Talai 2-8 Die Sprache der Dunkelheit

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Die Sprache der Dunkelheit

Mit der Zeit beginnt Talai ihre Reise sogar zu genießen. Das Wetter ist zur Abwechslung freundlich, und wie Thisàn voraussagte, findet sie auf der Straße nach Nonar genügend Möglichkeiten, für die Nacht unterzukommen. Die Gasthausbesitzer sind gerne bereit, sie für ihre Mahlzeit und eine Übernachtung spielen zu lassen. Manchmal erhält sie darüber hinaus sogar einige Münzen oder Vorräte, die ihr das Weiterkommen erleichtern. Zeitweise kann sie ein Stück des Weges mit anderen Reisegruppen zurücklegen. So fällt es ihr von Tag zu Tag leichter, in die Rolle von Talai, der Lautenspielerin zu schlüpfen, die nach Süden unterwegs ist, weil sie hofft in Ramenar ihren Bruder zu treffen. Diese Geschichte hat sie inzwischen so oft erzählt, dass es ihr immer leichter fällt, sie ein weiteres Mal zu wiederholen oder mit Details auszuschmücken.
Sie versucht, nicht zu viele Gedanken an die ungewisse Zukunft zu verschwenden und statt dessen das beste aus jedem Tag zu machen. Seit dem Zwischenfall mit den angetrunkenen Männern kurz nach der Überquerung des Haon vertraut sie darauf, dass das Kae sie beschützen wird, wenn es irgendwie dazu in der Lage ist. Sie ist überzeugt, dass ihre Verständigung mit dem Wesen der Nacht immer besser wird und dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis sie mehr als nur flüchtige Bilder austauschen können.
Als sie an diesem Abend die Gaststube verlässt und zum Stall hinüber geht, freut sie sich schon auf die kommende Unterhaltung mit dem Kae. Die kleine Dunkelheit wartet aber nicht auf sie. Vermutlich zog sie alleine los. Talai ist sicher, dass sie bald wieder auftauchen wird. Deshalb richtet sie ihr Lager im Stroh ein und wickelt sich in ihre Decke. Sie ist froh, dass die vielen Pferde den Raum wärmen. Heute wurde es spät, und sie ist erschöpft von der langen Wanderung und ihrem anschließenden Auftritt. Im Publikum saßen neben den einheimischen Gästen auch einige Reisende, denen sie schon zwei oder dreimal begegnete. Aber statt langsam genug von ihrer Musik zu bekommen, begannen sie, nach bestimmten Liedern zu fragen und ihr sogar Texte und Melodien beizubringen, die sie gerne hören wollten. Die Stimmung wurde rasch ausgelassen und als der Wirt schließlich die letzten Nachzügler ins Bett schickte, kannte Talai einige neue Balladen und besaß zudem eine Einladung, bis Nonar mit einer größeren Gruppe weiterzureisen. Sie weiß noch nicht, ob sie annehmen soll. Aber wenn das Kae sich nicht daran stört, würde das bestimmt Unterhaltung, Abwechslung und Sicherheit bieten.
Talai ist bereits eingeschlafen, als ein leises Rascheln im Stroh sie aufschrecken lässt. Die Pferde bleiben ruhig, deshalb könnte es sich um eine Maus oder eine Ratte handeln. Trotzdem lauscht Talai angespannt. Erst als sie ein Gedankenbild des Kae empfängt, atmet sie erleichtert auf. Mit einem weiteren Rascheln nähert sich die kleine Dunkelheit und schlüpft rasch zu Talai unter die Decke. Dort rollt sie sich zusammen und gibt ein zufriedenes Surren von sich, bevor sie eine endlose Flut von Gedankenbildern losschickt.
Sofort ist Talai wieder hellwach, obwohl sie eigentlich schlafen sollte. Das Kae ist aufgeregt, als hätte es wichtige Neuigkeiten. Es zeigt ihr immer wieder die gleiche Bilderreihe. Erst nach und nach gelingt es Talai, verschiedene Szenen auseinanderzuhalten. Sie versucht, das Kae um Geduld zu bitten und es dazu zu bringen, seine Bildfolgen langsamer abzuwickeln. Aber ihre Anstrengung hat eher den umgekehrten Effekt. Das Kae scheint begeistert über ihre Bemühungen und beschleunigt die Bilder weiter. Schließlich sitzt Talai auf und schüttelt verzweifelt den Kopf.
«Hör zu, wenn du in diesem Tempo sprichst, werde ich dich nie verstehen. Kannst du es einmal etwas langsamer versuchen? Ich bin ein Anfänger, du musst Rücksicht nehmen.»
Der Klang ihrer Stimme genügt, um die Bilderflut des Kae zum Versiegen zu bringen. Das einzige, was Talai noch empfängt, ist ein Gefühl der Leere. Sie weiß inzwischen, dass dies einer Frage gleichkommt. Deshalb gibt sie sich noch einmal besonders Mühe, für das Kae Bilder zu formen. Sie weiß inzwischen, dass es am besten geht, wenn sie sich vor ihrem inneren Auge bildlich vorstellt, was sie der Dunkelheit zeigen möchte. Diesmal versucht sie sorgfältig, die Bilder zu wiederholen, die das Kae formte, allerdings sehr langsam. Zuerst eine Ansammlung von dunklen Bäumen im Schnee, danach die Mondsichel, die durch deren kahle Äste scheint. Das nächste Bild ist ziemlich verwirrend und sehr dunkel. Ob es sich um eine Höhle handelt?
Die kleine Dunkelheit begrüßt Talais Bemühungen mit einem begeisterten Bildersturm. Die junge Frau muss darüber lächeln und entspannt sich unwillkürlich. Plötzlich erscheinen ihr die Bilder des
Kae völlig klar und verständlich. Überrascht setzt sie sich auf und reibt sich die Augen. Sofort verblassen die Bilder. Verzweifelt versucht sie, die letzten Eindrücke davon festzuhalten. Aber je mehr sie sich anstrengt, desto weniger versteht sie. Das Kae strahlt Frustration aus. Talai begreift, dass sie sich beruhigen und wieder entspannen muss. Sie atmet mehrmals tief durch, schließt die Augen und versucht an nichts besonderes zu denken. Sie will den Versuch schon enttäuscht wieder aufgeben, als plötzlich die Gedankenbilder des Kae so klar wie noch nie vor ihrem inneren Auge entstehen. Zum ersten Mal versteht sie die kleine Dunkelheit wirklich. Gespannt folgt sie ihren Erklärungen.

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