Talai 2-15 Ushin

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Ushin

Talai legt etwas Holz aufs Feuer und sieht sich in ihrem improvisierten Lager um. Der verletzte Wolf liegt zusammengerollt auf der anderen Seite der kleinen Feuerstelle, sein Gesicht mit der buschigen Rute bedeckt. Nur die goldenen Augen blinzeln ab und zu, ein Zeichen, dass das Tier wach und aufmerksam ist. Sein graues Fell ist auf dem Rücken dunkler gefärbt und um die Augen herum sowie an den Ohren beinahe schwarz. An der Brust dagegen ist es fast weiß. Das verletzte Bein streckt der Wolf vorsichtig zur Seite.
Es kostete das verwundete Tier große Anstrengung, auf drei Beinen bis hierher zu humpeln. Aber obwohl der Wolf noch nicht ausgewachsen ist, gelang es Talai nicht, ihn zu tragen. Zunächst wollte sie ihr Lager deshalb an der Stelle einrichten, wo sie den Wolf ursprünglich auffand. Aber dann fiel ihr ein, dass der Fallensteller jederzeit zurückkommen könnte. Da war es bestimmt besser, wenn sie mit ihrem neuesten Schützling nicht mehr in der Gegend war. Deshalb folgte sie dem Wildwechsel bachabwärts. Überraschenderweise schien der Wolf ihre Absicht zu verstehen und begleitete sie langsam, aber willig.
Sie fragte sich gerade, ob sie den Weg nicht sicherheitshalber verlassen sollte, als plötzlich das Lichtwesen wieder heranwirbelte. Es übernahm die Führung und begleitete sie und den Wolf vom Wildwechsel weg durch den Wald bis zum schmalen Eingang einer Schlucht, die von einem größeren Bach gegraben worden war. Diesem folgten sie über die nassen Ufersteine ein gutes Stück aufwärts, bis sie nach einer der zahllosen Windungen eine Stelle erreichten, wo das schmale Tal einen kleinen Kessel bildete. Dort stiessen sie unter einem weit überhängenden Felsen auf einen windgeschützten und trockenen Platz. Das Lichtwesen tanzte eine Weile an der Stelle, bevor es sich vor Talais Augen langsam in einzelne Funken auflöste, die zu verglühen schienen.
Als der Wolf sich daraufhin im trockenen Laub unter dem Überhang niederliess, beschloss Talai, auf die Führung des Lichtwesens zu vertrauen und sammelte vom Bach angespültes Holz. Nun wartet sie gespannt darauf, dass das Kae aufwacht. In der Zwischenzeit kocht das Wasser für ihren Tee und sie teilt einen Teil ihrer schwindenden Vorräte mit dem jungen Wolf. Es handelt sich nur um ein Stück altbackenes Brot und etwas getrocknetes Fleisch, aber das verletzte Tier nimmt beides dankbar entgegen.
Endlich wird es dunkel und das Kae projiziert erste Gedankenbilder, noch halb in einem Traum gefangen. Es bemerkt die Anwesenheit des Wolfs aber sehr rasch und verlässt sein Versteck in der Laute schneller als gewohnt. Sogar den bereitstehenden Becher mit Wasser beachtet es heute nicht. Stattdessen bewegt es sich zielstrebig auf den Wolf zu, der den schwarzen Nebel neugierig anblinzelt. Dann setzt das Kae eine Flut von schnell aufeinanderfolgenden Gedankenbildern frei, denen Talai kaum folgen kann. Der Wolf antwortet auf die gleiche Art, allerdings deutlich langsamer.
Überrascht starrt Talai das Tier an. Es wäre ihr niemals eingefallen, ihren Patienten auf diese Art anzusprechen. Gespannt verfolgt sie, wie der Wolf ihre Begegnung aus seiner Sicht schildert. Sie kann nicht verhindern, dass sie errötet, als er ihren Einsatz beim Öffnen der Falle und der Versorgung seiner Wunde herausstreicht. Beinahe ehrfürchtig wendet sich das Kae schließlich an die junge Frau, um sich im Namen der Wesen der Nacht zu bedanken. Nun spiegelt sich in den Augen des Wolfs die Überraschung.
Aufgeregt versucht Talai, ihren neuen Bekannten direkt anzusprechen. Er antwortet ohne zu zögern, und im Gegensatz zu den Bildern des Kae werden seine durch beinahe verständliche Worte begleitet. Der Wolf bedankt sich höflich für die Hilfe. Daraus entwickelt sich rasch eine Unterhaltung, denn Talai will nun unbedingt mehr über den seltsamen Funkenwirbel erfahren. Sobald sie ihn in einem Gedankenbild darstellt, strahlt aber auch das Kae Interesse und Begeisterung aus. Wie so oft äußert sich diese in einer beinahe unverständlichen Bilderflut. Bevor Talai aber zu ihrer üblichen Methode Zuflucht nehmen kann, die Bilder einzeln zu wiederholen, meldet sich der Wolf zu Wort. Seine Gedankenstimme ist jetzt beinahe klar verständlich.
‹Diuneldí sind Wesen des Lichts. Sie sind scheu. Es fand mich, als ich gefangen war. Ich verdanke ihm mein Leben. Ich verdanke dir mein Leben.›
Talai weiß nicht, wie sie dem Wolf antworten soll. Sie kann keine so klaren Gedankenwörter formulieren. Deshalb versucht sie es noch einmal mit Bildern. Sie will unbedingt mehr über die Wesen erfahren, die der Wolf Diuneldí nennt. Er versteht sie sofort und seine Erklärung hilft tatsächlich weiter.
‹Diuneldí sind Wesen des Lichts. Diuneldí leben am Tag. Kaedin sind Wesen der Nacht. Du bist ein Wesen der Dämmerung. Ich bin ein Wesen der Dämmerung. Kaedin und Diuneldí sehen sich nicht. Du siehst Kaedin und Diuneldí. Ich sehe Kaedin und Diuneldí ›
Obwohl Talai sich nicht gerade als Wesen der Dämmerung bezeichnen würde, versteht sie ungefähr, was der Wolf ihr sagen will. Etwas unbeholfen versucht sie, ihm das in Bildform mitzuteilen. Dieser zeigt ihr ein scharfzahniges Wolfslächeln.
‹Wenn du laut genug denkst, verstehe ich.›
«Oh, du meinst, wenn ich normal spreche, verstehst du mich?»
Der Wolf zuckt zusammen und das Kae strahlt ein Bild von Belustigung aus.
‹Weniger laut genügt auch. Wie heißt du, Tochter des Morgens?›
Diesmal bemüht sich Talai, die Antwort so klar als möglich zu denken. Der Wolf versteht sie tatsächlich und grinst sie mit aufgerollten Lippen an
‹Talai heißt weiße Blüte. Ein passender Name.›
‹Danke, und wie heißt du, junger Wolf?›
‹Ushin.›
Das bedeutet Nebel in der alten Sprache. Talai findet, dass der Name zu dem Wolf passt. Sie versucht, dies mit ihrer neuentdeckten Gedankenstimme auszudrücken. Es dauert eine Weile, bis sie diese neue Art der Kommunikation beherrscht. Das Überraschende daran ist, dass das Kaedin ihre Gedankenstimme auch immer besser zu verstehen scheint und sich rege an der Unterhaltung beteiligt. So findet die junge Frau bald heraus, dass die Diuneldí, deren Namen 'Sonnenflecken' bedeutet, sich nur selten zeigen und sich normalerweise von Menschen fernhalten. Sie lernt auch, dass die Wölfe, wie die Kaedin, die Königin der Nacht anerkennen, obwohl sie streng genommen nicht reine Wesen der Nacht sind. Schließlich lauscht sie gespannt, wie das Kae Ushin nach anderen seiner eigenen Art fragt. Aber die Antwort des Wolfs fällt enttäuschend aus.
‹Die Kaedin in dieser Gegend sind verschwunden. Manche waren krank. Manche sind weggegangen. Im Tal des Dioàr gibt es außer dir keine kleine Dunkelheit mehr.›

TalaiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt