43. eine kleine Geschichtsstunde

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Lunas Sicht:
Gut, Mama und Mark brachten mich dazu, in mein Zimmer zurück zu gehen. Ich gab Thomas noch einen vorsichtigen Kuss auf die Wange und versprach ihm: „Mama will, dass ich jetzt ins Bett gehe. Aber ich verspreche dir, ich besuche dich morgen wieder. Ich liebe dich, Papa. Ich komme dich morgen wieder besuchen, Papa. Das... Ich kann dich doch nicht alleine lassen. Ich liebe dich einfach über alles."
Dass ich Papa liebte, das war das einzige, was ich immer wieder wiederholte. Ich konnte es einfach nicht oft genug sagen. Gerade jetzt, wo ich wusste, wie schnell man einander verlieren konnte. Wie schnell alles vorbei sein konnte. Schließlich war Peter, der beste Freund von Papa, bei dem schweren Absturz ums Leben gekommen. Wo wir doch vorher noch miteinander...
So langsam kamen wieder alle Bilder in mir hoch. Die Anzeigen unserer BK, die wie verrückt blinkten. Die Schneemassen, die über dem Geröll unseres zerstörten ‚Babys' lagen. Papa, wie er da auf seinem Platz... Ich wollte mich nicht mehr dran erinnern müssen. Aber jedes noch so kleine Bild zeigte sich wieder vor meinem inneren Auge.
„Papa, ich... Ich liebe dich über alles. Ich... Ich will dich nicht verlieren, Papa. Du bist das wichtigste auf der Welt für mich. Ich kann ohne dich nicht leben, Daddy. Ich... Ich liebe dich einfach so sehr. Du bist... Mein Engel. Ich will nicht ohne dich sein. Bitte, du... Du darfst mich nicht verlassen.", flüsterte ich noch, als ich Papa einen zweiten Kuss gab und dann Mama und Mark in mein Zimmer folgte.

In der Nacht allerdings beschlich mich ein mulmiges Gefühl. Ich musste noch einmal raus - auf die Intensivstation zu meinem Papa.
„Thomas..." Leise ging ich, mit meinem Lieblingsbuch bewaffnet, zu meinem Papa und setzte mich an sein Bett.
„Papa... Du... Als es mir vor ein paar Wochen so schlecht ging, da... Da hast du Tag und Nacht an meinem Bett gesessen und hast mir vorgelesen. Wie wäre... Wie wäre es denn, wenn ich dir jetzt auch aus meinem Lieblingsbuch vorlesen würde. Ich liebe dich doch, Papa. Und Mark meinte, wenn ich dir... Ich sollte mit dir sprechen. Das würde helfen, dass... Dass du vielleicht... schneller wieder gesund..."
Ich blätterte mein Buch auf und fing an, meinem Papa aus meinem allerliebsten Lieblingsbuch vorzulesen.
Die allerersten Sommertage dieses Jahres waren für Lina Grund genug, um ihre dreizehnjährige Freundin Hanna auf dem Gestüt deren Eltern zu besuchen. Nun hatte die blonde Lina bereits ihre Tasche gepackt und wurde von ihrem Papa Thomas..." Ich lächelte kurz und schaute zu meinem Papa. Klar, einige Ähnlichkeit hatte es schon mit meiner Familienzusammensetzung. Mein Papa hieß Thomas. Und auch, wenn bei meinem Namen statt einem i ein u stand, so hatte ich doch das Gefühl, dass die Geschichte auf mich zu geschnitten war.
Ihr absolutes Lieblingspferd im Stall von Hannas Eltern, der große Schimmel Dream of Heaven, war für die vierzehnjährige Lina der Traum aller Träume. Eines Tages, so nahm sie es sich fest vor, würde sie die Stute reiten. Über Felder, durch Wälder, über Wiesen; einfach raus in die Natur. Ohne Sattel, ohne Zwang. Einfach das Pferd laufen lassen. In eine Richtung, die die weiße Stute von sich aus wählte."
„Luna, was machst du denn hier?" Der Chefarzt schaute noch einmal höchstpersönlich nach seinem Patienten und erkannte mich sofort, dass ich bei Thomas auf dem Bett saß. „Du gehörst doch eigentlich ins Bett, oder? Hat dir der Dr. Wagner schon wieder Ausgang erteilt?"
„Nein, eigentlich nicht. Ich... Ich wollte nur... Ich hab doch nur... Ich habe nur meinem Stiefvater... Meinem Papa eine Geschichte..." Verlegen schaute ich auf das aufgeschlagene Buch auf meinem Schoß. „Ich habe nur meinem Papa eine Geschichte vorgelesen. Als ich vor ein paar Wochen krank war und mit Fieber im Bett lag, da... Da hat Papa an meinem Bett gesessen und hat mir vorgelesen. Ich hab gedacht, vielleicht... Vielleicht wäre das eine... eine gute Idee, um mich zu revanchieren. Für das, was Papa für mich getan hat."
„Aber trotzdem, du solltest jetzt ins Bett gehen, Luna. Du bist doch immer noch ziemlich blass um die Nase. Dr. Wagner hat mir deine Krankenakte gezeigt. ... Hast du noch Schmerzen, Luna? Was machen denn deine Rippen?"
„Die passen ganz genau auf, dass meine Lunge und mein Herz nicht gequetscht werden. Sonst noch eine Frage, Herr Doktor?", fragte ich lächelnd und gab Papa einen Kuss. „Und um auf ihre erste Frage zu antworten. Nein, ich habe keine Schmerzen. Höchstens, wenn ich lache. Aber... Im Moment..." Ich schaute auf meinen Papa und mir liefen die Tränen aus den Augen. „Im Moment habe ich ja nicht viel zu lachen. ... Papa, ich... Es tut mir leid. Ich würde jetzt am liebsten hier bleiben, aber ich muss jetzt wieder ins Bett gehen. Man lässt mich einfach nicht bei dir. Ich... Ich würde ja wirklich liebend gern hier bleiben, aber... Ich kann einfach nicht. Ich soll nämlich auf mich selber aufpassen. Weißt du. Ich hab selber Verletzungen von dem Absturz davon getragen. Und die soll ich auskurieren. Aber ich verspreche dir, ich lasse dich nicht im Stich, Papa. Du bist doch für mich das Wichtigste auf der Welt. Ich liebe dich."
„Luna, komm. Ich bringe dich in dein Zimmer zurück. Und dort kannst du dich noch ein bisschen ausruhen."; bot mir Papas behandelnder Arzt an, doch ich wehrte mich mit Händen und Füßen dagegen und schaute ihn böse an. „Ich will wenigstens noch die Seite hier... Meinem Papa... Ich meine, ich habe mich gerade eben zu Papa gesetzt. Ich will ihn nicht jetzt schon wieder alleine lassen müssen."
„OK, du darfst ihm noch die kurze Geschichte vorlesen. Und dann... Dann werde ich dich aber in 10 Minuten in dein Zimmer schaffen. Du brauchst deine Ruhe. Mit einer Gehirnerschütterung ist nicht zu spaßen, Luna."
„Ja, das weiß ich selber. Ich hab doch schon in einem Krankenhaus ein Praktikum gemacht, ich habe zwei super Notärzte in der Familie, mein Papa und meine Mama sind beide Piloten eines Rettungshubschraubers. Und ich interessiere mich, seit ich auf der Welt bin, für medizinische Sachen wie... Ach, das ist ja egal. Ich hab jedenfalls jede freie Minute Arzt gespielt. Wer weiß, vielleicht trete ich ja in Michaels und Karins Fußstapfen und werde Notärztin auf dem Medicopter 117, wenn die beiden mal nicht mehr fliegen."
„Das würde deinen Papa und deine Mama bestimmt sehr freuen. ... Dann lies doch mal deinem Papa vor. Und dann verspreche ich dir, dass ich gar nicht bemerkt habe, dass du hier bist." Der Arzt zwinkerte mir zu und ich las meinem Papa weiter aus dem Buch vor.
„Wo waren wir denn jetzt stehen geblieben, Papa? Warte mal, ich schaue mal. ... Ach, hier. Ja, das ist die Stelle. ... In eine Richtung, die die weiße Stute von sich aus wählte. Eine Richtung, die für Lina und Dream of Heaven ein neues, ein wunderschönes Abenteuer beinhaltete. ‚Lina, träumst du schon wieder?' Die Stimme von Linas Mutter erklang und schon wurde die Vierzehnjährige aus ihren Tagträumen gerissen. ‚Wir wollten dann auch losfahren, meine Kleine. Hast du alles eingepackt, was du für das Wochenende bei deiner Freundin brauchst?' ‚Ja!', rief Lina ihrer Mutter zu und sprintete auch schon mit ihrer fertig gepackten Reisetasche in der Hand die Treppe hinunter. ‚Hast du wirklich an alles gedacht? Ich kenne dich doch? Später müssen wir dir schon wieder irgendwas nachbringen' ‚Ja, Mama. Ich habe alles, was ich brauche.', sagte Lina und schon begann der kurze Wochenendtrip zu Hanna und ihren Eltern. Ein Wochenendtrip, der sich für Lina und ihre Freundin zu einem Abenteuer entwickelte."
Ich schloss das Buch, schaute auf Papa und flüsterte ihm leise zu: „So, Papa. Und wie es weiter geht, das lese ich dir dann morgen vor. Ich wünsche dir eine gute Nacht. Schlaf gut, Papa. Ich liebe dich." Vorsichtig drückte ich Thomas noch einen Kuss auf die Wange, dann ging ich, begleitet von Papas behandelndem Arzt, dem Chefarzt Prof. Renters, in mein Zimmer zurück. Dennoch hatte ich in dieser Nacht einen schlechten Traum nach dem nächsten. Und jeder Traum hatte den gleichen Inhalt...

Liebe liegt in der LuftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt