Talai 3-10 Eine Theorie

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Eine Theorie

Als voraus endlich der Talkessel auftaucht, in dem Talai wartet, ist Mitternacht längst vorbei und der Mond am untergehen. Luok verlangsamt ihren Flug und lässt sich tiefer sinken. He'sha ist froh, dass sie zurück sind. Er lässt seinen Blick über die Gegend schweifen, zufrieden mit der Wahl ihres Verstecks. Hier wird bestimmt niemand Talai finden und belästigen. Er ist je länger je mehr überzeugt, dass die junge Frau etwas zur Rettung der Kaedin beizutragen hat. Luok sendet ihm ein bestätigendes Gedankenbild. Sie ist der gleichen Meinung. Was genau Talais Beitrag sein wird, ist ihnen beiden allerdings noch unklar.
Plötzlich zieht Luok in einer unerwartet scharfen Kurve nach links. He'sha verliert einen Moment beinahe das Gleichgewicht, obwohl ihn in seiner Schattenform kaum etwas von der Hrankae trennen kann.
«Was ist los, Luok?»
‹Schhh, ich habe eine Bewegung gesehen, da drüben, etwas oberhalb der Hütten.›
He'sha strengt seine Augen an. Tatsächlich, da bewegt sich etwas. Ein schwarzer Schatten nähert sich langsam durch den Schnee den Häusern. Er benutzt seine Gedankenstimme.
‹Kann das Ushin ein?›
‹Der Wolf hätte uns längst erkannt und begrüßt. Nein, das sind Menschen. Was sie hier wohl vorhaben, mitten in der Nacht?›
Da empfängt He'sha etwas, das sich wie die projizierte Angst eines Kae anfühlt. Luok spürt es gleichzeitig.
‹Das Kae versucht, Talai zu beschützen. Es hält die Fremden für eine Bedrohung.›
He'sha antwortet nicht. Luok weiß auch so, dass er alles daran setzen wird, jede Gefahr von Talai fernzuhalten. Er lässt sich noch tiefer in seine Schattenform sinken und verschmilzt beinahe mit der Hrankae, als diese zu einem Sturzflug ansetzt. Im Näherkommen erkennt er das Ziel des spontanen Angriffs. Drei dick vermummte Gestalten nähern sich verstohlen der Alpsiedlung. Sie werden von einem struppigen Spürhund begleitet, der als einziger den herankommenden Drachenschatten zu bemerken scheint. Er bleibt mit gesträubtem Fell stehen und knurrt warnend. Ein Mann zischt ihm zu, ruhig zu sein, ohne selbst die herankommende Gefahr zu bemerken. Mindestens zwei der Fremden halten gespannte Bögen, der dritte ein Schwert. Dies bestätigt He'sha, dass ihre Absichten nicht freundlich sind. Bei diesem Gedanken schnaubt Luok verächtlich und lässt sich bis tief über den Schnee fallen. Dort beginnt sie einen erbarmungslosen Angriff. Ein kräftiger Feuerstoß aus ihrem Rachen kündigt ihre Anwesenheit unmissverständlich an.
He'sha, der seine Freundin noch nie eine solche Menge Feuer ausstoßen sah, ist beinahe genauso überrascht wie die Fremden. Auf diese muss der Angriff völlig unerklärlich wirken, da sie Luok bestenfalls als dunklen Schatten wahrnehmen können. Sie weichen zurück und bleiben dicht aneinandergedrängt stehen, die Waffen erhoben. Der Hund sucht winselnd das Weite, ohne auf die verzweifelten Befehle seines Meisters zu hören. Aber das genügt Luok nicht. Sie landet im Schnee vor der verängstigen Gruppe. Ihre Anweisung an He'sha ist knapp.
‹Geh, sieh nach, wie es Talai geht. Sag dem Kae, ich könnte seine Hilfe brauchen, um diese Menschen wegzujagen.›
He'sha zögert nicht. Er weiß, dass die Wesen der Nacht mit solchen Situationen besser zurechtkommen als er. Schnell rennt er durch den Schnee auf die Häuser zu, immer noch in seiner Schattenform. Auf halbem Weg kommen ihm das Kae und Ushin entgegen. Der Wolf hält an seiner Seite an.
‹Das Kae hat mich geweckt. Ich war zwei Tage unterwegs und erschöpft, deshalb schlief ich in der Hütte bei Talai und den Kindern. Das sind die Verfolger der beiden, die sie einfangen wollen. Zum Glück seid ihr gerade rechtzeitig zurückgekommen, Luok und du. Das Kae und ich hätten sie wohl heute Nacht verjagen können. Aber sie wären bestimmt morgen früh wiedergekommen. Tagsüber ist das Kae machtlos. Sie sind hartnäckig. Talai ist gut mit einem Bogen, aber gegen vier Angreifer könnten wir kaum bestehen.›
He'sha versteht nur die Hälfte von dem, was der Wolf ihm sagt. Er blickt hinauf zu der Stelle, wo Luok und die kleine Dunkelheit die Fremden mit Wellen der Angst und des Feuers weiter zurücktreiben, den Hang hinauf. Luok fliegt immer wieder hoch, um aus einem neuen Winkel anzugreifen. Auf die verängstigten Menschen muss das wirken, als seien mindestens drei feuerspeiende Wesen hinter ihnen her. He'sha wendet sich Ushin zu.
‹Von welchen Kindern sprichst du?›
‹Das ist eine lange Geschichte. Die Diuneld führten sie zu uns. Sie sind aus einer Mine ausgerissen, irgendwo im Osten in den Bergen. Das Mädchen ist krank, und der Junge wollte es in Sicherheit bringen. Vielleicht hoffen die Diuneldí, Talai könnte ihnen helfen.›
Das ist eine sehr seltsame Entwicklung. Nicht nur die Wesen der Nacht, auch diejenigen des Tages setzen ihre Hoffnungen also auf Talai Morgenstern. Am liebsten würde He'sha die junge Frau sofort zur Rede stellen. Ushin scheint diesen Gedanken aufzufangen.
‹Sie schlafen, alle drei. Wir sollten sie nicht stören. Du kannst sie morgen fragen, aber ich glaube nicht, dass sie eine Antwort weiß.›
Der junge Mann nickt. Ushin hat natürlich recht. Aber es ist an der Zeit, dieser Sache auf den Grund zu gehen. Und falls diese Fremden morgen zurückkommen, werden sie nicht nur mit Talais Bogen und Ushins Zähnen rechnen müssen. He'sha ist bereit, seine Freunde auch mit Schattenmagie zu verteidigen.

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