Kapitel 62

107 3 5
                                    

Meine Aussprache mit Lasse zog sich noch mehrere Tage. Bob hatte mir eine Menge Papierkram auf den Schreibtisch gelegt und ich kam immer erst viel später als geplant nach Hause. Man merkte, dass wir nun inmitten der Saison steckten. Alles wurde stressiger und ernster. Außer Kretzsche, der war immer für gute Laune zu haben. Und auch Bob hatte sich scheinbar wirklich beruhigt. Auch wenn ich ihm nicht trauen konnte. Nicht nach seinen Aufständen zuvor...Und obwohl ich mir geschworen hatte, mir fernab der Arbeit keine Gedanken mehr darüber zu machen, so nahm ich dieses Misstrauen mit in mein Privatleben. Aprospros Misstrauen: Mathias erschreckte mich wirklich immer wieder mit seinem Verständnis und seiner Geduld. Er war etwas ruhiger geworden, er forderte aktuell kaum körperliche Nähe ein, aber ich ließ ihm die Zeit, die er brauchte. Ich war ja froh, dass er es überhaupt so gut aufgenommen hatte. Nur eine Sache gefiel mir wirklich nicht: Er erzählte nichtmehr auch nur ein Wort über Lasse. Ich konnte nur hoffen, dass ihr Verhältnis nun nicht auf Dauer geschädigt war. Und er war viel mehr am Handy. Ich schätzte, dass er viel mit Emil schrieb und ihm sein Herz ausschüttete, jetzt, wo er Lasse zu ignorieren schien. Wie sollte das nur beim nächsten Spiel werden...? Ich konnte nur spekulieren, was in den beiden abging. Aber bei einer Sache war ich mir sicher: Lasse würde Nanna nichts von dem Kuss erzählen. Und ich musste nun für mich entscheiden, was ich tat. Vertraute ich den beiden oder tat ich das, was ich für richtig hielt?
Diese Gedanken waren kaum aus meinem Kopf zu bekommen. Ich war müde, konnte nicht richtig schlafen, mich nicht richtig konzentrieren. Kurz dachte ich darüber nach, ob es nicht einfacher gewesen wäre, den Kuss auch Mathias zu verschweigen. Einfacher, ja. Aber auch falsch. In einer weiteren schlaflosen Nacht drehte ich mich auf die Seite und lauschte seinen ruhigen Atemgeräuschen beim Schlafen. Ich griff nach seiner Hand und genoss die Wärme, die sie auf meiner Haut ausstrahlte. Er war mir so wichtig. Und Lasse hatte es zerstört.
Mitten in der Nacht klingelte plötzlich jemand Sturm. Ich schreckte aus dem Bett hoch, während Mathias sich langsam und verschlafen reckte und erstmal realisieren musste, wo er gerade war. Bis dahin war ich längst schon an der Tür und schaute durch den Spion. Und dann erschrak ich ein zweites Mal. Es war Nanna. Lasse hatte doch mit ihr gesprochen? Um diese Uhrzeit? Ich öffnete ihr die Tür. Sie weinte und brach hinter der Haustür direkt zusammen.
„Nanna?!", fragte ich entsetzt. Sie bekam kein Wort heraus. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen. Der Zeitpunkt, an dem ich eine Familie zerstört hatte. Ich hätte Lasse nicht unter Druck setzen dürfen. Ich hätte nicht von ihm verlangen dürfen, dass er es Nanna erzählt. Ich hätte auf ihn und Mathias hören sollen!
Sicher war Nanna sofort hierher gekommen, um mich zur Rede zu stellen oder zu fragen, von wem der Kuss ausging und ob da noch mehr lief. Vielleicht erwartete sie von mir eine ehrliche Antwort oder aber eine, die deckungsgleich zu Lasses war.
„Nanna, es tut mir so Leid!", sagte ich sofort. Sie ließ es zu, dass ich sie in den Arm nahm. Und so saßen wir nun da. Auf dem Boden in Mathias' Wohnungsflur. Oder - wollte sie vielleicht zu ihm? Auch mir kamen fast die Tränen, Nanna so zu sehen. Ich hätte Lasse einfach alleine in sein Hotelzimmer gehen lassen sollen, er ist doch selbst schuld, wenn er zu viel trinkt! Andererseits...mit einer anderen Frau wäre vielleicht tatsächlich was passiert...
„Politi! Politi!", stammelte sie und weinte weiter. Sie zitterte am ganzen Körper.
„Han jagter mig! Han jagter mig!"
„Was? English? Deutsch?", versuchte ich es, „what happened? Was ist passiert?"
„Han jagter mig! Han stoppede ikke!"
„Scheiße...", stammelte ich. Ich verstand kein Wort.
„Mathias!", rief ich schließlich. Wo war der eigentlich so lange geblieben? Hatte er Nanna nicht gehört? Nur in Boxer bekleidet kam er um die Ecke. Als er Nanna am Boden kauern sah, wurde er kreidebleich.
„Nanna? Hvad skete der?", fragte er und kniete sich zu uns runter. Nanna weinte nur stärker.
„Sie spricht weder deutsch noch englisch, ich kann ihr nicht helfen!", sagte ich überfordert.
„Nanna, hvad skete der? Tal med os!", versuchte er es nochmal.
„Han stoppede ikke!"
„Hej! Se på mig! Det er slut, okay? Du er sikker her!" Gut, den letzten Satz hatte ich verstanden. Mehr aber auch nicht. Mathias kam näher und wollte sie berühren, doch sie wich zurück. Er hob entschuldigend die Hände.
„Was sagt sie?!", fragte ich aufgebracht. Mensch Malia, kannst du dir nicht denken, worum es gerade ging?! Willst du wirklich, dass Mathias es nochmal aussprechen muss?
„Ich rufe Lasse an!", beschloss ich stattdessen und stand vorsichtig auf. Dann ging ich ins Schlafzimmer und wühlte nach meinem Handy.
„Malia?", hörte ich Mathias rufen.
„Hm?", steckte ich den Kopf durch die Tür, „wir brauchen Polizei!", sagte er. Nanna war derweil ein paar Meter weiter weg von Mathias gerutscht.
„Polizei?"
„Ich glaube sie ist überfallen worden", erklärte er und Nanna nickte. Ich sah den Schmerz und die Panik in ihren Augen. Ein Überfall? Ein...ein Überfall...es ging nicht um Lasse und mich? Ich erwischte mich, wie ich kurz erleichtert ausatmete und dann sofort vor mir selbst erschrak. War das nicht gerade das egoistischste, was ich hätte tun können? Sie ist überfallen worden und ich war froh darüber?! Ich schüttelte den Gedanken schnell ab, griff mit zitternden Händen nach meinem Handy und rief Lasse an. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er endlich abnahm.
„Hm?", raunte er verschlafen in den Hörer.
„Wie lange dauert es, bis du an dein sche*ß Handy rangehst?!", ließ ich meine Überforderung gleich direkt mal an ihm aus.
„Es ist mitten in der Nacht!", verteidigte er sich. Er hatte recht. Und diese Diskussion war jetzt auch überhaupt gar nicht wichtig.
„Du musst sofort zu Mathias kommen! Nanna ist hier und ihr geht's echt nicht gut!"
„Was?! Was ist denn passiert? Hast du"
„Nein! Hab ich nicht. Ich weiß nicht, was genau passiert ist. Sie ist völlig verstört und redet nur dänisch!"
„Naja, irgendwas wirst du wohl verstanden haben!", sagte er patzig.
„Tut mir Leid, Lasse. Der Dänisch-Volkshochschulkurs war leider gerade ausgebucht", meckerte ich ihn an, „und jetzt schwing deinen Arsch hierhin!" Ich legte auf und warf mein Handy aufs Bett zurück. Dann führte mich mein Weg wieder in den Flur. Nanna hatte sich an die Wand angelehnt und etwas beruhigt.
„Was sagt sie?", fragte ich Mathias, der ihr inzwischen ein Glas Wasser gegeben hatte.
„Sie war mit Jeanette und ist auf dem Heimweg überfallen worden. Ein Mann mit ein weiße Jacke."
„Sche*ße..."
„So er hat Portemonnaie, Ausweis und Handy und dann sie ist weggelaufen und er hinterher", erklärte er weiter, „mein Haustür war näher als Zuhause laufen!"
„Wir sollten die Polizei rufen! Vielleicht ist der Typ hier noch irgendwo!", sagte ich und sah aus dem Fenster. Dunkel. Still. Leer. Soweit man das durch die einzige Laterne ein paar Meter weiter erblicken konnte.
„Wir warten auf Lasse", antwortete Mathias. Na gut, ich war anderer Meinung, aber ich beugte mich seiner Variante. Und dann wurde mir klar, dass er zum ersten Mal wieder den Namen seines Kumpels in den Mund genommen hatte.

Traum und Wirklichkeit (Mathias Gidsel | Füchse Berlin FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt