Kapitel 60

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Ich nahm tief Luft und schreckte hoch. Durch die Vorhänge drangen bereits die ersten Sonnenstrahlen ins Zimmer. Ich atmete schwer und fuhr mir durchs Gesicht. Als ich mich wieder etwas beruhigt hatte, realisierte ich, dass ich nicht alleine war. Mathias lag neben mir und schlief noch tief und fest. Ich brauchte einen kurzen Moment, um meine Gedanken zu sortieren. Es war nur ein Traum. Das klärende Gespräch mit Lasse, sein Liebesgeständnis und Mathias' Tränen, das alles war nur in meinem Kopf. Ich schüttelte mich. War ich erleichtert? Ja, sicherlich war ich das. Aber der Kuss war nunmal geschehen. Und das bedeutete, dass ich das Gespräch mit Lasse noch vor mir hatte. Es konnte alles so werden wie in meinem Traum. Nur dieses Mal war ich vorbereitet. Hoffte ich. Ich versuchte, nochmal einzuschlafen, aber eigentlich beobachtete ich Mathias eher. Für nichts auf der Welt würde ich ihn verletzen oder hergeben wollen. Mein Herz schmerzte, da ich wusste, ich würde ihm wehtun. Wenn auch ich für den Kuss nichts konnte. Aber zuerst musste ich mit Lasse sprechen. Meine Gedanken drehten sich so lange im Kreis, bis ich dann schließlich doch aufstand und ins Bad huschte. Mathias hatte wohl auch etwas zu viel getrunken, er schlief noch immer, als ich fertig angezogen nach meinem Handy griff, um zum Frühstück zu gehen. Naja, ich ließ ihn besser mal ausschlafen. Wenn er das schonmal konnte.
Auf dem Weg runter wurde ich nervöser. Wie würde Lasse reagieren? Was würde passieren? Ich hatte furchtbare Angst, dass sich mein Traum bewahrheitete. Das wäre eine Katastrophe! Ich betrat den Frühstücksraum. Lasse saß inmitten seiner Mannschaftskollegen an einem langen Tisch. Ich spürte, wie mein Herz schneller schlug, so eine Angst hatte ich, mich Lasse zu nähern und seiner Erklärung zu stellen. Was wäre mir Nanna, was wäre mir Kalle? Ich hätte seine Familie zerstört. Nanna würde niemals wieder mit mir reden wollen...
„Wir müssen reden!", waren direkt meine ersten Worte an Lasse. Ich spürte irritierte Blicke seiner Mannschaftskollegen auf mir.
„Jaja, sobald die Aspirin wirkt!", grummelte er und verkroch sich in seinem Kapuzenpulli. Ich seufzte und Tränen stiegen in meine Augen. Ich hatte Angst davor, dass sich mein Traum bewahrheitete.
„Ich warte draußen...", murmelte ich noch und ging. Ich hörte, dass jemand aufstand und mir folgte. Aber es war nicht Lasse, sondern Jerry. Er ging mir hinterher in den großen Flurbereich.
„Malia, alles in Ordnung?", fragte er. Ich drehte ihm weiterhin den Rücken zu und blieb stehen.
„Jaja, hab nur keinen Hunger!"
„Ist gestern Abend was vorgefallen?" Ich zuckte mit den Schultern.
„Hey...", flüsterte er, „was ist los?" Er ging um mich herum, sodass er vor mir stand und mir in die Augen schauen konnte. Sie waren mit Tränen gefüllt, aber noch konnte ich sie zurückhalten.
„Nichts...es ist nichts..."
„Nichts sieht aber nicht so aus!"
Ich schwieg und schüttelte den Kopf.
„Ich hab dich gesehen gestern Abend. Irgendwas ist doch."
„Ich muss mit Lasse sprechen..."
„War er blöd zu dir?"
„Nein."
„Hat er irgendwas gemacht?"
„Nein. Jerry, bitte, ich", dann stoppte ich, weil ich hinter Jerry einen Kapuzenpulli auf uns zukommen sah. Jerry drehte sich um. Es war tatsächlich Lasse. Und er schaute ziemlich irritiert.
„Alles gut bei dir?", fragte er und ich zuckte mit den Schultern.
„Ich würde sagen du hast gestern ziemlich scheiße gebaut", antwortete Jerry für mich.
„Jerry...", ermahnte ich ihn, aber eher murmelnd.
„Hä?", fragte Lasse, „was redest du da? Malia, was ist los?"
„Können wir jetzt sprechen?", fragte ich schüchtern.
„Ja klar! Ey sorry, wenn ich gewusst hätte, dass es dir nicht gut geht, wäre ich sofort mitgekommen."
„Kann ich dich denn mit ihm alleine lassen?", fragte Jerry und legte eine Hand auf meine Schulter.
„Alter, spinnst du?!", zischte Lasse sauer, „hau ab!" Er drückte Jerry leicht weg und rieb sich dann einmal mit seinen Händen übers Gesicht.
„Was geht denn mit dem ab?!", beschwerte er sich aufgebracht, als Jerry außer Sichtweite war.
„Er hat keine Ahnung. Er hat mich nur getröstet", erklärte ich ihm.
„Getröstet, wieso? Wegen mir?", fragte er ernst. Ich zuckte mit den Schultern. Aber hier im Flur konnten wir nicht offen sprechen, also gingen wir hoch zu den Zimmern. Es war wie in meinem Traum. Genau so. Nur, dass ich nun wirklich nervös war. Mein Herz pochte wie verrückt. Lasse zückte seine Zimmerkarte und öffnete die Tür. Oder hätten wir doch lieber im Flur bleiben sollen?
„Guten Morgen! Falsche Richtung zu Frühstück!" Ich erschrak, als ich plötzlich Mathias hinter uns den Flur entlang schlendern sah.
„Wir sind fertig, du hast zu lange geschlafen", rief Lasse ihm zu.
„Was habt ihr vor?", fragte Mathias und kam zu uns rüber.
„Wir starten ne heiße Affäre hinter deinem Rücken!", antwortete Lasse. Ich zuckte erschrocken und stieß ihm sofort den Ellbogen in die Seite. Das war typisch Lasse, aber gerade im Moment konnte ich das nicht gebrauchen. Mathias schwieg und runzelte die Stirn.
„Entspann dich, wir wollen in Ruhe quatschen!", stöhnte Lasse.
„Das weiß ich doch", lächelte Mathias, „wir sehen uns später!" Wie unkompliziert Mathias war und wie viel Vertrauen er in uns hatte. Und wir hatten das missbraucht. Irgendwie. Oder? Ich fühlte mich so unwohl, ich verschränkte die Arme vor der Brust und ging mit gesenktem Blick an Lasse vorbei in sein Zimmer.
„Sorry, ich hab noch nicht gepackt", er ging an mir vorbei, stellte seine Sporttasche aufs Bett und stopfte seine Klamotten hinein, „was gibts denn?", fragte er nebenbei. Ich sah mich kurz nochmal um und war wirklich entsetzt, wie realistisch mein Traum gewesen war und wie viele Details dieses Zimmers ich nun hier wiederfand.
„Malia? Du wolltest reden!", hörte ich Lasses Stimme und schüttelte mich.
„Äh...könntest du kurz aufhören zu packen?", fragte ich, um meine Parallelen zu heute Nacht eindämmen zu können.
„Also wirklich was Ernstes", verstand er. Er setzte sich auf die Bettkante und klopfte neben sich. Immer noch mit verschränkten Armen schlurfte ich langsam zu ihm und setzte mich mit Abstand neben ihn.
„Ist was passiert?", fragte er ernst.
„Weißt du...ich hab da was geträumt und ich hab Angst, dass es sich bewahrheitet."
„Du...hast geträumt? Und deswegen sitzt du hier wie ein Häufchen Elend?", schmunzelte er.
„Nein! Wegen gestern Abend! Du kannst dich an nichts erinnern, oder?"
„Wenn man erstmal Kinder hat, sind die Tage, an denen man sich gehen lassen kann, sehr begrenzt und"
„Lasse, Stopp! Du sollst dich gar nicht rechtfertigen! Beantworte einfach die Frage!"
„Ja also...alles...alles weiß ich nichtmehr! Hab ich Mist gebaut?"
Ich seufzte.
„Ich hab dich nach oben ins Hotelzimmer gebracht, weil du dazu nichtmehr alleine in der Lage warst. Du warst...so...anhänglich und..."
Mir fiel es so schwer, es auszusprechen. Ich nahm Luft, um was zu sagen. Aber Lasse kam mir zuvor.
„Ey Malia, wenn ich dich blöd angefasst habe, dann tut mir das ehrlich Leid!", er setzte sich aufrecht und griff nach meinem Handgelenk. Er ließ die dummen Sprüche beiseite und war wirklich ernst.
„Du hast mich geküsst", sagte ich dann gerade heraus, „und zuvor hast du gesagt, dass du mich liebst."
Lasse runzelte erneut die Stirn und dachte kurz nach, was er als nächstes sagen sollte. Er kratzte sich - wie zuvor in meinem Traum - am Hinterkopf und druckste rum.
„Weiß Mathias davon?", fragte er.
„Noch nicht, ich wollte erst mit dir reden."
„Okay, also...scheiße man...tut mir Leid!"
„Ich hab mir die ganze Nacht den Kopf darüber zerbrochen, ob du das vielleicht ernst gemeint haben könntest..."
„Malia, ich war betrunken!", lächelte er.
„Ja eben deswegen! Da redet man meistens ohne drüber nachzudenken. Also?", ich sah ihn erwartungsvoll an. Lasse schluckte und sein Lächeln verschwand. Er dachte nach und kniff dabei die Augen zusammen. Und für meine Verhältnisse dachte er etwas zu viel nach. Und meine Hand hatte er auch noch nicht wieder losgelassen.
„Und ich hab dich wirklich geküsst?", fragte er nochmal. Ich nickte. Und er begann zu grinsen.
„War's gut?" Ich sah ihn schief an.
„Dein Ernst?", stöhnte ich.
„Das war kein Nein!", grinste er weiter.
„Lasse...", murmelte ich enttäuscht. Ich hatte gehofft, dass unser Gespräch von ihm ernst genommen wird. Ich ließ die Schultern fallen und sah traurig zu Boden. Einmal. Ein einziges Mal würde ich gerne mal normal mit Lasse sprechen können ohne einen blöden Spruch.
„Hey...", sagte er und legte einen Arm um mich, „was ist los?"
„Du nimmst mich nicht ernst."
„Klar."
„Nein, tust du nicht, Lasse! Du versteckst dich hinter blöden Sprüchen und merkst gar nicht, wie's mir geht!" Ich stand auf und wollte gehen, er zog mich an den Handgelenken zurück, sodass wir nun frontal gegenüber standen. Wenn er mich nun wieder küsste, hatte ich meine Antwort. Ich bereitete mich schonmal darauf vor, ihn früh genug von mir wegzudrücken.
„Was genau ist das Problem? Ich hab dich geküsst. Ja, scheiße gelaufen. Sorry."
„Du hast gesagt du liebst mich. Stimmt das?", fragte ich nochmal.
„Nein! Du bist wie meine Schwester!", entgegnete er und schüttelte mich leicht. Ich atmete erleichtert aus und fiel ihm um den Hals. Etwas perplex erwiderte er die Umarmung.
„Also...die Reaktion für nen Korb hab ich noch nie bekommen...", raunte er in mein Ohr, während wir immer noch Arm in Arm in seinem Hotelzimmer standen.
„Dein Herz schlägt richtig schnell", stellte er fest, bevor wir uns wieder voneinander lösten, „soll ich das Angebot mit der Affäre nochmal aufgreifen, oder..."
„Ich bin erleichtert, du Idiot!", beschwerte ich mich und schlug ihm auf den Arm, er lachte und ich stieg mit ein, „das hätte ein riesiges Chaos verursacht!"
„Sagst du es Mathias?"
„Natürlich sag ich es ihm!"
„Bist du sicher? Ich meine...wir müssen kein unnötiges Drama machen...", murmelte er und kratzte sich am Hinterkopf.
„Mathias hat die Wahrheit verdient. Und du wirst es Nanna sagen!"
„Ey Malia, komm! Da war doch nichts!"
„Und wenn du das nächste Mal nicht mich erwischst sondern irgendeinen Fan? Und der sagt vielleicht nicht Nein? Willst du am nächsten Tag vielleicht nackt neben einer fremden Person aufwachen und"
„Jetzt übertreibst du!", er begann zu Lachen und sich sichtlich über meine Was-wäre-wenn Geschichten zu amüsieren.
„Du redest mit Nanna! Sie ist meine Freundin. Wenn du das nicht selbst machst Lasse, dann mach ich das!"
„Sie hatte es schwer genug, sie hat es nicht verdient sich unnötig schlecht zu fühlen!"
„Sie hat die Wahrheit verdient. Du oder ich. Sobald wir Zuhause sind, geb ich dir 48 Stunden, um das zu klären."
„Das kannst du nicht machen, sie ist meine Frau...das ist meine Entscheidung!"
„Sie ist meine Freundin!", entgegnete ich.
„Ich will sie nicht verletzen!"
„Lasse...", stöhnte ich, „das verstehe ich...aber...du weißt selbst, dass das der falsche Weg ist!"
„Ich schütze meine Frau lieber indem ich schweige, statt ihr was zu erzählen, was nicht von Bedeutung ist!"
„Ja schön, dann rede ich mit ihr! Du willst es nicht anders!"
„Sag mal, was bist du denn für ne Freundin?!"
„Wie bitte?"
„Kannst du nicht genau so gut auch mal zu mir halten? Wir vergessen das einfach und erzählen niemandem davon. Das macht weniger Probleme!"
„Das ist aber nicht richtig!"
„Warum muss denn immer alles richtig sein?!"
„Das meinst du nicht ernsthaft, oder?"
„Malia, jetzt bleib doch mal locker! Du tust so, als hätten wir miteinander geschlafen!"
„Das hätten wir auch, wenn ich dich nicht gebremst hätte!"
„Blödsinn!", lachte er abwertend.
„Ehrlichkeit ist das Wichtigste in einer Beziehung!"
„Oh ja? Da hab ich von Mathias aber ganz andere Sachen gehört, Malia! Pack dir an die eigene Nase, bevor du mich belehrst!"
Ich schwieg kurz. Ich war nicht darauf vorbereitet, dass er so etwas sagte. Und auch nicht auf das Folgende.
„Jetzt weiß ich wenigstens, was Mathias meint, wenn er sich mal wieder darüber den Kopf zerbricht, wie spießig du eigentlich bist." Das war ein echter Schlag ins Gesicht. Und das konnte ich nicht abwehren. Geschockt und enttäuscht von seinen Worten stand ich da. Meine Hand griff nach der Hotelzimmertür und drückte die Klinke langsam herunter.
„Nein....Malia...das ist mir so rausgerutscht! Ich wollte nicht...", er zog mich in seinen Arm und drückte meinen Kopf an seine Brust. Ich erwiderte die Umarmung nicht und versuchte, mich von ihm zu lösen.
„Es geht mich nichts an, ich...ich wollte das nicht sagen! Es tut mir Leid!", flüsterte er. Er ließ es zu, dass ich mich von ihm löste und dann schweigend aus der Tür verschwand.

Traum und Wirklichkeit (Mathias Gidsel | Füchse Berlin FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt