Talai 2-20 Morgenstern und Schattenflamme

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Morgenstern und Schattenflamme

Talai zuckt zusammen, als etwas nasskaltes ihre glühende Stirn berührt. Ihre Augen sind verklebt, und sie muss zuerst mühsam einen Arm aus der verwickelten Decke befreien, bevor es ihr gelingt, sie auszureiben. Sie blickt in zwei goldene Augen, in denen sich Besorgnis spiegelt. Die Augen gehören zum Gesicht eines grauen Wolfs, der sich über Talais Lager beugt. Erschrocken versucht sie, sich aufzurichten. Aber der Wolf legt ihr eine Pfote auf die Brust und drückt sie zurück auf ihr Lager. Seine Gedankenstimme ist klar verständlich.
‹Bleib liegen, Tochter des Morgensterns, du bist zu schwach, um aufzustehen. Ich werde Holz bringen und jagen. Kannst du Feuer entfachen?›
«Ushin? Wie hast du mich gefunden?»
Talais Stimme ist heiser und das Sprechen kratzt in ihrem Hals. Sie ist erleichtert, den jungen Wolf zu sehen. Jegliches Zeitgefühl ist ihr abhanden gekommen, aber durch den Eingang fällt Licht. Wo wohl das Kae ist? Hastig tastet sie nach ihrer Laute und ist beruhigt, als sie das vertraute Gewicht der kleinen Dunkelheit wahrnimmt. Ushin zeigt ihr ein Wolfslächeln.
‹Ich bin deiner Spur gefolgt. Das Kae führte mich das letzte Stück. Ruh dich aus, Talai, ich bin bald wieder da.›
Bevor sie dem Wolf antworten kann, ist dieser durch den niedrigen Eingang verschwunden. Es dauert nicht lange, bis er mit einem grossen, dürren Ast im Schlepp zurückkommt. Bald hat Ushin genug Holz herbeigeschafft, dass Talai ihr Feuer wieder anzünden kann. Während sie mit Stahl und Feuerstein hantieret, packt der Wolf mit den Zähnen ihren Kochtopf und geht nach draussen, um ihn mit Schnee gefüllt wieder zurückzubringen. Vorsichtig setzt er das Gefäss neben Talai ab.
‹So, nun gehe ich auf die Jagd. Versuche zu schlafen, bis ich zurückkomme.›
Talai nickt. Jetzt, wo das Feuer wieder brennt, beginnt sie zu schwitzen. Immerhin wird sie bald wieder Wasser haben. Nach Essen ist ihr wirklich nicht zumute. Aber sie will sich nicht beklagen. Ushin hat ihr heute schon viel geholfen. Erschöpft lässt sie sich auf ihr Lager und in einen unruhigen Schlaf sinken.

~ ~ ~

Sorim betrachtet hoffnungslos den leeren Teller. Wenn es ihm nicht bald gelingt, mehr Nahrung für sich und Lajàn zu finden, werden sie beide verhungern. Obwohl immer mehr Kinder in der Mine an der geheimnisvollen Krankheit sterben, gibt es für die Übriggebliebenen immer weniger Vorräte. Und wer nicht arbeitet, verliert das Recht auf Essen. Deshalb teilt er schon lange seine Ration mit dem Mädchen. Obwohl Lajàn kaum etwas zu sich nimmt, merkt Sorim inzwischen, dass ihm die Kraft fehlt, um seine Arbeit zu verrichten. Wenn er ebenfalls krank wird, werden sie beide sterben. Sein Blick wandert zu Lajàn, die niedergeschlagen auf ihrer Pritsche sitzt. Das Mädchen scheint seine Gedankengänge zu erraten.
«Wann musst du zurück in den Stollen, Sorim?»
Der Junge rechnet. Er ist eben erst von seiner Frühschicht gekommen und darf bis Mitte Nachmittag schlafen. Dann muss er bis Mitternacht zurück in die Mine. Aber er wagt nicht, an Schlaf zu denken.
«Hör zu, Lajàn, wir müssen hier weg. Wir bekommen nicht genug zu essen und die Aufseher haben letzte Nacht angefangen, auch die Kranken zurück in die Stollen zu treiben. Ich glaube nicht mehr, dass es hier in nächster Zeit besser wird. Inzwischen ist es wärmer und wir können versuchen, in den Bergen zu überleben.»
Das Mädchen sieht ihn mit großen Augen an.
«Geh, wenn du glaubst, dass du überleben kannst. Aber ich bleibe hier. Ich würde dich nur behindern. Ohne mich würde es dir hier viel besser gehen.»
«Das stimmt nicht, Lajàn. Es geht hier allen Kindern schlecht. Du hast daran keine Schuld.»
«Du teilst deine Rationen mit mir und holst regelmäßig für mich Wasser. Ich wäre längst tot, wenn du das nicht tun würdest. Aber es kostet dich zu viel Kraft. Du hättest mich sterben lassen sollen.»
Sorim schüttelt den Kopf. Wie kann Lajàn nur so denken. Sie hat ein Recht zu leben, so wie alle anderen Kinder hier. Wenn er könnte, würde er allen helfen. Zu sehen, dass es dem Mädchen in seiner Obhut schrittweise besser ging, trieb ihn in den letzten Monden an. Aber nun muss er eine Entscheidung fällen. Er will Hilfe suchen, für alle Kinder in der Mine. Allerdings kann er Lajàn nicht zurücklassen, sonst muss sie schon morgen zurück in die Stollen. Dafür ist sie nicht stark genug. Aber vielleicht schafft sie es, mit ihm bis zu seinem geheimen Platz aufzusteigen. Eilig beginnt er, ihre wenigen Besitztümer in eine alte Tasche zu stecken.
«Wenn du sterben willst, kannst du das auch mit mir in den Bergen tun. Komm, lass uns aufbrechen, jetzt wo alle schlafen oder in der Mine sind. Wir gehen hoch zu meinem Platz, dort wo ich für dich Wasser hole. Es wird uns die Kraft geben, die wir brauchen. Etwas weiter oben gibt es eine alte Hütte, wo wir die erste Nacht verbringen können.»
Lajàn scheint zu spüren, dass es ihm ernst ist. Ohne weitere Widerrede rollt sie ihre Decke zusammen und tut das gleiche mit Sorims Bettzeug. Er hat inzwischen die beiden Teller und den kleinen Kochtopf verstaut. Ohne Bedauern blickt er sich in dem kahlen Raum um, der sein Zuhause war. Als letztes holt er sein Messer unter der Strohmatratze hervor, seinen wichtigsten Besitz.
Leise öffnet Sorim die Tür. Der Platz vor der Hütte ist leer, die ganze Minensiedlung wirkt wie ausgestorben. Nur von der Küche drüben sind Stimmen zu hören. Er fasst Lajàn bei der Hand und führt sie geduckt bis zu dem Felssturz hinter den Abfallhaufen, wo der schmale Pfad zu seinem versteckten Tal beginnt. Zusammen verlassen sie ungesehen das Minengelände.

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