Talai 1-2 Am Spiegel

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Am Spiegel

Die Sonne nähert sich bereits dem höchsten Punkt ihrer Bahn, als He'sha endlich die richtige Stelle findet. Ganz deutlich spürt er die Magie, die hier am Werk ist. Kurz vor den beiden mächtigen Eichen bleibt er stehen. Er verspürt nicht die mindeste Lust, seinen Weg fortzusetzen. Noch gut erinnert er sich ans letzte Mal, als er an dieser Stelle stand, obwohl dieses Erlebnis bereits Jahre zurückliegt und er noch ein kleiner Junge war. Damals weigerte er sich standhaft, das Tor zu durchqueren, das in eine fremde Welt führt. Aber diesmal bleibt ihm keine Wahl. Er hat einen Auftrag zu erfüllen. Außerdem ist er inzwischen erwachsen und kann nicht einfach vor seinen Ängsten davonlaufen.
He'sha atmet tief durch und schliesst kurz die Augen, um sich auf die seltsame Magie des Spiegels zu konzentrieren. Von seiner Mutter weiß er, dass eine große magische Begabung notwendig ist, um dieses Tor zu einer anderen Welt wahrzunehmen, geschweige denn zu durchqueren. Er weiß auch, dass diese Gabe in seiner Familie ausgeprägt vorhanden ist. Im Vergleich zu seiner älteren Schwester hält er sich allerdings magisch für völlig unbegabt. Dazu mangelt es ihm, wie seine Mutter immer wieder beteuert, an Selbstvertrauen.
Entschlossen öffnet er die Augen und macht sich auf den Weg. Von einem Ast der einen großen Eiche aus mustert ihn ein rotes Eichhörnchen aus kleinen schwarzen Knopfaugen. Ob das wohl ein Nachkomme des Tierchens ist, das er aus den Geschichten seiner Mutter kennt? Einen Moment lang ist He'sha abgelenkt und plötzlich lässt das unangenehme magische Kribbeln nach. Überrascht blickt er zurück. Tatsächlich, er hat die Eichen und damit das magische Tor hinter sich gelassen und steht nun in der Welt, aus der seine Mutter stammt.
Sorgfältig inspiziert He'sha aus dem Haus Silita den Waldweg, der sich vor ihm öffnet. Wenn er diesem Weg folgt, müsste er ohne Probleme das Haus seines Großvaters finden. Er hofft, dass dieser zu Hause und bereit ist, seinem unbekannten Enkel weiterzuhelfen.

~ ~ ~

Kathrin fasst das Pferd enger am Zügel, legt ihm eine Hand auf die Stirn spricht ihm freundlich ins Ohr. Das Tier ist noch jung und muss sich zuerst daran gewöhnen, mit Menschen zu arbeiten. Langsam beruhigt sich die Stute. Kathrin grinst ihrer Cousine triumphierend zu. Diese lächelt aufmunternd zurück. Tanàn ist ein Stück älter und will der Freundin den Erfolg nicht vermiesen. Selbstverständlich wäre es einfacher, mit dem Pferd auf ihre eigene Art direkt zu kommunizieren und ihm zu erklären, was von ihm erwartet wird. Aber in dieser magielosen Welt hat sie rasch gelernt, ihre Fähigkeiten nicht offen zu zeigen. Außerdem würde sich das Pferd anschließend nur noch sehr ungern von jemandem reiten lassen, der keine vergleichbare magische Begabung besitzt. Deshalb nähert sie sich auf Kathrins Zeichen hin vorsichtig der scheuen Stute, um ihr den Hals zu tätscheln. Es kostet sie überraschend viel Willenskraft, dabei ihre Gedankenstimme nicht einzusetzen. Ein Zuruf ihrer Tante unterbricht ihre Gedanken.
«Kathrin, Tanàn! Kommt her, wir haben Besuch!»
Die Stute schnaubt und beginnt aufgeregt zu tänzeln, während sich die beiden jungen Frauen der Ruferin zuwenden. Kathrin nimmt dem Pferd rasch den Zügel ab und lässt es in der Koppel frei. Tanàn ist bereits auf dem Weg zum Haus. Dort erwartet sie Angie, Kathrins Mutter. Bei ihr ist der Besuch, den sie erwähnt hat. Großvater Andres hat einen jungen Mann mitgebracht, den Tanàn auf den ersten Blick nicht erkennt. Seine einfache, sandfarbene Kleidung löst bei ihr aber eine Erinnerung aus. Erst als sie näher kommt, fällt ihr auch das schulterlange schwarze Haar auf. Zudem erkennt sie die Körperhaltung: mit verschränkten Armen, halb schüchtern, halb herausfordernd. Freudig beschleunigt Tanàn ihre Schritte und läuft auf den jungen Mann zu. Seine dunklen Augen blinzeln erwartungsvoll. Sie weiß, dass diese Augen in der Nacht silbern glänzen, wie ihre eigenen.
«He'sha! Was machst du hier? Ich dachte, du willst den Spiegel nicht durchqueren?»
Ihr Bruder zuckt etwas verlegen die Schultern. Aber dann verzieht sich sein Mund zu einem spöttischen Lachen.
«Ich freue mich auch, dich zu sehen, Schwesterherz.»
«Tut mir leid. Natürlich freue ich mich, dich zu sehen. Ich habe dich einfach hier nicht erwartet. Bleibst du lange? Es gibt so viel Dinge hier, die dir gefallen werden!»
He'shas gute Laune ist wie weggewischt. Er wirft zunächst Andres und dann Tanàn einen sorgenvollen Blick zu.
«Einiges habe ich schon gesehen. Zum Beispiel dieses Eisenwesen mit den runden Füßen, mit dem mich Großvater hierher brachte. Er meinte, damit wären wir schneller als zu Fuß. Aber für viel mehr bleibt mir wohl keine Zeit. Mutter bittet dich, nach Hause zu kommen. Sie hat den außerordentlichen Rat der Nacht einberufen.»
Tanàn schluckt leer. Es muss wichtig sein, wenn die Königin der Nacht eine Ratsversammlung einberuft, an der sie ihre Thronfolgerin dabei haben will. Vor allem, weil sie dieser zuvor die Erlaubnis gab, einige Zeit in der Welt ihrer Schwester zu verbringen. Bevor sie He'sha nach dem Grund für die Versammlung fragen kann, kommt Kathrin heran. Sie mustert den Besucher mit großen Augen.
«Ist das dein Bruder, Tanàn?»
Rasch beugt sie sich vor, um ihrer Cousine ins Ohr zu flüstern.
«Du hast mir nie erzählt, wie gut er aussieht!»
Tanàn lacht. Die fünfzehnjährige Kathrin schwärmt für jeden zweiten Jungen im Dorf. Kein Wunder, dass sie auch He'sha attraktiv findet. Mit seiner dunklen Haut und dem langen schwarzen Haar wirkt er in ihren Augen bestimmt exotisch. Und obwohl er zwei Sommer jünger ist als Tanàn, ist er noch ein gutes Stück älter als Kathrin, alt genug um ihr Interesse zu wecken. Tante Angie, die den Austausch verfolgt hat, räuspert sich auffällig.
«Kathrin, bevor du unserem Gast Löcher in den Kopf starrst, könntest du Wasser für Kaffee oder Tee aufsetzen. Ich bin sicher, dass He'sha gerne etwas trinken würde bevor er wieder aufbrechen muss.»
Während ihre Cousine murrend im Haus verschwindet, sieht Tanàn ihren Bruder fragend an. Aber er hat keine einfache Antwort auf ihre ungestellten Fragen.
«Ich weiß nicht, was genau passiert ist. Es scheint Mutter aber wirklich zu beunruhigen. Sonst hätte sie wohl kaum Luok überredet, mich hierherzutragen.»
«Luok hat dich hergebracht? Das ist wirklich ungewöhnlich. Ich werde wohl meine Sachen packen müssen, Angie.»
Die Tante nickt verständnisvoll. Tanàn weiß, dass sie gehofft hat, ihre Schwester Silàn werde ihre Tochter gelegentlich selber abholen. Dass sie stattdessen ihren Sohn schickt, der dieser fremden Welt bisher nichts abgewinnen konnte, ist ein sicheres Zeichen für ihre Beunruhigung. So gerne Tanàn ihren Aufenthalt bei der Familie ihrer Mutter verlängert hätte, sie weiß, dass sie dem Ruf der Königin folgen muss. Deshalb entschuldigt sie sich und geht nach oben, um zu packen.
Als Tanàn kurz darauf mit einem gefüllten Rucksack die Treppe hinunter kommt, hört sie Stimmen aus dem Wohnzimmer. Inzwischen ist auch ihr Onkel Thomas zu der Familie gestoßen. Angie muss ihn aus dem Stall geholt haben. Die beiden betreiben erfolgreich einen Reitstall und eine Pferdezucht, ein Unternehmen, das Tanàn fasziniert. Gerne hätte sie noch mehr Zeit mit ihren Verwandten verbracht und die Wunder diese Welt kennengelernt. Aber nun ruft sie die Pflicht zurück in ihre eigene Welt. Sie betritt den Wohnraum um festzustellen, dass Kathrin immer noch ungeniert mit ihrem Cousin flirtet, während dieser Andres und Thomas über die Maschinen mit den vier Rädern ausfragt. Angie wirft Tanàn einen belustigten Blick zu. He'shas ungespieltes Interesse bestätigt ihre Vermutung, dass auch Silàns Sohn rasch Gefallen an der Welt hinter dem Spiegel gewinnen würde. Bis jetzt weigerte er sich aber standhaft, die Familie seiner Mutter auch nur zu besuchen. Tanàn weiß, dass er sich vor der Magie des Tors zwischen den Welten fürchtete. He'sha reagiert empfindlich auf starke magische Ausstrahlungen. Dass er seine Angst heute überwand, spricht für die Dringlichkeit seines Auftrags.
Angie drückt Tanàn eine Tasse Kaffee in die Hand, ein Getränk, das in ihrer Welt selten und kostbar ist und für das sie eine große Vorliebe besitzt. Während sie die Tasse mit beiden Händen umschließt, betrachtet sie ihren Bruder. He'sha nimmt vorsichtig einen Schluck von seinem eigenen Kaffee. Der bittere Geschmack lässt ihn das Gesicht verziehen. Großvater Andres lenkt inzwischen das Gespräch auf Silàn. Wie immer sehnt er sich nach Neuigkeiten von seiner älteren Tochter. He'sha gibt ihm bereitwillig Auskunft. Dazwischen wirft er aber einen besorgten Blick zum Fenster. Die Sonne steht schon tief. Tanàn versteht, auch wenn sie von ihrem Bruder diese Ernsthaftigkeit nicht erwartet hätte.
«Wartet Luok auf dich?»
«Ja, sie ist oben im Tal bei Dánan, aber es ist nicht nur Luok. Salik ist mitgekommen, um dich zurückzutragen. Dánan hat ihnen eine Höhle gezeigt, in der sie tagsüber schlafen können. Wir müssen zusehen, dass wir bei Einbruch der Dunkelheit bereit sind.»
Außer Tanàn begreift Angie als einzige, was das bedeutet. Silàn, die Königin der Nacht, ist ihre Schwester und besucht sie trotz all ihrer Pflichten regelmäßig. Deshalb weiß sie weit mehr über das Land hinter dem Spiegel als jemand anderes in dieser Welt.
«Luok und Salik, sind das Drachenschatten?»
He'sha nickt. Angies Augen weiten sich. Sie weiß offensichtlich, dass die Hrankaedí nur im äußersten Notfall bereit sind, Reiter zu tragen.

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