Talai 1-20 Die Prinzessin und die Dunkelheit

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Die Prinzessin und die Dunkelheit

A'shei dreht den ungeöffneten Brief in der Hand hin und her, den ihm sein Sohn He'sha soeben überreichte. Neugierig wirft Noak einen Blick auf das zusammengefaltete Papier mit dem Siegel der Königin der Nacht. Sie beide wissen genau, dass Silàn andere Kommunikationswege finden würde, wenn sie ihnen dringend etwas mitzuteilen hätte. Deshalb vermutet A'shei, dass die eigentliche Botschaft nicht auf dem Blatt steht. Offensichtlich war es der Königin der Nacht wichtiger, den Boten zu senden als eine Botschaft zu übermitteln. A'shei geht davon aus, dass der Brief genau das sagen wird. Deshalb nickt er He'sha freundlich zu, der unsicher neben Luok steht. Es mutet den Schattenwandler immer noch seltsam an, dass sein Sohn die Fähigkeit besitzt, eine Schattenform anzunehmen. Bisher sträubte He'sha sich meist dagegen, aber nun wirkt er auf A'shei, als sei er ständig dabei, halb in die Schattengestalt hinüberzugleiten. Er erinnert sich gut daran, wie seine Schwester Tanàn diese Phase durchmachte, damals, als ihre magischen Fähigkeiten erwachten. Vermutlich wurde die Entwicklung bei He'sha erst jetzt, durch den engen Kontakt zu Luok ausgelöst. A'shei, der selber eine starke Bindung zu Noak besitzt, mit der er oft unterwegs ist, kann sich gut vorstellen, was im Moment in seinem Sohn vorgeht und weshalb Silàn ihn aussandte.
«Danke für den Brief, He'sha. Sag deiner Mutter, dass Noak und ich nach Silita-Suan zurückkehren, sobald wir definitiv bestätigen können, dass es im Bergland von Sellei keine kranken Kaedin gibt.»
«Ich werde ihr das ausrichten. Aber zuerst müssen wir noch nach Atara, nachsehen, ob Tanàn inzwischen etwas herausgefunden hat.»
A'shei nickt. Sehr gut, so haben He'sha und Luok noch mehr Zeit, sich aneinander zu gewöhnen. Vielleicht überwindet der junge Mann dann auch allmählich seine Schwierigkeiten beim Gestaltwechsel. Im Moment ist es wohl besser, wenn er nicht zu oft unter Menschen kommt. Vermutlich wird in der magielosen Welt hinter dem Spiegel das Problem nicht so deutlich sichtbar. A'shei weiß genau, dass auch Tanàns Entsendung in Silàns Heimatwelt vor allem dazu dient, der jungen Frau eine selbständige Entwicklung zu ermöglichen. Noak räuspert sich und wendet sich an die jüngere Hrankae.
«Luok, wenn ihr von hier nach Atara fliegt, findet ihr einige geräumige Höhlen am Unterlauf des Keli. Aber sei vorsichtig, das Land dort herum ist dicht besiedelt und du wirst hoch fliegen müssen, wenn du es überquerst. Vielleicht lohnt es sich, zunächst in den Kalkhöhlen im Süden von Linar einen Tag zu schlafen und dann dem Girit flussaufwärts zu folgen. In seinem Tal gibt es viele gute Verstecke und die Nsilí oder Fledermäuse werden euch bestimmt aushelfen.»
Luok dankt der älteren Hrankae höflich, bevor sie He'sha einen aufforderndem Blick zuwirft. Dieser zögert nicht, auf ihren Rücken zu klettern. Noch bevor Luok abhebt, verschwimmen seine Konturen mit denjenigen des Drachenschattens.
A'shei und Noak sehen ihnen einen Moment schweigend nach, bevor der Tanna sich geübt auf Noaks breiten Hals schwingt und eine bequeme Stellung sucht. Mit kräftigen Flügelschlägen hebt die Hrankae ab. A'shei empfindet auch nach so vielen Jahren immer noch das gleiche Gefühl von Glück und Verbundenheit, das bestimmt auch He'sha und seine Luok teilen.

~ ~ ~

Beunruhigt hebt Talai eine Hand, um Dánirah am Weitersprechen zu hindern. Die Tanna lauscht aufmerksam hinaus in die Dunkelheit. Außer den Geräuschen des Windes ist nichts zu hören. Trotzdem legt sich das Angstgefühl nicht, das Talai gepackt hält. Sie zieht Senais Schal um die Schultern und späht durch den offenen Eingang der Hütte in den Schnee hinaus. Plötzlich flackert ihre Angst auf wie die Flamme einer Kerze. Ein kalter Schauer läuft ihr über den Rücken. Dánirah legt ihr beruhigend eine Hand auf den Arm und raunt ihr etwas ins Ohr. Talai muss sich anstrengen, um zu verstehen.
«Ich glaube, da draußen ist eine Dunkelheit. Ich spüre deutlich die Angst, die sie projiziert.»
Obwohl Talai weiß, was Dánirah meint, kann sie das beklemmende Angstgefühl nicht abschütteln. Sie ist noch nie einem Wesen der Nacht begegnet. Deshalb mischt sich ein Funken Neugier in die kalte Angst. Und plötzlich erkennt Talai, dass diese Angst künstlich ist, ein Einfluss, der von außen kommt und über den sie mit entsprechender Willensanstrengung hinwegsehen kann. In diesem Bewusstsein nähert sie sich vorsichtig dem Eingang des Unterstands, ihr Handeln nun allein von Neugier bestimmt. Dánirah folgt ihr mit dem Blick, ohne sich selber von der Stelle zu rühren. Talai ist zu sehr auf ihr Vorhaben konzentriert, um das wissende Lächeln auf dem Gesicht der Tanna zu bemerken.
Draußen ist es längst dunkel. Schneekristalle glitzern im blassen Licht der Sterne. Der abnehmende Mond wird erst viel später aufgehen. Das Licht des Feuers, das durch den offenen Eingang auf den Platz vor dem Unterstand fällt, wirft lange flackernde Schatten über den Schnee und die Felsen. In dem unsteten Licht kann Talai kaum etwas erkennen. Sie beugt sich deshalb weiter vor, bemüht, mit zusammengekniffenen Augen die Dunkelheit zu durchdringen.
Ein plötzliches Aufflackern der Angst lässt sie den Blick nach links wenden. Dort, am Fuß eines nur knapp vom Feuer erhellten Felsbrockens, verdunkelt ein tiefer Schatten den Schnee. Aus dieser Richtung kommen die Wellen der Angst, die immer wieder auf Talai einstürmen. Aber jetzt lässt sie sich von dem kalten Gefühl nicht mehr abschrecken. Vorsichtig nähert sie sich der Stelle. Kaum hat sie die Hütte verlassen und zwei Schritte auf den Felsen zu gemacht, löst sich der dunkle Schatten vor ihren Augen auf, scheint in eine Ritze zwischen Schnee und Fels zu fließen.
Talai hält enttäuscht einem Moment lang inne, bevor sie zu Dánirah in die Hütte zurückkehrt.
«Ich glaube, ich habe die Dunkelheit gesehen. Da war ein tiefer Schatten am Fuß eines Felsens, der sich bewegte und von dem dieses Angstgefühl ausging. Aber als ich mich näherte, löste er sich auf.»
«Wesen der Dunkelheit sind scheu. Sie lassen sich nicht gerne von Menschen sehen. Die Angst, die sie projizieren, soll helfen, uns von ihnen fernzuhalten.»
«Aber dieses hier hat ja gerade mit der Angst auf sich aufmerksam gemacht. Sonst wäre ich nie auf die Idee gekommen, mitten in der Nacht noch einmal hinaus in die Kälte zu gehen.»
Dánirah blickt mit schief gelegtem Kopf in die flackernden Flammen, die Stirn nachdenklich in Falten gelegt. Talai vermutet, dass mehr als nur ihre Bemerkung sie beschäftigt. Das bestätigt sich kurz darauf. Mit einem Seufzen richtet die Tanna sich auf.
«Ich habe über meinen letzten Traum nachgedacht, und etwas, was Silàn einmal erzählte. Bevor sie Königin wurde, dienten die kleinen Dunkelheiten ihrer Gegnerin, der gefährlichen Magierin Femolai. Krieg drohte damals das Land zu verschlingen. Eines Nachts begegnete Silàn einer Gruppe von Kaedin, die sich bewusst von ihr sehen ließen. Silàn nahm mit ihnen Kontakt auf. Kurz darauf stellten sich die kleinen Dunkelheiten auf ihre Seite. Was ist, wenn das Kae da draußen uns etwas zu sagen hat? Oder wenn es Hilfe braucht?»
«Das ist möglich, aber wenn es nicht näher kommt und sich mit uns verständigt, weiß ich nicht, wie wir herausfinden sollen, was es von uns will.»
Dánirahs Blick wandert vielsagend hinüber zu Talais Laute.
«Versuch es mit Musik. Ich habe schon gehört und gesehen, dass dies Wunder wirkt! Ich kenne eine Magierin, die sich mithilfe einer Flöte mit den Wesen des Lichts und der Dunkelheit unterhält.»
Talai verzichtet darauf, Dánirah daran zu erinnern, dass sie keinerlei magische Begabung besitzt. Sie kann sich nicht vorstellen, dass ein Wesen der Dunkelheit sie besucht, nur um ihrer Laute zu lauschen. Aber sie hat auch keine bessere Idee. Deshalb stimmt sie ihr Instrument und setzt sich an den Eingang des Unterstands, um eine leise Melodie zu spielen.
Ihre Finger werden rasch kalt und sie will den Versuch schon enttäuscht aufgeben, als sie wieder das aufflackernde Angstgefühl verspürt. Ohne ihr Lautenspiel zu unterbrechen, hebt sie den Kopf und späht hinüber zu dem Felsblock, wo sie vorhin den Schatten zu sehen glaubte. Tatsächlich, dort ist nun wieder eine konzentrierte Schwärze zu erkennen, die sich bewegt. Langsam kriecht die Dunkelheit in einer fließenden Bewegungen wie ein schwarzer Nebelfetzen auf Talai zu. Zu dem weißen Schnee steht das Schattenwesen in starkem Kontrast.
Ungefähr zwei Schritte von Talai entfernt hält es zögernd an. Es bildet eine Kugel von knapp eineinhalb Handspannen Durchmesser. Die junge Frau versucht, tief durchzuatmen, um das intensive Angstgefühl zu unterdrücken, das von der kleinen Dunkelheit ausgeht. Leise lässt sie ihr Lautenspiel verklingen. Ist es möglich, dass dieses Wesen die Angst, welche es ausstrahlt, selber empfindet? Vorsichtig streckt Talai eine Hand aus. Die Dunkelheit zittert leicht, zieht sich aber nicht zurück. Das Verhalten erinnert die Prinzessin an dasjenige eines jungen Hundes, der sich vor Menschen fürchtet, aber trotzdem etwas von ihnen will. Sie spielt nochmals einige sanfte Töne auf der Laute.
Das Kae rückt etwas näher, während Talai weiterspielt. Schließlich ist es nur noch eine Handspanne von ihrem Knie entfernt. Sie betrachtet das Wesen fasziniert im Licht des Herdfeuers. Es sieht tatsächlich aus wie eine Kugel aus schwarzem Rauch oder Nebel. Außen ist es beinahe durchscheinend, aber im Innern ist die Dunkelheit undurchdringlich. Weder Augen noch Ohren oder Gliedmaßen sind zu erkennen. Sehr langsam streckt Talai dem Schattenwesen die Hand entgegen. Es verharrt zitternd in ihrer Nähe, bis ihre Finger in die äußeren Schichten des Schattens eintauchen.
Überrascht zieht Talai die Hand zurück. Das Wesen ist warm, zumindest deutlich wärmer als die Luft. Zudem verspürte sie einen Moment lang eine tiefe Angst, die dieses Wesen dazu bewegte, die Nähe von Menschen zu suchen, Angst und noch etwas anderes. Während sie das Kae vorsichtig ein weiteres Mal berührt, flüstert sie Dánirah aufgeregt eine Anweisung zu.
«Es braucht Wasser. Kannst du mir den Topf vom Feuer reichen?»
Dánirah zögert nicht, mit einem Stock den kleinen Topf vom Herd zu heben. Mit langsamen, vorsichtigen Bewegungen tritt sie an Talais Seite und setzt das Gefäß vor dem Eingang in den Schnee. Das Kae zittert bei ihrem Näherkommen merklich, aber es behält Kontakt mit Talais Fingern. Sobald Dánirah den Topf abgesetzt hat, nähert es sich beinahe eilig dem dampfenden Gefäß. Verblüfft beobachten die beiden Frauen, wie das Kae einen Teil seines Schattenkörpers über den Topfrand lehnt und gierig das warme Wasser aufsaugt. Bald ist das Gefäß leer und Talai bedauert es, dass sie zunächst mehr Schnee schmelzen müssen, um dem Kae weiteres Wasser bereitstellen zu können. Aber Dánirah ist schon dabei, Schnee zusammenzupressen und den Topf wieder übers Feuer zu hängen. Das Kae drückt sich unterdessen beinahe schutzsuchend an Talais kalte Finger. Kurzentschlossen legt sie ihre Laute beiseite und hebt die kleine Dunkelheit mit beiden Händen auf, um sie in die Hütte zu bringen. Überrascht stellt sie fest, dass sich das Wesen pelzig anfühlt, weich und warm. Zudem scheint es seine Angst vor Talai überwunden zu haben. Zumindest bleibt es ruhig im Schoß der jungen Frau liegen, die sich wieder zu Dánirah ans Feuer setzt. Diese betrachtet das Kae nachdenklich.
«Ich habe noch nie gehört, dass sich Kaedin berühren lassen. Außer von Silàn, natürlich, aber sie ist immerhin die Königin der Nacht.»
«Es fühlt sich seltsam an, pelzig, als ob es unter den Schatten einen festen Körper besäße, der durch die Dunkelheit nur verschleiert wird.»
Talai streicht mit der Hand sanft durch den unsichtbaren Pelz der kleinen Dunkelheit. Mit einem leisen, kaum hörbaren Surren drückt sich das Wesen gegen ihre Handfläche. Dieses Verhalten erinnert die junge Frau an ein Kätzchen, das sie vor vielen Jahren besaß. Dánirah sieht den beiden lächelnd zu. Sobald der Schnee im Topf geschmolzen ist, gießt sie das Wasser in einen Becher, den sie dem Kae hinstellt. Sofort füllt sie den Topf ein weiteres Mal mit Schnee. Nachdem die kleine Dunkelheit den Becher geleert hat, klettert sie zurück in Talais Schoss.
«Es sieht fast so aus, als hättest du dich mit einem Kae angefreundet.»
«Ja, obwohl ich nicht genau weiß, was es von mir will. Ganz am Anfang, als ich es berührte, war mir klar, dass es Angst vor uns hat und dass es Wasser benötigt. Aber jetzt spüre ich nur eine schläfrige Zufriedenheit.»
«Ich bin sicher, es wird dir noch sagen, was es sucht. Dass du überhaupt mehr als nur Angst von ihm empfangen kannst, ist schon erstaunlich. Vielleicht findet es ja einen Weg, mit dir zu kommunizieren.»
«Vielleicht. Ich glaube, im Moment möchte es nur einen dunklen Ort, um sich auszuruhen.»
Mit der freien Hand zieht Talai ihre Tasche in die Nähe. Das Kae scheint sofort zu begreifen. Mit einer fließenden Bewegung löst sich seine Kugelgestalt auf und wie ein schwarzer Nebelfetzen windet es sich geschickt ins Innere der Tasche. Überrascht sehen die beiden Frauen zu. Dann steht Dánirah lachend auf, um ihre Teekräuter herauszusuchen. Während Talai ihre Laute einpackt, stellt sie der Freundin die Frage, die sie beschäftigt, seit sie das Kae heute zum ersten Mal sah.
«Denkst du, dass dies die Dunkelheit aus deinem Traum ist?»

~ ~ ~

Das Kae bemerkt nichts von der leisen Unterhaltung der beiden Frauen. Zufrieden rollt es sich in den Tiefen von Talais Tasche zusammen, zwischen ihrem zweiten Hemd und einigen Ersatzsaiten für die Laute. Es ist erleichtert, das Ziel seiner scheinbar hoffnungslosen Suche nach Hilfe erreicht zu haben. Endlich wieder mit genügend Flüssigkeit versorgt, fühlt es sich erstmals seit vielen Nächten gesund genug, um klare Gedanken zu fassen. Und diese Gedanken kreisen um das seltsame Sonnenkind, das bereit war, alle Vorurteile abzustreifen und einem Wesen der Dunkelheit Hilfe anzubieten.

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