Talai 3-9 Geschichten

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Geschichten

Talai betrachtet nachdenklich Laiàn, die zusammengerollt auf He'shas Pritsche schläft. Das kleine Mädchen wirkt erschöpft und blass, kein Wunder dass ihm bereits während dem Essen die Augen zufielen. Sie zieht vorsichtig eine Decke über den schmächtigen Körper und streicht dem Mädchen sanft über das schmutzige Haar. Die Sorge um das Kind hilft Talai, ihre eigene Krankheit in einem wesentlich zuversichtlichen Licht zu sehen. Vermutlich trägt dazu bei, dass sie sich für das Schicksal der beiden Kinder verantwortlich fühlt. Immerhin gaben sich die Diuneldí erhebliche Mühe, sie zu ihr zu führen. Sie wendet sich an den Jungen, der mit beiden Händen einen Becher Tee umklammert. Er sitzt dicht vor der Herdstelle und starrt in die Flammen.
«Wie lange wart ihr denn in den Bergen unterwegs? Deine Schwester sieht ziemlich mitgenommen und krank aus.»
«Laiàn ist nicht meine Schwester, wir haben uns zufällig in der Mine kennengelernt. Das war an dem Tag, als sie zum ersten Mal krank wurde. Ich habe sie gepflegt. Wir sind vor sechs Tagen geflüchtet, glaube ich. Zuerst hielten wir uns in der Nähe der Mine versteckt. Da gab es einen See mit Fischen und gutem Wasser. Dann machten wir uns auf den Weg, zum Glück gerade noch, bevor die Verfolger eintrafen. Das Diuneld und Ushin führten uns vier Tage durch die Berge.»
Talai mustert noch einmal die schlafende Laiàn, diesmal mit Respekt. Vier Tage sind eine lange Zeit für zwei Kinder in diesem Alter. Ushin folgt ihrem Blick.
‹Die beiden haben einiges durchgemacht. Ich frage mich, weshalb die Diuneldí sie zu uns brachten. Die Lichtwesen hatten bestimmt einen guten Grund.›
«Vielleicht glauben sie, dass die beiden hier in Sicherheit sind. Das Kae könnte die Verfolger vertreiben.»
‹Nur, wenn sie in der Nacht kommen. Es muss noch etwas anderes geben.›
Nachdenklich starrt nun auch Talai ins Feuer. Was könnte der Grund sein, dass Sorim und Laiàn ausgerechnet hierher geführt wurden? Gibt es etwas, das die beiden mit ihr gemeinsam haben? Sie kann nicht glauben, dass die Begegnung nur dem Zufall zuzuschreiben ist. Plötzlich fällt ihr etwas ein. Sie wendet sich an Sorim, dessen Augen inzwischen ebenfalls zufallen.
«Sorim? Du hast von der Mine erzählt und dass dort die Kinder krank werden. Sind das viele Kinder? Und wie verläuft ihre Krankheit?»
Der Junge blickt sie mit großen Augen an. Es wirkt beinahe, als wäre er erstaunt, dass sich überhaupt jemand für die Kinder interessiert. Erst nachdem er eine Weile nachgedacht hat, beantwortet er die Frage.
«In der Mine arbeiten fast nur Kinder, viele Dutzend. Früher waren wir in drei Schichten eingeteilt, jetzt sind es nur noch zwei, weil die meisten von uns krank geworden und gestorben sind. Manchmal bringen sie neue Kinder, aber nie genug und sie müssen erst lernen, das Erz richtig abzubauen. Deshalb schicken die Aufseher nun auch die Kranken zurück in die Stollen.»
«Und die Krankheit, was hat sie für Auswirkungen?»
«Wer die Krankheit bekommt, wird müde und kraftlos. Manche bleiben wie Laiàn einfach in einem Stollen liegen. Sie hatte Glück, dass ein netter Aufseher mir half, sie nach oben zu bringen. Danach lag sie viele Tage einfach im Bett. Sie wollte weder essen noch trinken. Da habe ich Wasser von meinem geheimen Platz geholt. Mein Großvater hat mir gesagt, dass Wasser von einem besonderen Ort sogar Krankheiten heilen kann. Bei Laiàn hat es geholfen. Aber ich konnte nicht allen Kranken helfen, es waren zu viele und ich musste weiter arbeiten. Viele sind inzwischen gestorben. Manche wurden nach einigen Tagen auch wieder gesund, aber niemand weiß, weshalb.»
Talai kann sich nur schwer die schrecklichen Verhältnisse vorstellen, in denen diese Kinder leben mussten. Sie betrachtet die abgetragene Winterkleidung Sorims. Er trägt drei zu große Hemden übereinander und auch die Hose ist mehrfach umgeschlagen. Sie braucht nicht zu fragen, woher diese Kleidungsstücke stammen. Laiàns Ausrüstung ist ähnlich unpassend zusammengesetzt.
«Es muss schlimm sein, was in der Mine passiert. Aber ihr seid jetzt in Sicherheit.»
Der Junge blickt sie mit großen, traurigen Augen an.
«Ich muss dorthin zurück, um den anderen Kindern zu helfen. Jetzt, wo Laiàn nichts mehr geschehen kann. Ich habe mir fest vorgenommen, sie in Sicherheit zu bringen und dann den anderen zu helfen.»

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