Talai 3-7 Hoffnung der Dunkelheiten

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Hoffnung der Dunkelheiten

Talai kann den Blick nicht von der faszinierenden Gestalt des Mondlichts lösen. Sie hat als Kind Geschichten über die Nsilí gehört, aber nie damit gerechnet, selbst einem dieser sagenhaften Wesen zu begegnen. Eigentlich hätte sie spätestens nach dem Zusammentreffen mit Luok wissen müssen, dass auch Mondlichter wirklich existieren. Sie macht einen kleinen Knicks, was mit ihrer unförmigen Jacke wohl nicht besonders elegant aussieht.
«Ich grüße dich, Silmira, Seherin der Nsilí und dich, Ijenkae. Mein Name ist Talai.»
Silmira lächelt. Mit einer schlanken Hand deutet sie auf die große Dunkelheit.
«Ijenkaedí sprechen nur in Gedankenbildern. Ich kann für dich übersetzen wenn du möchtest.»
Spontan sendet Talai ein fragendes Gedankenbild, wie sie es für die kleine Dunkelheit tut. Das Ijenkae antwortet mit einer komplexen Bilderreihe. Talai versteht überraschend gut. Die große Dunkelheit vermittelt Neugier und ein Gefühl von Willkommen. Daneben spürt Talai eine dumpfe Besorgnis um das Schicksal der Kaedin. Silmira schüttelt erstaunt den Kopf.
«Du sprichst die Sprache der Dunkelheiten. Wo hast du das gelernt, Tochter des Sonnenlichts?»
«Das Kae hat es mir beigebracht. Aber Tochter des Sonnenlichts ist ein neuer Name. He'sha nennt mich Morgenstern und Ushin zählt mich bereits zu den Wesen der Dämmerung.»
«Nun, das ist beides richtig, du trägst immerhin den Schal einer Tanna. Das ist niemals ein leichtfertiges Geschenk. Wer ist Ushin?»
«Ein Freund von mir, ein Wolf. Er ist unterwegs, aber ich erwarte ihn jeden Moment zurück.»
Talai fragt sich, wieviel sie diesem Mondlichtwesen erzählen will. Ob es He'sha kennt und ebenfalls mit der Königin der Nacht in Verbindung steht? Silmira nimmt ihr die Entscheidung ab.
«Du hast He'sha erwähnt. Hast du ihn oder Luok kürzlich gesehen? Ich habe gehört, dass sie nach dir suchten.»
«Ja, sie waren hier. He'sha wollte einige Xylin finden, um ihnen eine Botschaft an seinen Vater mitzugeben.»
«Hat er ein Heilmittel für die Kaedin gefunden?»
Talai empfängt nun auch von dem Ijenkae den Eindruck gespannter Erwartung. Es tut ihr leid, die beiden Wesen der Nacht enttäuschen zu müssen.
«Wenn wir ein Heilmittel kennen würden, wäre Luok längst unterwegs nach Silita-Suan. Nein, He'sha wollte die Nachricht vom Tod der Tanna-Ältesten Senai übermitteln lassen.»
«Senai. Ihr Volk wird ihre Weisheit vermissen. Ist es ihr Schal, den du trägst?»
«Ja, sie bestand darauf, ihn mir zu schenken.»
«Nun, dann hat dein Ushin wohl recht, wenn er dich zu den Wesen der Dämmerung zählt. Vermutlich weiß A'shei längst von ihrem Dahinscheiden. Wenn nicht Dánirah ihm davon berichtet hat, dann wird diese Nachricht einen anderen Weg gefunden haben.»
«Was weißt du von Dánirah, Silmira?»
«Ich weiß viel von der Träumerin. Was möchtest du wissen?»
«Hast du sie kürzlich gesehen?»
Silmira schüttelt verneinend den Kopf. Enttäuscht zieht Talai die Jacke enger um ihre Schultern. Vor der Hütte ist es kalt. Sie bezweifelt aber, dass das Mondlicht ihr ins Innere folgen möchte. Silmira scheint ihre Gedanken zu ahnen.
«Dir ist kalt, du solltest an dein Feuer zurückkehren, Morgenstern. Wir haben genug gesehen, für heute Nacht.»
«Warte, was ist der Grund für euren Besuch?»
Silmira lächelt als das Ijenkae ein Stück näherrückt. Es strahlt ein Bild von Hoffnung aus, gefolgt von einer komplexen Bilderreihe. Talai versteht nicht genau, was es damit sagen will. Das Kae scheint aber begeistert zu sein. Verwirrt blickt Talai zu Silmira. Die Nsil betrachtet nachdenklich die beiden Dunkelheiten.
«In den vergangenen Nächten war unter den Wesen der Nacht von dir die Rede, Talai. Zunächst, weil He'sha dich suchte und die Xylin bat, nach dir Ausschau zu halten. Aber danach sprach sich unter den Kaedin herum, du hättest einem der ihren geholfen. Das ist ungewöhnlich, nicht nur, dass du es getan hast, sondern auch, dass es dir gelungen ist. Diese Krankheit löscht die kleinen Dunkelheiten allmählich aus. Das Ijenkae behauptet, du seist die ‹Hoffnung der Dunkelheiten›. Was es damit genau meint, weiß ich nicht. Aber manchmal sehe ich die Wahrheit, und dein Schicksal ist mit jenem der Kaedin eng verwoben.»
«Ich würde den Kaedin gerne helfen, und was du sagst klingt beinahe wie was Dánirah für mich geträumt hat. Aber im Moment weiß ich nicht, was ich tun soll, um weiterzukommen.»
«Keine Angst, dein Schicksal ist bereits auf dem Weg zu dir. Wir werden uns bestimmt wieder begegnen. Aber nun geht der Mond unter, ich muss gehen. Ich bin froh, dich kennengelernt zu haben, Talai Morgenstern.»
Mit diesen Worten verblasst Silmira vor den Augen der verblüfften Talai. Das Ijenkae sendet ihr ein einfaches Bild von einem klaren Sternenhimmel. Sie empfindet dabei ein starkes Gefühl von Zuversicht. Dann zieht die große Dunkelheit wie ein schwarzer Nebelfetzen über den Schnee davon.
In dieser Nacht liegt Talai noch lange wach und denkt über die seltsame Begegnung nach.

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