Talai 1-17 Das Volk der Dämmerung

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Das Volk der Dämmerung

Hektisch geht der Sonnenkönig von Kelèn im Zimmer des kleinen Rats auf und ab. Sein blondes Haar ist zerzaust, weil er immer wieder mit den Händen durch seine Mähne fährt. Liha steht ungerührt mit auf dem Rücken verschränkten Armen neben dem großen Eichentisch. Er ist froh, dass Pentim ihn anhörte, bevor Fanlaita anwesend war. Die Königin hängt sehr an ihren Kindern und wird die Nachricht vom Tod ihrer Tochter nicht leicht nehmen. Der König scheint gleicher Meinung zu sein.
«Liha, wie soll ich das Fanlaita beibringen? Ich habe Talai in den Tod geschickt. Wie konnte ich nur so unvorsichtig sein, das Mädchen aus den Augen zu lassen.»
«Mein König, Talai ist erwachsen und die Straßen von Inoira galten als sicher. Niemand konnte ahnen, dass so etwas passiert.»
«Nenn mich nicht ‹mein König›, du weißt, dass ich das nicht leiden kann. Ich hätte ihr eine größere Eskorte mitgeben oder ganz auf den Besuch verzichten müssen. Was wiegt ein Freundschaftsvertrag mit Inoira verglichen mit dem Leben meiner Tochter? Nun habe ich beides verloren. Fanlaita wird mich dafür hassen und ich kann es ihr nicht verübeln. Ich werde mir das niemals verzeihen können.»
«Pentim, du kannst nichts ändern an Dingen, die geschehen sind. Das war schon immer so und wird immer so bleiben. Fanlaita ist verständiger als du denkst, sie wird dich nicht verurteilen. Aber du solltest es ihr sagen, bevor sich Gerüchte im Palast verbreiten. Numesh und Marish werden nicht sehr lange verheimlichen können, was passiert ist.»
Pentim reibt sich die geröteten Augen. Er wirkt müde und alt. Liha kann das nachvollziehen, er selber ist genauso schockiert über die Neuigkeiten. Da er niemals eine eigene Familie besaß, sind ihm die Kinder seines Freundes und Königs über die Jahre ans Herz gewachsen. Die stolze Talai, welche Waffenübungen und lange Ritte den einer Prinzessin angemessenen Tätigkeiten im Palast vorzog, besaß dabei immer einen besonderen Platz. Aber daran muss er Pentim nicht erinnern.
«Also gut, lass die Königin hierher bitten, Liha. Macht es dir etwas aus, dabei zu sein? Du hast mit den Männern gesprochen und kannst ihre Fragen vielleicht besser beantworten.»
«Ich kann die Männer auch rufen lassen, wenn du möchtest.»
«Vielleicht später. Ich glaube, es ist besser, wenn du zuerst berichtest. Fanlaita hört auf dich.»

Nachdem er eine Wache losgeschickt hat, lässt Liha die Tür des Beratungszimmers offen. Es dauert nicht lange, bis das leise Lachen der Königin auf der Treppe hörbar ist. Sie wird von einer zweiten Person begleitet. Liha fragt sich, wer das sein kann. Die Schritte sind zu leicht für die Stiefel einer Wache. Kurz darauf betritt Prinz Kerim an der Seite seiner Mutter das Ratszimmer. Pentim wirft Liha einen fragenden Blick zu. Vermutlich hofft er, sein Berater finde einen Weg, den jungen Prinzen wegzuschicken. Aber dieser geht nicht darauf ein. Stattdessen bietet er der Königin einen Stuhl am Beratungstisch an. Kerim setzt sich ungefragt neben sie. Nun sieht sich auch Pentim gezwungen, Platz zu nehmen. Liha tut es seinem König gleich und wartet geduldig, bis dieser zögernd das Wort nimmt.
«Fanlaita, Kerim, wir haben soeben sehr schlechte Nachrichten erhalten.»
Am bleichen Gesicht der Königin erkennt Liha, dass sie ahnt, was nun folgen wird. Sie nimmt die Hand ihres jüngsten Sohnes und wirft den beiden Männern einen ängstlichen Blick zu.
«Es geht um Talai, nicht wahr?»

~ ~ ~

Talai stapft durch den gefrorenen Schnee und hängt ihren Gedanken nach. Sie kann sich bereits nicht mehr genau erinnern, wieviele Tage seit der Überquerung des Flusses in Haonjit vergangen sind. Jeden Morgen bricht sie mit Dánirah auf, um ein Stück weiter ins Land Kelèn hineinzuziehen. Meist kommen sie nur langsam voran, so wie heute. Solange der Schnee gefroren ist, macht ihnen vor allem die Kälte zu schaffen. Sobald die Sonne die dichten Nebel der Flussaue durchdringt, kämpfen sie zusätzlich mit dem Matsch, der in die Schuhe dringt und alle Kleider durchnässt. Manchmal fürchtet Talai, dass diese Reise und der Winter endlos sind, dass die Nebel des Haontals sie auf ewig gefangenhalten. Sie sehnt sich nach den Farben der Frühlingsblumen und dem Singen der Vögel im Garten des Palasts von Penira. Wie schön muss der Frühling erst hier draußen, in der freien Natur sein! Fast bedauert sie es, dass sie Penira noch vor dem Ende des Winters erreichen werden, wenn Dánirah recht behält. Talai zweifelt keinen Moment an den Worten ihrer Freundin. Diese kennt den Weg aus langer Erfahrung und meint, sie müssten die Hauptstadt eigentlich vor dem übernächsten Neumond erreichen. Für Talai ist das noch eine lange Zeit. Gestern Abend, als sie völlig durchgefroren im Heu einer Scheune Schutz suchten, schlug ihr Dánirah vor, im nächsten größeren Ort den Dorfältesten aufzusuchen und sich als Tochter des Königs zu erkennen zu geben. Aber die beiden Frauen mussten rasch einsehen, dass dieses Unterfangen zum Scheitern verurteilt wäre. Niemand, der Talai in ihrer Reisekleidung sieht, würde glauben, dass sie aus der Stadt stammt, geschweige denn die Prinzessin des Reiches ist. Bestimmt würde sie als Betrügerin abgestempelt und entweder verspottet oder, noch schlimmer, verhaftet. Deshalb zieht sie es vor, weiter mit Dánirah zu Fuß durch das Land zu ziehen und von dem zu leben, was sie mit ihrer Musik verdienen. Bisher hatten sie Glück.
Ein leiser Aufruf Dánirahs lässt Talai aufblicken. Voraus führt der schmale Weg, dem sie folgen, in ein Ufergehölz. Die kahlen schwarzen Äste der Bäume bilden einen scharfen Kontrast zu der endlosen Schneedecke und dem grauen Himmel. Und dort, mitten über dem Wäldchen, kräuselt sich unverkennbar Rauch. Talai hat inzwischen gelernt, den Rauch eines Herdfeuers von Nebelschwaden zu unterscheiden. Dánirah ist eine gute Lehrerin in allem, was das Überleben im Winter und unterwegs betrifft. Nun spiegelt sich auf dem wettergegerbten Gesicht der Tanna ungläubiges Staunen. Talai begreift nicht, was an diesen dünnen Rauchfäden so besonders ist. Dánirah klärt sie mit einem wissenden Lächeln auf.
«Das sind mehrere kleine Herdfeuer, die dort im Wald brennen. Dort liegt das Lager einer größeren Gruppe. Aber wir befinden uns weitab von der fahrbaren Straße, wer immer dort lagert, ist wie wir zu Fuß hergekommen.»
«Denkst du, dass das Krieger sind? Oder vielleicht Räuber?»
«Nein, ich glaube nicht. Komm mit, lass uns nachsehen!»
Mit gemischten Gefühlen folgt Talai ihrer Freundin. Sie erinnert sich noch zu gut an den Überfall in Inoira. Deshalb erscheint ihr Dánirahs freudige Zuversicht unangebracht. Aber die Tanna lässt sich nicht beirren. Kurz darauf erreichen sie den Waldrand. Die schmale, festgetretene Wegspur führt geradewegs zwischen die Bäume. Am liebsten würde Talai umkehren. Aber davon will Dánirah nichts wissen. Um ihren Mund spielt ein schelmisches Lächeln.
«Keine Angst, ich bin ziemlich sicher, dass da vorne weder Räuber noch Söldner auf uns warten. Ich glaube, heute Nacht werden wir in guter Gesellschaft verbringen.»
Immer noch etwas unschlüssig folgt Talai der älteren Frau durch den dichten Wald. Wenn sie im Vorbeigehen Zweige streift, fällt Schnee auf sie herunter. Sie schlägt deshalb die Kapuze ihrer Jacke hoch, damit ihr keine Schneeklumpen in den Kragen rutschen können. Dánirah scheint diese Unannehmlichkeit nicht zu bemerken. Eilig folgt sie dem schmalen Pfad, so dass Talai Mühe hat, Schritt zu halten.
Plötzlich öffnet sich vor ihnen eine Lichtung. Nun begreift Talai, dass sie sich vergeblich Sorgen machte. Das sind bestimmt weder Krieger noch Räuber. Auf der großen Fläche stehen mehrere einfache Hütten und Zelte bei kleinen Feuerstellen. Kinder jeden Alters sind dazwischen unterwegs, damit beschäftigt, Feuerholz zu tragen, einander Schneebälle zuzuwerfen oder mit einigen Hunden zu spielen. Natürlich gibt es auch Erwachsene, die verschiedenen Tätigkeiten nachgehen. Sofort fällt Talai auf, dass Gemeinsamkeiten sie verbinden: die dunkle Haut und das schwarze Haar. Sie kannte außer Berim und Dánirah bisher keine Tannarí. Aber nun ist klar, dass sie ein Winterlager des Volkes der Dämmerung gefunden haben.
Sobald Dánirah und Talai die Lichtung betreten,verstummen die fröhlichen Stimmen der Kinder. Ein hagerer Mann mit langem Haar und einem freundlichen Gesicht tritt auf Dánirah zu.
«Dánirah, Tochter von Shonai. Es ist lange her, dass dein Weg dich in unser Lager führte. Wie geht es dir, Traumfängerin, und wer ist deine junge Begleiterin?»
Dánirah ergreift die ausgestreckte Hand des Mannes und begrüßt ihn wie einen lange vermissten Verwandten.
«Danke, Taliten, mir geht es gut. Das hier ist Talai-mit-der-Laute. Wir freuen uns, euch hier zu treffen. Ich wusste nicht, dass dieser Lagerplatz euch immer noch als Winterquartier dient.»
«Wir benutzen diesen Platz eigentlich schon sehr lange nicht mehr. Aber Senai bestand darauf, ihren letzten Winter hier zu verbringen. Wie konnten wir ihr diesen Wunsch abschlagen? Kommt, ich bringe euch zu ihr. Sie wird sich über den Besuch freuen, besonders wenn jemand mit einer Laute umgehen kann.»
Der Tanna lächelt Talai freundlich zu. Verspätet fällt ihr ein, dass er vermutlich nur ihr zu liebe die allgemeine Sprache benutzt. Sie weiß, dass die Tannarí unter sich meist die alte Sprache verwenden, die außer von ihnen nur noch von den Magiern gesprochen wird. Etwas verunsichert folgt sie Taliten und Dánirah zu einer fellgedeckten halbkugeligen Hütte im Zentrum des Lagers. Sie muss sich tief bücken, um durch den niedrigen Eingang zu treten. Obschon noch früher Nachmittag ist, herrscht im Innern Halbdunkel. Ein Topf mit glühenden Kohlen strahlt Wärme ab. Nachdem sich Talais Augen an das düstere Licht gewöhnt haben, erkennt sie ein Lager, auf dem eine uralte Frau schläft. Eine etwas jüngere Frau sitzt daneben. Taliten stellt sie als seine Frau Naoràn vor. Sie heißt  Dánirah und Talai herzlich willkommen und bittet sie, es sich bequem zu machen. Taliten nimmt ihnen die schneeverkrusteten Jacken ab und hängt sie zum Trocknen auf. Während Naoràn über dem Gluttopf in einem Metallgefäss Schnee für Tee schmilzt, bittet Taliten die Gäste, sich zu setzen. Talai erschrickt, als sich die alte Frau auf dem Lager plötzlich regt. Mit Talitens Hilfe richtet sie sich in eine sitzende Stellung auf. Ihr langes schneeweißes Haar ist zu zahllosen Zöpfen geflochten, ihr Gesicht von tiefen Runzeln durchzogen, die milchigweißen Augen von Fältchen umgeben. Überrascht stellt Talai fest, dass die Frau blind ist. Ihre Stimme klingt brüchig und müde.
«Dánirah? Ich bin froh, dass du ein allerletztes Mal den Weg an mein Lager gefunden hast. Was hast du zu berichten?»
Die Angesprochene zögert mit der Antwort. In ihrem Gesicht kann Talai tiefen Schmerz erkennen.
«Senai, es ist gut, dich zu sehen, Älteste meines Volkes. Aber noch besser wäre es, im Frühling im Gras zu sitzen, wie früher.»
«Mein Frühling ist vorbei, Dánirah. Ich werde die Blumen nicht mehr riechen und die Vögel nicht mehr singen hören. Aber erzähl mir von deinen Träumen, hilf einer alten Frau, mit leichtem Herz dieses Leben zu verlassen.»
«Diesmal sind meine Träume nicht der Grund, dass ich euer Lager gefunden habe. Meine Träume führten mich zu Talai, aber ich weiß noch nicht, zu welchem Zweck. Wir begegneten uns vor einem halben Mond in Haonjit. Ich bin sicher, dass die kommende Nacht mir einen neuen Traum bringt.»
Das Gesicht der blinden Senai ist nachdenklich. Sie tastet nach Talais Hand und ergreift sie mit überraschend kräftigen Fingern. Einen Moment lang lauscht sie in sich hinein, die blicklosen Augen auf die junge Frau gerichtet. Dann legt sie ihr sanft eine Hand auf die Wange.
«Talai. Du bist Kelen, nicht wahr? Trotzdem spüre ich in dir die Kraft der Dämmerung, den Stolz einer Tanna. Du wirst deinen Weg gehen, aber hüte dich, Blüte des Morgens, er ist lang und voller Dornen, wie derjenige meines Volkes. Pass gut auf deine Laute auf, sie wird dir helfen, in den dunkelsten Nächten neue Hoffnung zu finden.»
Überrascht wirft Talai Dánirah einen Blick zu. Wie kann die alte Frau wissen, dass sie eine Laute besitzt? Naoràns Stimme ist sanft und leise.
«Senai hat das Gesicht. Es lohnt sich, ihrem Rat zu folgen.»
Wortlos nickt Talai, während Naoràn der blinden Frau hilft, sich wieder hinzulegen. Bevor sie ihre Augen schließt, äußert sie eine letzte Bitte.
«Taliten, bitte suche meinen guten Schal heraus. Du weißt schon, den schwarzen. Ich möchte, dass Talai ihn bekommt. Sie wird ihn brauchen auf ihrer Reise und ich werde keine Gelegenheit mehr finden, ihn zu tragen.»

~ ~ ~

Der Schnee hüllt die Burg immer noch in eine dicke weiße Decke und schluckt alle Geräusche, als He'sha in den Hof des Mondbaums hinaufsteigt. Luok setzt gerade zur Landung an. Fasziniert beobachtet er, wie die Hrankae elegant neben dem kahlen Baum aufsetzt und mit einer fließenden Bewegung die mächtigen Flügel zusammenfaltet. Er kann immer noch nicht ganz glauben, dass dieses stolze Wesen der Nacht ihn als Partner und Reiter akzeptiert. Luok weiß natürlich genau, wieviel ihm diese Freundschaft bedeutet. Trotzdem verzichtet sie darauf, ihn ihre Überlegenheit spüren zu lassen oder sich über ihn lustig zu machen. He'sha ist froh, nicht mehr ihrem beißenden Spott oder sogar ihrer Verachtung ausgesetzt zu sein. Das bedeutet aber nicht, dass sie auch ihre schroffe Art abgelegt hat.
«Bist du bereit, Schattenflamme? Wir haben einen langen Flug vor uns.»
«Ich bin bereit. Wie war die Jagd?»
Statt einer Antwort leckt sich die Hrankae mit ihrer spitzen schwarzen Zunge genüsslich die Lippen und blinzelt einmal mit den goldenen Augen. He'sha hat sich längst angewöhnt, in der Nähe seiner Drachenfreundin immer zumindest teilweise seine Schattengestalt anzunehmen. Nur so kann er Luok klar erkennen. Das führte am frühen Abend dazu, dass er in Schattenform durch die Burg lief und seine alte Spielkameradin Hamiràn beinahe überrannte. Seine Mutter Silàn, die Zeugin des Vorfalls wurde, schüttelte zum Glück nur etwas ungläubig den Kopf.
Während er überprüft, dass die Briefe der Königin sicher in seiner Tasche verstaut sind, deren Deckel gut zubindet und sich die Tragriemen über die Schultern streift, erinnert er sich an Hamiràns verletzten Gesichtsausdruck. Natürlich entschuldigte er sich bei ihr, allerdings verbesserte das ihre Laune nicht. Sie sind zusammen aufgewachsen, aber während Hamiràns älterer Bruder Selai und seine eigene Schwester Tanàn seit Kindertagen ein beinahe unzertrennliches Paar bilden, versteht er sich mit ihr mehr schlecht als recht. Hamiràn, die selber keinerlei magische Begabung besitzt, liebte es, sich über den etwas jüngeren He'sha lustig zu machen, wenn ihm wieder einmal eine magische Übung nicht gelang. Das kam öfter vor, nicht zuletzt wenn seine Mutter ihm auftrug, die Schattenform anzunehmen. Deshalb grenzt es an Ironie, dass er seit einigen Tagen manchmal vergisst, wieder in seinen festen Körper zurückzukehren. Aber nun ist nicht der Moment, sich über die Vergangenheit Gedanken zu machen.
Rasch steigt er auf Luoks Rücken und sucht sich einen bequemen Platz, bevor er seine Schattenform mit derjenigen der Hrankae verfließen lässt. Luok begrüßt ihn mit einem warmen Gedankenbild, das Geborgenheit vermittelt, bevor sie mit kräftigen Flügelschlägen abhebt. He'sha spürt weder die beißende Kälte der Nacht noch den Wind, der über die Berge von Eshte pfeift. Sein Glücksgefühl vermischt sich mit Luoks unbändiger Freude, wieder unterwegs zu sein.

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