff spielte Mathias Lasse völlig unsauber an. Er verlor den Ball und Oskar Bergendahl erhöhte den Vorsprung per Tempo-Gegenstoß wieder auf vier. Lasse warf Mathias einen genervten Blick zu. Nächster Angriff. Ein schnelles Tor musste her. Mathias spielte den Kempa-Trick auf Jerry. Er warf den Ball viel zu hoch, Jerry hatte keine Chance, ihn zu fangen. Somit ging Magdeburg wieder in den Angriff. Und jetzt ließen sie sich logischerweise Zeit. Es war noch eine Minute zu spielen. Damit war klar, dass wir vier Tore nicht mehr aufholen konnten. Zum Tagessieg hätten wir aufgrund des Torverhältnisses sogar fünf Tore gebraucht. Und fünf Tore Vorsprung gegen den Champions League Sieger musste man erstmal machen...Mathias klaute den Ball und er und Lasse rannten nochmal los zum Tempo-Gegenstoß. Mathias wurde von zwei Gegenspielern bedrängt, Lasse bereitete sich auf den Pass vor. Er war völlig frei. Doch Mathias warf selbst und traf die obere Latte. Dann wurde das Spiel abgepfiffen. Lasse stand einfach nur dort und breitete fragend die Arme Richtung Mathias aus. Dann schüttelte er den Kopf. Mathias atmete schwer und sah sich das Endergebnis an. Nicht das, was sich alle erhofft hatten. Wenigstens ein Unentschieden oder ein engeres Ende hätten uns gut getan. Aber so war es nun. Magdeburg hatte gewonnen. Wir hatten verloren. Die Frage war: Was hatten wir alles verloren? Es gab eine klare Absprache zwischen mir und Herrn Maus. Der Sieg musste her. Sonst gab es kein Geld. Und ohne das Geld, gab es auch die Qualität in der Mannschaft bald nichtmehr. Ich seufzte und legte meine Hände aufs Gesicht. Nadine und Anna legten je einen Arm um mich.
„Bob wird dich schon nicht rauswerfen!", sprach Nadine mir zu.
„Nein, aber wenn wir das Geld nicht haben, müssen wir vielleicht jemanden von den Jungs rauswerfen...", erklärte ich, „und das ist meine Schuld!"
„Das ist nicht deine Schuld!", widersprach Anna.
„Ich wollte unbedingt Magdeburg. Ich hätte einen Bundesligisten mit weniger Chance auf einen Sieg nehmen können! Aber nein, ich bin nach der Absage von GOG den einfacheren Weg gegangen...es ist meine Schuld...und jetzt wär ich gern allein!", sagte ich, schnappte meine Krücken und hinkte aus der Halle. Erst auf der hintersten Bank setzte ich mich und atmete durch. Nichtmal zur Siegerehrung wollte ich in der Halle bleiben. Ich dachte nach. Und ich konzentrierte mich. Darauf, nicht zu weinen. Ich hatte das Ziel verfehlt. Ich habe dienstlich versagt. Ich habe menschlich versagt, denn Mathias redete kein Wort mehr mit mir. Und ich habe mir gegenüber versagt und meinem Körper geschadet. Was hatte ich richtig gemacht? Nichts. Ich tat mir fast schon selbst Leid. Paul rief mich mehrfach an, aber ich ignorierte es. Das Fest war vorbei, es konnte also nicht dringend sein. Und es war mir auch egal. Ich hätte eh erstmal kein Wort rausgekriegt. Vereinzelte Tränen liefen meine Wange runter. Aber ich hatte es im Griff. Zumindest etwas. Ich freute mich auf Zuhause und auf mein Bett. Dort konnte ich dann weinen, ohne, dass es jemand mitbekam.
Es dauerte noch eine ganze Weile, dann verließen die Besucher nach und nach die Halle und das Fest, die Stände wurden langsam abgebaut und es wurde ruhiger um uns herum. Eine angebrachte Stille für meine Laune. Ich sah den Schaustellern beim Abbau zu. Für sie alle war es wohl ein gelungener Tag und sie hatten wahrscheinlich gute Werbung und gute Einnahmen erzielt. Vielleicht konnte ich wenigstens das als positive Erinnerung mitnehmen.
„Ist der Platz neben dir noch frei?", hörte ich eine Stimme und drehte mich um. Paul.
„Ich wär ganz gerne allein", antwortete ich, „und ich kann auch nicht reden."
„Musst du auch nicht", lächelte er und setzte sich neben mich. Wir schwiegen. Wir saßen einfach nur da und schwiegen uns an. Minutenlang. Dann nahm Paul Luft.
„Malia, ich will dir keinen Vorwurf machen. Aber einen Tipp geben: Einfach weglaufen und die Gäste nicht verabschieden geht nicht...wenn Bob das mitkriegt, wird's noch schlimmer enden als sowieso schon..."
Ich sah ihn erschrocken an. Er hatte recht. Und darüber hatte ich gar nicht nachgedacht.
„Geh zu den Bussen, die Jungs duschen noch!"
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Traum und Wirklichkeit (Mathias Gidsel | Füchse Berlin FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt