Drittes Buch
Am Rande der Nacht
Abendlicht
Die nächsten Tage ziehen wie ein Traum an Talai vorbei. Wenn sie erwacht, liegt entweder Ushin oder das Kae dicht neben ihr. Oft sitzt auch der junge Mann von Sié in dem eng gewordenen Unterstand. Das kleine Feuer brennt fast ohne Unterbrechung und es gibt immer genügend Holz und frisches Wasser oder sogar Tee und nahrhafte Suppe. Meist schläft sie erschöpft wieder ein, bevor sie sich aufraffen kann, dem Besucher Fragen zu stellen. Und wenn sie dazukommt, bekommt sie seine Antworten nicht mit. Er scheint besorgt um ihre Gesundheit, aber sie empfindet ihm gegenüber immer noch Misstrauen. Ganz anders das Kae und Ushin, die sich an seiner Anwesenheit nicht stören. Trotz aller Bedenken lässt sie sich widerwillig von dem jungen Mann helfen, wenn sie für ein wichtiges Geschäft den Unterstand verlassen muss. Sie ist inzwischen zu schwach, um selbständig zu gehen.
An einem späten Nachmittag erwacht sie und fühlt sich zum ersten Mal etwas besser. Die Abendsonne schickt goldenes Licht schräg durch den Eingang des Unterstands und Talai verspürt plötzlich Lust, hinauszugehen. Sie sieht sich prüfend um. Das Kae schläft noch in seinem Lautenversteck. Ushin liegt friedlich zusammengerollt neben der Feuerstelle. Sobald sie sich regt, bewegt er lauschend die Ohren.
«Ushin? Ich gehe nach draußen, frische Luft schnappen.»
Sofort ist der Wolf auf den Beinen. Talai krabbelt auf allen vieren zum Eingang. Draußen lehnt sie sich gegen die Mauer des Unterstands. Die Steine sind von der Sonne angenehm warm und der Boden unter dem Felsdach trocken. Inzwischen ist auch der Hang unter dem Felsband in weiten Teilen schneefrei. Ushin setzt sich neben sie. Die Besorgnis steht ihm ins Gesicht geschrieben.
‹Wie geht es dir? Hast du Hunger?›
«Danke, es geht mir gut. Zumindest besser als seit einer ganzen Weile. Es tut gut, an der Sonne zu sitzen.»
‹Der Frühling kommt. Ich bin froh, dass die Sonne unsere Spuren im Schnee gelöscht hat. So haben wir keinen unerwarteten Besuch bekommen, während du krank warst.›
Talai mustert den jungen Wolf nachdenklich. Hat sie nur davon geträumt, dass ein Mann in ihrem Versteck war? Sie kann sich nicht an sein Gesicht erinnern. Vielleicht hat sie sich das alles in ihren Fieberfantasien eingebildet.
«Ich habe von einem Mann geträumt...»
‹He'sha? Der war kein Traum. Er ist ein Schattenwandler und hat dir geholfen.›
«Ein Schattenwandler? Wie Dánan?»
Ushin nickt. Es fällt Talai schwer, sich das vorzustellen. Der Mann muss wohl älter sein, als sie zunächst meinte. Gedankenverloren blickt sie hinaus ins Tal. Weit unten am Hang kann sie den Weg erkennen, dem sie in jener schlimmen Nacht folgte. Wenn das Kae sie nicht zu diesem Unterschlupf gebracht hätte, wäre sie damals im Schnee erfroren.
«Ich bin froh, dass ihr mir geholfen habt, das Kae, du und dieser He'sha. Ist er wieder weg?»
‹Er holt Holz für die Nacht. Inzwischen gibt es keines mehr in der Umgebung. Luok brachte gestern einen dürren kleinen Baum, aber das wird nicht reichen.›
«Wer ist Luok?»
‹Eine Hrankae. Erinnerst du dich nicht?›
Talai kann sich beim besten Willen nicht erinnern. Sie hat aber den Ausdruck schon gehört. Eigentlich müsste sie wissen, was das ist. Kae bedeutet Dunkelheit und Hran - was war das doch gleich? Bevor ihr die korrekte Übersetzung einfällt, lässt das Geräusch eines rollenden Steins sie zur Seite blicken. Entlang des Felsbands nähert sich ein junger Mann mit einem Armvoll Holz. Neugierig mustert Talai den Fremden. Jetzt fällt ihr wieder ein, wie sie ihm am Brunnen von Sié zum ersten Mal begegnete. Langes, schwarzes Haar fällt ihm offen über die Schultern. Darin haben sich Tannennadeln und einige kleine Zweige verfangen. Seine Augen sind braun oder fast schwarz. Entweder ist er stark von der Sonne gebräunt oder seine Haut ist natürlich dunkel. Er muss ungefähr in Talais Alter sein, zumindest sieht er so aus. Seine zweckmäßige Winterkleidung besteht aus dickem Tuch und Leder. Sie ist abgenutzt, aber doch in deutlich besseren Zustand als ihre eigene Ausrüstung. Am meisten beneidet ihn Talai um ein Paar fast neu aussehende stabile Lederschuhe. Die werden bestimmt nicht ständig vom Schnee und Wasser durchweicht.
Der junge Mann lächelt Talai zu, deponiert sein Bündel Holz beim Eingang des Unterstands und setzt sich neben sie gegen die Mauer. Vorsichtig zupft er einen Zweig aus seinem Haar.
«Es geht dir offenbar endlich besser. Zum Glück, inzwischen gibt es im weiten Umkreis kein brauchbares Brennholz mehr. Außerdem liegt dein Versteck gefährlich nahe an einem Weg der Menschen. Wir sollten einen besseren Ort suchen.»
Talai findet diese Bemerkung befremdlich. Weshalb sollte sie sich verstecken? Das beste wäre wohl, so rasch als möglich in das Gasthaus in Tenar zurückzukehren. Bestimmt wird die Wirtin sie einige Tage beherbergen, bis sie ganz gesund ist. Ushin scheint zumindest einen Teil dieser Gedanken aufzufangen. Entsetzt sieht er Talai an.
‹Weshalb willst du zurück in dieses Dorf? Hier in den Bergen ist es sicherer.›
«Nun, für einen Wolf bestimmt, aber ich kann nicht wie du in der Wildnis überleben.»
Talai bemerkt, dass der junge Mann diesen Austausch verfolgt. Sie fühlt sich zu einer Erklärung genötigt.
«Verzeih, ich habe mit Ushin gesprochen.»
«Soviel ist mir klar. Luok hat also recht, du verstehst die Wesen der Nacht.»
«Luok ist der große Schatten, mit dem du beim Brunnen zusammen warst? Wo ist er jetzt?»
«Nicht er, sondern sie. Luok ist eine Hrankae, ein Drachenschatten. Sie schläft in einer Höhle weiter oben in den Felsen. Sobald es dunkel wird, taucht sie bestimmt hier auf.»
Talai schließt daraus, dass Luok wie das Kae nachtaktiv ist. Sie ist gespannt darauf, die Dunkelheit näher kennenzulernen. Am Brunnen von Sié erweckte sie einen freundlichen Eindruck. He'sha scheint ihr Schweigen als Aufforderung zu nehmen, weiterzusprechen.
«Es gibt nur wenige Menschen, die sich mit Wesen der Nacht unterhalten können, zumindest außerhalb meiner Familie. Luok wartet gespannt darauf, mit dir zu sprechen. Sie war enttäuscht, dass du gestern krank warst.»
«Was ist so speziell an deiner Familie, dass ihr mit Wesen der Nacht sprechen könnt?»
He'sha sieht sie abwägend an, bevor er sich zu einer Antwort entschließt.
«Nun, meine Mutter ist Silàn von Silita. Vielleicht hast du von ihr gehört.»
Talais Augen weiten sich. Damit hat sie wirklich nicht gerechnet. Neben ihr sitzt nicht irgend ein Tanna, sondern der Sohn der Königin der Nacht! Eigentlich hätte sie es schon bemerken müssen, als Ushin ihr vorhin seinen Namen nannte. Nicht einmal ihre Krankheit entschuldigt dieses Versehen. Bestimmt hält He'sha sie nun für dumm. Sie versucht es mit einer Entschuldigung.
«Verzeih, ich hätte das wissen müssen. Ushin nannte mir sogar deinen Namen. Aber ich bin wohl noch nicht wieder ganz bei der Sache. Dieses verflixte Fieber.»
«Hör zu, ich wollte mit meiner Mutter nicht angeben. Ich dachte nur, es sei vielleicht gut, wenn du das weißt. Du warst ziemlich misstrauisch, damals in Sié.»
Talai runzelt aufgebracht die Stirn. Sie erinnert sich noch gut an den Schreck, den He'sha ihr dort einjagte.
«Überrascht dich das? Ich hatte die ganze Nacht geschuftet und gerade einen Moment lang die Augen geschlossen, als du in mein Lager geplatzt bist. Das war ziemlich unheimlich.»
«Ich weiß. Wir brauchten dringend ein Versteck für Luok. Du weißt ja, wie die Wesen der Nacht sind. Und wir rechneten nicht damit, mitten im Winter an dem toten Brunnen jemanden anzutreffen. Dass du ihn von Sand befreit hast, war übrigens eine tolle Leistung.»
«Danke. Das war die Idee des Kae. Ich hätte niemals herausgefunden, was mit dem Brunnen los war. Es hat auch die ganzen Eimer mit Sand gefüllt. Ich habe sie nur hochgezogen und weggekippt.»
«Es war ein großer Haufen Sand. Luok hat ihn am nächsten Abend in die Senke hinüber geschafft, wo die kleinen Bäume wachsen. So füllt er hoffentlich den Brunnen nicht so rasch wieder auf.»
Wider Willen ist Talai beeindruckt. Bei ihrer ersten Begegnung hätte sie He'sha nicht soviel Umsicht zugetraut. Eigentlich ist er ganz nett. Ushin quittiert diesen Gedanken mit einem Augenrollen.
‹Außerdem hat er dir vermutlich das Leben gerettet. Er benötigte ziemlich viel Schattenmagie, um dein Fieber zu bekämpfen.›
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Talai
FantasyNach einem Überfall findet sich die rebellische Tochter des Sonnenkönigs allein in einem fremden Land - einem Land, dessen Kinder von einer tödlichen Krankheit heimgesucht werden. Auf dem langen Weg nach Hause findet Talai überraschend Hilfe und Fre...