Talai 3-8 In Sicherheit

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In Sicherheit

Der Rückweg zu der Alp, auf der Talai wartet, wird lang. Ushin, der den Weg kennt, könnte ihn auf seiner eigenen Spur wesentlich schneller zurücklegen. Aber Sorim und Laiàn sind müde und erschöpft. Trotzdem stapfen sie hartnäckig weiter. Der junge Wolf ist überrascht, wieviel Ausdauer die beiden an den Tag legen. Die Nacht verbringen sie in einer kleinen Höhle, in der die beiden Kinder gerade Platz finden. Es ist kalt, aber immerhin sind sie vor dem Wind geschützt. Ushin jagt, während die beiden eng zusammengekuschelt Schlaf suchen. Als er zurückkommt, rollt er sich dicht neben den kleinen, zitternden Körpern zusammen. Bald entspannen Sie sich und schlafen ruhig. Am Morgen verlässt der Wolf das Versteck, bevor die beiden aufwachen.
Am Nachmittag des zweiten Tages stolpert Laiàn immer öfter und manchmal fällt sie lang hin. Jedesmal rappelt sie sich wieder auf, aber Ushin erkennt, dass sie am Ende ihrer Kräfte ist. Er beginnt, neben dem Mädchen herzugehen, obwohl das im weichen Schnee anstrengend ist. Zunächst ist Laiàn, die dem Wolf immer noch misstraut, zurückhaltend und wirft ihm ängstliche Seitenblicke zu. Aber als sie das nächste Mal stolpert, hält sie sich instinktiv an seinem Rückenfell fest. Bald gewöhnt sie sich daran, ihn als Stütze zu benutzen und sie kommen zügiger voran.
Trotzdem ist Ushin froh, als eines der Diuneldí zu ihnen zurückkehrt. Die Augen des Mädchens leuchten auf und es scheint aus der Anwesenheit des Lichtwesens neuen Mut zu schöpfen. Ushin schüttelt verständnislos den Kopf. Aber er ist froh, dass Laiàn wieder mehr ihres eigenen Gewichts trägt. Sorim, der ihre Reaktion ebenfalls beobachtet, lächelt Ushin zu. Dieser blinzelt überrascht. Offenbar hat der Junge seine anfängliche Angst vor ihm abgelegt. Das ist gut, den sie werden kurz nach Sonnenuntergang den Talkessel erreichen, in dem Talai wartet. Der Wolf wagt sich nicht vorzustellen, wie Laiàn auf die Anwesenheit eines Kae und eines Drachenschatten reagieren wird. Bestimmt wäre es besser, am Tag und in Begleitung eines Diuneld dort anzukommen. Aber das wird  heute kaum mehr zu schaffen sein.
Endlich erreichen sie den letzten Pass. Tief unter ihnen liegt im Abendlicht der Talkessel mit der vertrauten Alp. Aus dem Kamin von Talais Hütte kräuselt sich Rauch. Ushin ist erleichtert, dieses Lebenszeichen zu sehen. Entschlossen beginnt er den langen Abstieg. Aber bereits nach wenigen Schritten bemerkt er, dass die Kinder ihm nicht folgen. Er bleibt stehen und blickt zurück, besorgt dass sie aus Angst zurückbleiben. Aber das kann nicht der Grund sein. Sorim strahlt übers ganze Gesicht, als er seine Tasche absetzt und kontrolliert, ob sie gut zugebunden ist. Laiàn tut das gleiche, dann setzt sie sich auf ihr Gepäckstück. Sorim nickt ihr aufmunternd zu und schon rutscht sie mit großer Geschwindigkeit talabwärts.
Ushin beobachtet entsetzt, wie sie sich am flach auslaufenden Hangfuss mehrmals im Schnee überschlägt und unweit der Hütten liegenbleibt. Diesen Moment wählt Sorim, um sich abzustoßen und seiner Freundin zu folgen. Der Wolf schüttelt den Kopf und trabt den beiden unvorsichtigen jungen Menschen in seinem eigenen Tempo hinterher.

~ ~ ~

Talai wälzt sich unruhig auf ihrem Lager. Sie kämpft wieder mit Fieber und den dazugehörigen Träumen. Es ist längst nicht so schlimm wie vor einigen Nächten, aber nun versteht sie, was He'sha meinte, als er behauptete, sie zehre von seiner Schattenmagie. Inzwischen bedauert sie, dass sie ihren neuen Freund ziehen ließ. Zu gern würde sie noch etwas von seiner Schattenmagie profitieren, wenn sie sich dafür nicht so schlecht fühlen würde.
Der junge Mann wollte seine Schwester in Atara besuchen. Offenbar hatte er schon lange mit ihr einen Termin vereinbart. Talai bestand darauf, dass er ihn wahrnehmen sollte, obwohl er ihr mehrmals anbot, bei ihr zu bleiben. Nun hofft sie, dass er sich beeilt und rasch zu ihr zurückkehrt. Die Hütte ist einsam, ohne ihn, Luok und Ushin. Zudem brennt sie darauf, ihren neuen Freunden vom Besuch Silimras und des Ijenkae zu berichten.
Da sie ohnehin nicht schlafen kann, beschließt Talai aufzustehen. Sie zieht ihre Jacke an und tritt an die Tür. Draußen steht die Sonne schon tief und wirft ihre goldenen Strahlen über den Bergkamm im Westen. Talai schließt die Augen und lässt sich einen Moment lang das Gesicht wärmen. Dann beginnt sie, neues Holz von dem Stapel neben der Tür ins Hütteninnere zu schaffen. Zuletzt füllt sie zwei der großen Töpfe aus der Küche mit Schnee, damit sie in der Nacht nicht noch einmal nach draußen muss. Schließlich setzt sie sich erschöpft auf die Bank beim Eingang, um die letzten Sonnenstrahlen zu genießen. Sie lehnt den Kopf gegen das sonnenwarme Holz der Hüttenwand und atmet tief durch. Sie ist erschöpft, aber trotzdem fühlt sie sich besser. Das Fieber, das sie tagsüber quälte, hat etwas nachgelassen.
Plötzlich lässt ein zischendes Geräusch sie erschrocken auffahren. Hinter der Hütte passiert etwas, kommt etwas schnell näher. Vorsichtig späht Talai um die Hausecke. Sie wird Zeuge, wie ein dunkles Bündel mit rasender Geschwindigkeit über den verschneiten Hang auf die Häusergruppe zurutscht. Dort, wo der Hang flacher wird, überschlägt es sich mehrfach und bleibt in einer Schneewolke liegen. Talai hört entferntes Lachen.
Was ist, wenn das der Besitzer der Hütte ist, die sie ohne Erlaubnis benutzt? Aber weshalb sollte jemand im Winter den Pass überqueren? Normalerweise werden solche Alpen vom Tal aus bewirtschaftet und nur im Sommer bewohnt. Vielleicht ist das jemand auf der Durchreise und sie kann sich verbergen, bis er weiterzieht. Suchend blickt sie sich nach einem geeigneten Versteck um. Da fällt ihr der Rauch auf, der aus dem Kamin der Hütte kräuselt. Dieser macht bestimmt jedem Besucher sofort klar, dass jemand auf der Alp lebt. Sich zu verstecken ist damit sinnlos. In diesem Moment rutscht eine zweite Person in einer weißen Wolke den Hang hinunter. Als sie aufsteht und sich lachend den Schnee von den Kleidern klopft, erkennt Talai, dass es sich um ein Kind handelt. Es stapft durch den Schnee zu der Stelle, wo die erste Person immer noch liegt, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Auch das ist ein Kind. Suchend blicken die beiden den Hang hinauf, der von den letzten Sonnenstrahlen beleuchtet wird. Talai folgt mit den Augen dem ausgestreckten Finger der größeren Gestalt.
Über dem Schneefeld tanzt ein Diuneld näher und ein Stück weiter oben, gegen den Grat hin, kann sie einen laufenden Vierbeiner erkennen. Jäh schöpft sie Hoffnung, als sie das graue Fell im Licht der Abendsonne erkennen kann. Wenn das Ushin und ein Diuneld sind, werden die Fremden wohl kaum eine Gefahr darstellen. Trotzdem verharrt sie im Schutz der Hütte, bis sie ganz sicher ist, dass sich wirklich ein Wolf nähert. Natürlich kann sie auf diese Distanz nicht erkennen, ob es Ushin ist. Aber bald kann sie seine Gedankenstimme vernehmen, die nach ihr ruft. Erleichtert tritt sie um die Ecke der Hütte herum und läuft dem Freund entgegen.
Die Sonne versinkt hinter dem Horizont und der Funkenwirbel des Diunelds verblasst. Aber Talai hat nur Augen für den heranstürmenden Wolf. Einige Schritte vor ihm lässt sie sich im Schnee auf die Knie fallen. Ushin hält erst dicht vor ihr an und sie legt ihm stürmisch die Arme um den Hals, erleichtert, dass zumindest einer der vermissten Freunde zurückgekehrt ist.
‹Es ist gut, wieder hier zu sein. Wie geht es dir, Morgenstern?›
«Jetzt, wo du wieder da bist, geht es mir schon viel besser.»
Bei diesen Worten befreit sich Ushin aus der Umarmung, um Talai kritisch zu mustern. Er drückt ihr sogar kurz seine kalte Nase auf die fieberwarme Stirn. Seine goldenen Augen spiegeln Besorgnis.
‹Du hast Fieber. Du solltest dich hinlegen. Wo ist He'sha?›
«Noch nicht zurück. Er besucht seine Schwester in Atara. Das Fieber lässt schon wieder nach.»
Mit einem Blick auf die beiden Kinder, die verunsichert und schüchtern abseits stehen, fügt sie eine Frage hinzu.
«Wen hast du mitgebracht?»
‹Das sind Laiàn und Sorim. Diuneldí führten uns zusammen. Sie baten mich, die beiden zu dir zu bringen. Aber du weißt, wie diese Lichtwesen sind, sie sprechen eine eigene Sprache, die ich nur bruchstückhaft verstehe. Am besten fragst du die beiden selbst, warum sie von Funkenwirbeln durch die Berge geführt werden.›
Genau das beschließt Talai zu tun. Sie steht auf, kann aber nicht verhindern, dass sie dabei schwankt. Besorgt drängt sich Ushin heran, um sie zu stützen. Sie krault ihm das Nackenfell.
«Es geht schon. Mir ist nur etwas schwindelig. Ich hätte nicht so schnell laufen sollen. Lass uns die beiden zur Hütte bringen, damit ich mich hinsetzen kann.»
Langsam geht sie auf die Besucher zu. Diese wirken erschöpft und verängstigt. Talai setzt ein freundliches Lächeln auf.
«Willkommen! Mein Name ist Talai. Ushin und ich begrüßen euch in unserem Lager. Mögt ihr mit in die Hütte kommen? Das Wasser für Tee kocht bestimmt bald.»
Schweigend werfen die beiden Kinder sich einen Blick zu. Dann tritt der Junge, der etwas jünger ist, einen Schritt vor.
«Das ist Laiàn und ich bin Sorim. Wir würden gerne in dein Haus kommen.»
«Nun, ich bin hier auch nur zu Gast. Aber was ich euch anbieten kann, will ich gerne tun. Kommt mit, drinnen ist es warm.»
Die beiden sammeln ihr Gepäck auf und folgen Talai und Ushin in die Hütte. Dort schälen sie sich aus ihren nassen, schneeverkrusteten Sachen, um sie beim Feuer aufzuhängen. Talai streut unterdessen Kräuter aus ihrem rasch schwindenden Vorrat ins Teewasser. Zum Glück ist noch Suppe und etwas von Luoks letzter Jagdbeute da, so müssen ihre beiden kleinen Gäste wenigstens nicht hungern.
Bald sitzen die drei an dem grob gezimmerten Tisch der Hütte und löffeln schweigend ihre Suppe, während Ushin bei der Feuerstelle ein Stück Fleisch verzehrt. Talai kann unschwer erkennen, dass auch der Wolf erschöpft ist.
«Nun, erzählt mir was euch mitten im Winter hierher bringt.»
Sorim und Laiàn blicken sich an. Dann öffnet das Mädchen schüchtern den Mund.
«Die Diuneldí und der Wolf führten uns. Wir wussten nicht, dass sie uns zu dir bringen.»
«Wie kommt es, dass ihr überhaupt zu dieser Jahreszeit in den Bergen unterwegs seid?»
Diesmal ist es der Junge, der antwortet. Seine Stimme hat einen trotzigen Beiklang.
«Wir sind geflüchtet, aus der Mine von Hilak. Alle Kinder dort werden krank und viele sterben. Nun haben sie begonnen, auch die Kranken jeden Tag in die Schächte zu schicken, weil sonst nicht genügend Erz gefördert wird. Laiàn hatte schon einmal einen Rückfall und endlich ging es ihr wieder etwas besser. Dann wurde für die Kranken das Essen gestrichen. Nur wer arbeitet, erhält noch Nahrung. Deshalb sind wir weggelaufen.»
Talai ist sprachlos. Sie hat schon viel von den reichen Minen von Hilak gehört. Das sind die wichtigsten Silberminen des Landes, die sowohl Kelèn wie auch Lellini mit hochwertigem Silber beliefern. Hilak-Silber steht für gute Qualität. Sie hätte sich allerdings nie träumen lassen, dass das wertvolle Metall von Kindern abgebaut wird, die jünger sind als ihr kleiner Bruder. Sie versucht sich vorzustellen, wie das Leben dieser Kinder wohl aussehen mag. Plötzlich fällt ihr etwas ein.
«Du sagst, ihr seid weggelaufen. Werdet ihr verfolgt?»
Sorim und Laiàn sehen sich einen Moment lang schweigend an. Es kostet das Mädchen sichtlich Überwindung, zu antworten.
«Wir glauben schon, wir haben drei Männer mit einem Hund gesehen. Aber das war vor einigen Tagen. Vielleicht haben sie aufgegeben.»
«Ushin, was denkst du? Müssen wir auf der Hut sein?»
‹Ich habe keine Verfolger gesehen. Aber das bedeutet nichts, ich wusste ja nicht, dass die beiden gejagt werden. Ein Hund kann unserer Spur bestimmt leicht folgen.›
Talai überlegt, was sie tun soll. Einmal mehr wünscht sie, He'sha und Luok wären hier. Da fällt ihr Blick auf das Kae, das die Laute leise verlassen hat und nun ruhig zusammengerollt neben Ushin liegt. Es strahlt nur Ruhe aus, wohl um die beiden Kinder nicht zu verängstigen. Aber Talai weiß aus Erfahrung, was die kleine Dunkelheit alles vermag. Wenn sie zusammenarbeiten, sind sie nicht so schutzlos, wie das vielleicht scheinen mag.

~ ~ ~

He'sha wartet ungeduldig auf seine Schwester. Es war vereinbart, dass sie ihn drei Nächte vor Vollmond bei Dánan treffen sollte. Nun ist Mitternacht nahe und Tanàn ist noch nicht aufgetaucht. Inzwischen ist es zu spät, um noch in dieser Nacht zu Talai zurückzukehren. Luok ist deshalb allein aufgebrochen, um zu jagen. Er wird wohl oder übel einen weiteren Tag in Atara verbringen müssen. Das passt dem jungen Mann überhaupt nicht. Er sorgt sich um Talai, die noch nicht gesund genug ist, um allein zurechtzukommen. Hoffentlich ist Ushin inzwischen zu ihr zurückgekehrt. Die Schattenwandlerin Dánan schenkt ihm Tee nach und setzt sich auf die andere Seite des Tischs.
«Sie kommt bestimmt bald, mach dir keine Sorgen.»
«Ich mache mir keine Sorgen um Tanàn, sondern um das kranke Mädchen, das ich in Nirah zurückließ. Sie ist noch zu schwach, ich muss zu ihr zurück.»
«Das ist eine wichtige Verpflichtung. Ist sie die junge Frau, der du am Brunnen von Sié begegnet bist?»
«Ja. Als ich sie fand, war sie krank und dem Tod nahe. Das Kae und ein Wolf hatten sie gepflegt, so gut es ihnen möglich war. Aber das reichte nicht, ich musste Schattenmagie einsetzen.»
Bevor Dánan antworten kann, streckt ihr junger Schüler seinen blonden Wuschelkopf in die Küche.
«Dánan? Ich glaube da kommt jemand durch das Tal hinauf.»
«Danke Kerim, das ist bestimmt Tanàn, auf die wir warten. Komm, setzt dich zu uns, wenn du nicht schlafen kannst.»
Sie holt zwei weitere Becher und schenkt ein. He'sha lächelt dem Jungen zu. Wenn er nicht von der Schattenwandlerin wüsste, dass dies der jüngste Sohn des Sonnenkönigs von Kelèn ist, wäre er nie drauf gekommen. Der Junge wirkt schüchtern und zurückhaltend, aber er zeigt eindeutig eine große magische Begabung. Früher wäre He'sha vielleicht eifersüchtig darauf gewesen. Heute ahnt er, dass seine Bestimmung nicht diejenige eines Schattenwandlers ist.
Es dauert nicht lange, bis es an der Tür klopft. He'sha steht auf, um Tanàn hereinzulassen. Die junge Frau umarmt ihn herzlich.
«He'sha, schön dich zu sehen. Wie geht es zuhause?»
«Ich war schon ewig nicht mehr in Silita-Suan, andere Dinge sind im Moment wichtiger. Wann kehrst du dorthin zurück? Ich habe vom Tod von Senai erfahren. Jemand sollte das Vater berichten.»
Tanàn seufzt. Sie begrüßt Dánan und Kerim und setzt sich an den Tisch.
«Ich denke, es ist Zeit, dass ich nach Hause reise. Ich habe eine interessante Zeit bei den Verwandten unserer Mutter verbracht, aber ihre Welt ist nicht die meine und ein Heilmittel für die Krankheit der Kaedin und Menschenkinder gibt es dort auch nicht. Mutter hat versprochen, zum Frühlingsvollmond Salik zu schicken. Das ist in drei Tagen. Gibt es noch andere Dinge, von denen ich zuhause berichten sollte?»

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