Talai 2-9 In die Wildnis

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In die Wildnis

Talai lässt Nonar hinter sich und zieht hinaus in Richtung der berüchtigten Hochebene von Gerin. Das Land verändert sich nur langsam. Am ersten Tag führt ihr Weg durch endlose Wälder, die sich kaum von der bisherigen Landschaft unterscheiden. Die Straße ist verhältnismäßig gut ausgebaut und Talai vermutet, dass sie vor allem der Holzwirtschaft dient, denn Felder, Weiden und Dörfer scheint es hier nicht zu geben. Das bestätigt sich bald, als sie ein großes Holzdepot erreicht und später eine Ansammlung von Hütten eines Holzfällerlagers. Obwohl aus einem Schornstein Rauch aufsteigt, hält sie nicht an. Sie will möglichst rasch vorankommen.
In Nonar besorgte sie so viele Vorräte, wie sie tragen kann, denn sie weiß, dass es von jetzt an schwierig wird, neue zu finden. Aber wenn sie zügig vorankommt, sollte sie an diesem ersten Reisetag in der Hochebene Abends noch einmal einen Weiler mit einem kleinen Gasthaus erreichen, in dem sie übernachten kann. Danach wird sie vermutlich für sehr lange Zeit auf sich allein gestellt bleiben.
Am nächsten Morgen bricht sie mit gemischten Gefühlen auf, die von gespannter Erwartung bis zu unterdrückter Angst reichen. Die Nacht war ruhig und erholsam, da ausser ihr keine anderen Gäste in dem abgelegenen Gasthaus übernachteten. Trotzdem spielte sie am Abend für die Einwohner des kleinen Weilers und verdiente sich damit ihre Übernachtung. Am Morgen füllte sie ihre Wasserflaschen und nun ist ihre Tasche schwer wie noch nie. Aber sie ist sicher, dass sie all die Vorräte brauchen wird, wenn sie Nirah erreichen will.
Zudem trägt sie nun einen Bogen, den sie in Nonar besorgte. Bisher hatte sie nie das Gefühl, dass eine solche Waffe sie schützen könnte. Obwohl sie gut mit Pfeil und Bogen umgehen kann, betrachtete sie diese Fähigkeit zuhause in Penira immer nur als angenehmen Zeitvertrieb. Nun, da sie in eine Gegend zieht, wo sie möglicherweise zum Überleben auf die Jagd angewiesen ist, fühlt es sich gut an, einen Bogen und einen mit Jagdpfeilen gefüllten Köcher zu besitzen.
Das Kae strahlte in der vergangenen Nacht freudige Ungeduld aus. Talai ist sicher, dass es der Meinung ist, sie habe sich richtig entschieden, weiter nach Süden zu reisen. Sie versteht allerdings nicht, weshalb die kleine Dunkelheit so überzeugt ist, dass sie nach Nirah reisen soll. Zusammen mit Danirahs Traum muss ihr aber die Zielsicherheit des Kae genügen, um die anstrengende Durchquerung der Hochebene von Gerin auf sich zu nehmen.

Die Landschaft wird im Lauf des zweiten Tages deutlich karger. Die Wälder, welche am Morgen noch dominierten, lichten sich, und das Land erscheint ihr zunehmend trockener. Ein kalter Wind setzt ein. Talai wickelt sich ihren warmen Tanna-Schal enger um den Hals und zieht sich die Kapuze tief ins Gesicht. Zum Glück kommen die heftigen Böen von schräg hinten, und es fühlt sich beinahe an, als wolle der Wind die einsame Wanderin mit aller Kraft auf ihrem Weg vorantreiben. Sie geht schnell, denn die Bewegung hilft ihr, sich warm zu halten.
Inzwischen ist Talai bereits so lange unterwegs, dass es ihr nichts mehr ausmacht, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang zu wandern, ohne ständig Pausen einzulegen. Manchmal fragt sie sich, ob sie sich überhaupt je wieder an ein geregeltes Leben im Palast von Penira gewöhnen wird. Dieser schien ihr, trotz seiner Größe, bereits vor diesem Abenteuer oft zu eng, und sie suchte immer wieder Möglichkeiten, den mächtigen Mauern zu entfliehen. Ob dies auch ein Grund ist, warum sie sich auf diese seltsame Mission einliess? Nun, im Moment lohnt es sich nicht, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Sie ist jetzt hier und wird ihren Weg zu Ende gehen, wohin er sie auch führt.
Am Mittag macht sie nur eine kurze Rast. Es lohnt sich nicht, lange sitzen zu bleiben und den Körper auskühlen zu lassen. Ein Feuer will sie erst am Abend anzünden, wenn sie Schnee schmelzen muss, um ihren Wasservorrat zu ergänzen und die Wärme braucht, um die Nacht zu überleben. Sie verzehrt etwas von ihren Vorräten. Das Brot ist bereits trocken, aber der Käse, den sie in Nonar kaufte, schmeckt lecker. Bald macht sie sich wieder auf den Weg. Dieser ist zum Glück mit Kegeln aus aufgeschichteten Steinen markiert, die in regelmäßigen Abständen aus dem Schnee der letzten Nacht ragen. Sonst hätte sie bestimmt Mühe, nicht von der Richtung abzuweichen. Sie scheint seit Tagen die einzige Person zu sein, die hier entlanggeht. Zumindest findet sie keine Spuren im Schnee.
Am späten Nachmittag stößt die auf eine frische Fährte, die ihren Weg kreuzt. Die kleinen Abdrücke sind unverkennbar, sogar für Talai. Sie zögert zuerst, sich von ihrer Richtung abzuwenden. Aber der Gedanke an den langen Weg, der noch vor ihr liegt, ermahnt sie, keine Gelegenheit unbenutzt verstreichen zu lassen. Entschlossen begibt sich die Prinzessin von Kelèn zum ersten Mal auf Kaninchenjagd.

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