Einige Wochen vergingen. Die Einarbeitung zur Heim-EM war langwierig und intensiv. Alles sollte perfekt funktionieren. Alle sollten begeistert sein. Und ich mittendrin. Wir standen alle unter Druck, es fühlte sich ganz anders an als in Berlin. In Berlin hatte ich mehr Verantwortung. Ich rechnete damit, dass mir dies mehr zusetzte, aber so war es nicht. Das Gefühl, hier eben auch auf andere Menschen angewiesen zu sein, auf Entscheidung angewiesen zu sein und kaum Mitspracherecht zu haben, das fiel mir deutlich schwerer. Ich trug Verantwortung für Entscheidungen, die ich nicht selbst entschieden, aber dann eben doch vollzogen habe. Zu meinem Glück ging das fast jedem hier so. Ich war keine Einzelperson. Ich war Mitglied eines großen Teams.
Apropos Team, als Mitarbeiter des DHB hatte man weitaus mehr mit den Spielern der deutschen Nationalmannschaft zu tun, als ich vorher angenommen hatte: „Juri zum Interview links" ; „Alfred in die Pressekonferenz" ; „Nein, Wolff kann nicht noch ein hundertstes Interview am Tag geben." Diese Sätze hätte ich mir besser aufgenommen und einfach auf ‚Play' gedrückt, denn schon vor dem Eröffnungsspiel in Düsseldorf war die Presse wie verrückt auf jedes noch so kleine Detail. Die Jungs waren sympathisch, der Teamspirit schien zu stimmen. Ich hielt mich deutlich bedeckter als in Berlin, immerhin hatte ich hier auch nichts zu sagen. Ich war froh, dass Nils Lichtlein Teil der Mannschaft war, so fühlte ich mich nicht völlig fremd und auch wenn wir ab und zu nur Blickkontakt hatten, so wusste ich, ich war nicht alleine. Auch wenn sich auch alle anderen wirklich ordentlich Mühe gaben, das gesamte Team - so auch mich - einzubinden. So war Olli Roggisch der Erste, mit dem ich in Kontakt trat, als ich gerade mit staunenden Augen die Düsseldorfer Merkur Spiel Arena betrat. Ich hatte Gänsehaut. So viele Plätze. Für ein Handballspiel. Niemals würde ich vor so vielen Leuten auftreten können! Es war gigantisch! Der Anblick raubte mir den Atem! Die Spieler durften eine Trainingseinheit in der Arena halten, schließlich war es für sie mindestens genauso - ach was sag ich da - viel aufregender, als es schon für mich war. So hatte ich genügend Zeit, die Atmosphäre wirken zu lassen.
„Das ist schon sehr beachtlich!", murmelte Olli Roggisch neben mir und sah ebenso wie ich hoch zur Hallendecke.
„Das ist unglaublich!", verbesserte ich ihn lächelnd.
„Du bist von den Füchsen aus Berlin, oder?"
„Ja, ich bin Malia", antwortete ich.
„Herzlich Willkommen im Team, Malia", sagte Olli Roggisch und strich mir über den Rücken. Der ein oder andere Blick fiel auf mich ab. Ich hörte Nils Stimme ab und zu darüber reden, wer ich war und musste grinsen. Leute, kommt doch einfach her und fragt! Das war in Berlin einfacher.
„Tja, wir kennen uns noch nicht, aber das ändert sich ja im Laufe der nächsten zwei Wochen. Ich bin Johannes, aber sag gerne Joh." Johannes Golla, Kapitän der deutschen Nationalmannschaft, hatte sein Auswärtsspiel in Berlin wohl schon völlig vergessen. Aber ja, persönlich kannten wir uns noch nicht. Er ahnte wohl, dass ich mit für die Koordination von Spielern und Presse zuständig war und somit wahrscheinlich oft mit ihm zu tun haben werde.
„Malia", antwortete ich. Er streckte seine Hand entgegen und ich nahm sie, um sie zu schütteln. Erst als ich sie berührte, merkte ich, dass seine Hände schon voller Harz waren. Klar - er trainierte gerade. Anstatt das Gesicht zu verziehen, wahrte ich lieber das Pokerface. Er hatte das bestimmt mit Absicht gemacht.
„Ich werd mal wieder rüber zu den Jungs gehen und mich aufwärmen. Man sieht sich." Er lockerte sein Handgelenk, drehte sich um und jockte sofort los. Doch unsere Hände wollten sich nicht so schnell trennen und so zog er mich noch ein Stück mit, sodass ich ins Stolpern kam. Joh packte mich an den Armen und hinderte mich so am Fallen. Ich sah auf meine Hand und schüttelte den Kopf. Lautes Gelächter ertönte in der Halle.
„Sorry Malia, gib einem Handballer nie die Hand. Da muss jeder Neue einmal durch! Willkommen an Bord!", lachte Johannes und schnappte sich dann einen Ball.
„Ahoi", murmelte ich und verdrehte die Augen. Olli schüttelte den Kopf, konnte sich aber ein Lächeln nicht verkneifen. Die Neue? Hier vielleicht, aber ich war sicherlich nicht neu im Handballbusiness! Frechheit! Hat ihm mal jemand erklärt, dass sein Team in Grund und Boden gestampft wird, wenn mein Freund mit seiner Mannschaft aufkreuzt?! Woohhh - Stop! Malia, so darfst du nicht denken. Mathias ist für die nächsten zwei Wochen dein Konkurrent. Sollte es ein Spiel gegen Dänemark geben, warst du gegen sie und für Deutschland! Schreib dir das hinter die Ohren! Ich schüttelte mich.
„So Jungs, auf geht's!", rief Alfred und startete in seine Trainingseinheit. Zirkeltraining. Da konnte ich nur innerlich lachen. Es war wie eine indirekte Rache an Golla. Soll er jetzt mal schön schwitzen. Ich sah den Jungs eine ganze Weile zu. Immer, wenn ein Blick mich traf, wandte ich den meinen sofort ab und sah zu jemand anderem. Ich wollte niemanden beobachten, aber so war das nunmal, wenn man hier nur rumsaß und nichts zu tun hatte. Noch immer lag meine klebrige Hand ausgestreckt auf meinem Oberschenkel. Wo war denn hier ein Bad, indem man es abwaschen konnte, ohne gleich in die Kabine der Spieler zu laufen? Olli war gerade in ein Gespräch mit zwei Betreuern des Teams vertieft und auch Alfred wollte ich nicht unterbrechen während des Trainings. Na gut, dann sehe ich mich einfach etwas in der Halle um. Irgendwas werde ich finden. Ich stand von der Bank auf und ging auf eine Glastür zu, hinter welcher ein etwas längerer Flur lag. Dort waren wohl auch die Kabinen.
„Hey, Vorsicht, Harz auf den Klamotten ist echt nicht cool!", hörte ich plötzlich eine Stimme hinter mir, der im nächsten Moment nach meinem Handgelenk griff. Ich hatte wohl versehentlich meine Hand an der Hose gestreift. Vor mir stand ein blonder und im Vergleich zu den anderem um mich herum kleiner Mann mit einer Wasserflasche in der einen und meinem Handgelenk in seiner anderen Hand. Ich nickte lächelnd und zog an der Tür, die zu klemmen schien. Er wiederum lehnte sich mit der Hand, die gerade noch meine umfasste, gegen die Tür.
„Ähm...Drücken. Nicht ziehen", sagte er nur und hielt sie mir im nächsten Moment auf.
„Oh, danke...", murmelte ich und hoffte, in diesem Moment nicht vor Scham rot anzulaufen.
„Warte kurz", sagte er dann, ging zurück in die Halle und kramte in einer großen schwarzen Sporttasche herum. Dann kam er mit einer kleinen Flasche in der Hand wieder zurück.
„Hier", sagte er und reichte sie mir, „das ist Babyöl, damit geht das Harz besser ab.
„Das ist lieb, danke."
„Zehn Minuten Pause", ertönte die Stimme von Alfred und wir sahen kurz zu ihm rüber.
„Endlich", stöhnte er.
„Du hast dich bisher gedrückt!", stellte ich lachend fest.
„Ist gar nicht aufgefallen! Komm, ich zeig dir, wo du das Zeug abwaschen kannst", sagte er und hielt mir die Tür auf. Wir gingen den Flur entlang, anstatt, wie ich annahm, sofort die zweite Tür oder so zu nehmen. Auf dem Weg brauchten wir wohl noch einen Lückenfüller, denn diese unangenehme Stille mochte ich nicht.
„Timo, richtig?", fragte ich ihn, aber es war mehr, um einfach irgendwas zu sagen. Natürlich wusste ich, wer da vor mir stand. Oder wie es laut Bobs Unterlagen vollständig heißen würde: ‚Timo Kastening, Linkshänder, Rechtsaußen, MT Melsungen'. Das stand nur auf einem der vielen Zettel, die er mir mitgegeben hatte.
„Richtig", antwortete er, „und du bist die gute Seele bei den Füchsen und versuchst, Bob Hanning in Zaum zu halten."
„Ich bin einfach nur Malia", zuckte ich mit den Schultern und bemerkte, dass auch meine Arme klebten, da Joh mich nach meinem Stolperer ja unbedingt ‚auffangen' musste. Ich wäre sicher nicht gefallen.
„Ok, einfach nur Malia, einmal abbiegen bitte", lächelte er und hielt mir die nächste Tür auf.
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Traum und Wirklichkeit (Mathias Gidsel | Füchse Berlin FF)
FanficMalia ist die Neue im Orgateam rund um die Füchse Berlin. Als rechte Hand von Bob Hanning soll sie nach und nach für Entlastung sorgen und die Finanzierung und Beliebtheit des Vereins vorantreiben. Schnell knüpft sie enge Kontakte mit den Spielern d...