Talai 1-18 Ein seltsamer Traum

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Ein seltsamer Traum

Liha betritt den Trainingshof und lehnt sich neben der Tür gegen die Wand, um einigen jungen Kriegern beim Schwertkampf zuzusehen. Berim, der die Waffenübung leitet, bemerkt seinen alten Freund sofort und nickt ihm kurz zu. Er weiß, dass der Drache von Kelèn nicht ohne triftigen Grund hierherkommt und kann sich bestimmt denken, dass der Grund nichts mit den sechs Jungen zu tun hat, die gerade erst beginnen, ein Gefühl für die Schwertklinge zu entwickeln. Trotzdem führt er seinen Unterricht zu Ende, als gäbe es nichts anderes auf der Welt. Dies ist etwas, was Liha an seinem Freund besonders schätzt. Alles, was er tut, genießt seine volle Aufmerksamkeit.
Als die jungen Krieger kurz darauf ihre Übungsschwerter und Schilde weglegen, wartet Berim geduldig, bis auch der letzte sich verabschiedet und mit einem neugierigen Blick auf Liha den Hof verlassen hat. Erst dann wendet er sich dem hohen Besucher zu.
«Liha, was führt den Berater des Königs ins Reich der einfachen Krieger? Ich bin sicher, dass diese jungen Männer ihren Weg gehen werden, aber noch genügen sie deinen hohen Ansprüchen nicht.»
Der Drache von Kelèn lächelt schwach. Berim schafft es immer wieder, seine Anspannung mit wenigen Worten zu lösen. Dabei kann er sich erinnern, dass dieser im Grunde genommen schweigsame Mann und begabte Fährtenleser früher oft tagelang kein unnötiges Wort äußerte.
«Ich bin sicher, du hast von der Aufregung gehört, die unser alter Freund Numesh verursachte.»
«Ja, die Gerüchte waren nicht zu überhören. Numesh und Marish hielten sich anfänglich bedeckt, aber offenbar plauderte eine Zofe der Königin und inzwischen gibt es im Palast bereits so viele Gerüchte wie Ohren.»
«Das habe ich mir fast gedacht. Vermutlich wird inzwischen behauptet, eine inoiranische Armee ziehe nach Penira.»
«Das habe ich noch nicht gehört, aber ich kann mir vorstellen, dass es nicht mehr lange dauert, bis es soweit ist. Aber der Drache von Kelèn besucht einen einfachen Wachoffizier nicht, weil er über Gerüchte sprechen möchte.»
«Nein, er besucht einen alten Freund, weil er Rat braucht. Aber es geht um Dinge, die wir nicht hier im Hof besprechen sollten. Ich glaube, ich habe noch eine Flasche Wein aus Gerin oben in meinen Räumen. Was hältst du davon?»
Schweigend steigen die beiden Freunde die Treppen zu Lihas Quartier hinauf. Obwohl Pentim seinem obersten Heerführer schon mehrmals bessere Räume angeboten hat, zieht Liha seine verhältnismäßig bescheidene Wohnung im Flügel mit den Offiziersunterkünften vor. Er öffnet die Tür und bittet Berim, einzutreten. Dieser ist nicht zum ersten Mal hier und begibt sich ins Wohnzimmer, während Liha den versprochenen Wein aus Berims Heimat holt. Er schenkt zwei Gläser ein und nimmt seinem Freund gegenüber Platz. Dieser wartet gespannt auf den Grund für die unerwartete Einladung. Liha räuspert sich. Wie immer, wenn es um magische Dinge geht, fühlt er sich unsicher und etwas verlegen.
«Ich hatte heute das zweifelhafte Vergnügen, der Königin vom Tod ihrer Tochter zu berichten. Du hast ja Numeshs Bericht gehört. Pentim bestand darauf, dass ich bei dem Gespräch dabei war. Du kannst dir vorstellen, wie schockiert Königin Fanlaita reagierte. Allerdings war mehr oder weniger zufällig auch Prinz Kerim anwesend. Er unterbrach mich mitten in meinem Bericht. Er beschuldigte mich, Lügen zu verbreiten. Seine Schwester sei nicht tot und wir sollten nicht so von ihr sprechen. Er steigerte sich richtig in eine Hysterie hinein. Weder Pentim noch die Königin konnten ihn beruhigen. Schließlich schickte der König mich weg. Er meinte, Kerim werde sich früher oder später mit den Tatsachen abfinden. Für mich sah es allerdings nicht danach aus. Das einzig Gute an der Sache ist wohl, dass Fanlaita durch Kerims Ausbruch so von den schlechten Neuigkeiten abgelenkt war, dass sie völlig vergaß, Pentim wegen Talais Tod Vorwürfe zu machen.»
Berim dreht nachdenklich den schlanken Stiel seines Weinglases zwischen den Fingern, die Augen auf die rubinrote Flüssigkeit fixiert. Erst nach einer Weile blickt er seinem alten Freund und Kommandanten in die Augen.
«Du weißt, was ich denke, Liha. Sonst wärst du nicht als erstes zu mir gekommen.»
«Ja, und mein Gefühl sagt mir, dass du recht hast. Du und ich, mein Freund, wir haben schon zuviele Dinge unter der Sonne und dem Mond gesehen, um gewisse Zeichen zu unterschätzen.»
Liha denkt dabei nicht nur an die Begegnung mit Magiern, sondern auch mit Wesen der Nacht und des Tages, von denen die meisten Menschen glauben, es seien Märchen. Berim kann seinen Gedanken folgen.
«Nun, gegen die Drachen hast du alleine gekämpft!»
Ein Lächeln stiehlt sich auf Lihas Lippen. Berim liebt es, ihn mit den übertrieben Geschichten hochzunehmen, die im Palast über ihn erzählt werden.
«Nicht gegen die Drachen, sondern für sie. Du solltest zumindest versuchen, den Küchenmädchen und Stallburschen diesen Unterschied zu erklären.»
«Hoffnungslos. Außerdem waren es nicht die Stallburschen sondern die Jungen, denen du heute zugesehen hast. Es klingt viel besser, wenn es heißt, der Drache von Kelèn habe das Reich gerettet, indem er gefährliche menschenfressende Drachen verjagt habe. Zu deiner Beruhigung, der Ausbildungsoffizier hat den Jungs danach die richtige Version der Geschichte erzählt, und zumindest bei einigen ist etwas davon angekommen. Sie verehren dich seither noch mehr, wie du vielleicht an ihren Blicken heute ablesen konntest.»
«Damit muss ich wohl leben. Aber eigentlich bin ich wegen Kerim hier. Was hältst du von seiner Behauptung?»
Berim nimmt einen Schluck Wein, während Lihas Augen an jeder Regung seines hageren Gesichts hängen. Er weiß, dass Berim nicht gern über seine Begabung spricht, sei sie nun magisch oder übernatürlich.
«Hör zu, Liha, mein Gefühl sagt, dass der Junge Recht hat. Ich weiß, dass du glaubst, ich sei magisch begabt. Ich halte das eher für Intuition, die ich von meinen Tannarí-Vorfahren geerbt habe. Wie auch immer, Kerim zeigt in meinen Augen klar erste Anzeichen einer magischen Begabung. Nach allem, was ich von Onish gelernt habe, kann es sich nur um Monde handeln, bis sie sich zu entfalten beginnt. Wenn wir dann keinen Schattenwandler finden, der dem Prinzen hilft, wird er vermutlich sterben.»
«Das habe ich befürchtet. Pentim und Fanlaita werden es nicht glauben wollen, bis es zu spät ist.»
«Wir sollten versuchen, Onish oder deinen Freund A'shei zu erreichen. Oder wir bringen den Jungen zu Dánan.»
«Das wäre vielleicht die beste Lösung. Aber zuerst müssen wir einen Suchtrupp aufstellen. Wenn Kerim recht hat, lebt Talai und ist ganz allein und vermutlich verletzt irgendwo in Inoira unterwegs.»

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