Talai 3-17 Auf der Suche

345 50 17
                                    

Auf der Suche

Sorim bemüht sich, kein Geräusch zu machen, während er so schnell wie möglich in Richtung der Mine läuft. Er hat es satt, mit den anderen in der Höhle zu sitzen und darüber zu diskutieren, womit der Minenmagier wohl die Steine zum Leuchten bringt. Er will endlich etwas für die anderen Kinder tun, nun, da sie so nahe bei der Mine sind. Außerdem ist er mindestens ein genau so guter Kundschafter wie Talai oder Liha, hat er das nicht schon oft bewiesen? Zudem weiß er, wo der Magier die Sprengmittel aufbewahrt, von denen He'sha glaubt, sie könnten helfen. Er wird sie holen und dann können sie endlich etwas unternehmen.
Der Junge erreicht die Stelle bei den Abfallhaufen, wo es möglich ist, sich unbemerkt auf das abgesperrte Gelände zu schleichen. Bei den Hütten der Kinder bleibt er unschlüssig stehen. Wohin soll er weitergehen? Bald ist Schichtwechsel, das wäre der ideale Moment, sich zwischen die anderen Kinder zu mischen. Seine alten Freunde könnten ihm berichten, was sich in der Mine während seiner Abwesenheit zugetrug, bevor er sich zum Haus des Magiers schleicht. Entschlossen geht er um einige Hütten herum und nähert sich unauffällig jener, in der einige Jungen seiner ehemaligen Schicht wohnen. Er hat den Überblick verloren, ob sie gerade schlafen oder unten in den Stollen des Bergwerks sind. Inständig hofft er, dass er niemanden antrifft, der ihn an die Aufseher verrät. Leise öffnet er die Tür und schlüpft rasch ins Innere des dunklen Raums.
Die Hütten der Kinder haben keine Fenster, zum einen weil sie so im Winter wärmer bleiben, andererseits können die Minenarbeiter so tagsüber ungestört schlafen. Im spärlichen Lichts, das durch Ritzen in Dach und Wänden ins Innere dringt, dauert es einen Moment, bis sich Sorims Augen an die Dunkelheit gewöhnen.
Einige Betten in dem düsteren Raum sind belegt, andere nicht. Da keine Decken darauf liegen schließt Sorim, dass ihre Besitzer inzwischen an der Krankheit gestorben sind. Auf einem Bett regt sich etwas. Ein verwuschelter Haarschopf taucht aus der Decke auf und weit aufgerissene Augen versuchen die Dunkelheit zu durchdringen.
«Was ist los, ist schon Schichtwechsel?»
Sorim zögert einen Moment. Er erkennt sie verschlafene Stimme nicht sofort. Aber nun, da er hier ist, kann er sich auch zu erkennen geben.
«Nein, bis zum Schichtwechsel dauert es noch ein bisschen. Ich bin's, Sorim. Ich wollte sehen, wie es euch hier geht.»
«Sorim? Bist du verrückt? Wenn sie dich hier erwischen, werden sie dich verprügeln.»
«Ich weiß. Deshalb sollten sie mich besser nicht erwischen.»
Inzwischen sind auch die andern Jungen wach. Nur noch drei von ihnen leben in der Hütte, wo vorher sechs Platz fanden. Sorim kennt sie alle, allerdings erfährt er, dass zwei seiner besten Freunde inzwischen tot sind. Bald umringen ihn die Überlebenden, um von seiner Flucht zu hören. Der älteste unter ihnen muss die anderen mehrmals mahnen, die aufgeregten Stimmen zu senken. Sorim spürt, dass sein Erscheinen in diesen Jungen einen Funken neuer Hoffnung weckt.
Bald erfährt er, dass die Mine nun einen neuen, dritten Schacht besitzt. Er wurde mit magischen Mitteln in den Fels gesprengt und soll deutlich reichere Ausbeute bringen, als die bisherigen Stollen. Sorim lernt ebenfalls, dass der ältere Junge Teil des Sprengteams ist, das den neuen Schacht vorantreibt. Eine Idee entsteht in seinem Kopf. Vielleicht muss er gar nicht ins Haus des Magiers einbrechen, um an das Sprengmittel heranzukommen.

~ ~ ~

He'sha betrachtet die drei besorgten Gesichter, während er tastend überprüft, ob sein Dolch sicher in der Schneide steckt. Talai, Laiàn und Dánirah sind nicht begeistert davon, dass er sich alleine auf die Suche nach Sorim machen will. Immerhin konnte er sie überzeugen, dass er die beste Chance hat, ihn zu finden. In seiner Schattenform kann er sich nach Sonnenuntergang unbemerkt durch das Minengelände bewegen. Dánirah reicht ihm eine Schüssel mit aufgewärmtem Eintopf.
«Hier, iss etwas bevor du losgehst. Du musst ohnehin warten, bis es dunkel wird, bevor du in der Mine sicher bist.»
He'sha weiß, dass sie mit der Suche nach Sorim in der unmittelbaren Umgebung der Höhle bereits viel Zeit verloren haben. Der Vorsprung des Jungen vergrößert sich zusehends. Trotzdem nimmt er die angebotene Mahlzeit und einen Löffel dankbar entgegen. Aber er isst schnell und im Stehen, denn er will beim Umfassungszaun sein, wenn es dunkel wird. Dankend reicht er Dánirah den leeren Teller zurück und wendet sich Talai zu. Das Gesicht der jungen Frau zeigt deutlich ihre Sorge und Anspannung. Spontan tritt He'sha zu ihr und schließt sie in die Arme.
«Passt auf euch auf. Ich komme zurück, sobald ich Sorim finde und diesem Magier einen Besuch abgestattet habe.»
«Versuch bitte nur, Sorim zurückzuholen, bevor ihm etwas passiert. Um den Magier können wir uns später kümmern.»
«Keine Sorge. Kannst du Luok erklären, was ich vorhabe? Sie erwacht bestimmt bald und wird mich rausholen, falls es brenzlig wird.»
Talai zögert und nickt, als würde es sie Überwindung kosten. Offensichtlich behagt es ihr nicht, He'sha allein ziehen zu lassen. Aber er kann sich im Moment nicht erlauben, darüber nachzudenken, was die junge Frau vielleicht für ihn empfindet. Sanft streicht er Laiàn übers Haar.
«Was denkst du, wo wird Sorim in der Mine zuerst hingehen?»
«Das frage ich mich schon die ganze Zeit. Am Anfang dachte ich, direkt zum Haus des Magiers. Aber nun glaube ich, dass er versucht, einige seiner alten Freunde zu finden. Als Lichtjunge kennt er fast alle Kinder, die dort arbeiten. Ich hoffe nur, dass er nicht mit ihnen in den Schacht hinunter steigt.»
«Weshalb?»
«Wenn einer der Aufseher ihn erwischt, meldet er ihn, und dann wird er eingesperrt. Sie werden ihn hart bestrafen, um die anderen Kinder davon abzuhalten, ebenfalls die Flucht zu versuchen.»
Vermutlich hat sie damit recht. He'sha drückt kurz ihre Schulter und nickt dem beiden Frauen zu. Bevor er sich auf den Weg machen kann, packt ihn Laiàn ängstlich an der Hand.
«He'sha, vielleicht versucht Sorim auch, von dem Sprengmittel des Magiers zu holen.»
He'sha überlegt. Wann hat er Sorim zu letzten Mal gesehen? War er noch da, als das Gespräch auf das Sprengmittel kam? Mit zusammengekniffen Mund wendet er sich ab und bricht auf. Obwohl er sich nicht mehr umsieht, spürt er die besorgten Blicke der anderen noch lange im Nacken.
Der Himmel ist wolkenverhangen und das Licht bereits düster. Es wir nicht mehr lange dauern, bis er in seine Schattenform wechseln kann. Bis dahin muss er aber vorsichtig sein. Er kennt sich in diesen Bergen nicht so gut aus wie Sorim. Zum Glück erinnert er sich an das Terrain von den Flügen mit Luok. So findet er den Weg zu den Abfallhalden schneller, als er befürchtete. Er sucht sich ein Versteck, von dem aus er das Minengelände übersehen kann.
Seine Hoffnung, Sorim von hier aus zu entdecken, muss He'sha bald aufgeben. Offensichtlich geht soeben die Schicht zu Ende. In langen Reihen bewegen sich zahlreiche kleine Gestalten von drei verschiedenen Stellen des Geländes auf die Gruppe der armseligen Hütten zu, die den Kindern als Unterkunft dienen. Manche von ihnen gehen mit langsamen, schlurfenden Schritten, als wären sie müde und alt. He'sha presst die Lippen zusammen. Er hat noch nie Kinder mit sowenig Lebensfreude beobachtet. Nun kommen ihnen von den Hütten her andere Kinder entgegen. Bald wimmelt es auf dem Gelände von kleinen Gestalten. He'sha hat keine Möglichkeit zu erkennen, ob Sorim dabei ist.

TalaiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt