Die Krankheit
Kurz vor Sonnenuntergang stelzt ein langbeiniger weißer Vogel durch das raschelnde Schilf, eifrig auf der Suche nach Nahrung. Mit flinken Bewegungen seines langen Halses und Schnabels hascht er nach Insektenlarven, ständig um sich schauend, immer auf der Hut, nicht Opfer eines größeren Jägers zu werden. Da, direkt vor ihm, liegt eine besonders vielversprechende Stelle. Die Hufe eines größeren Tiers haben den Schlamm am Flussufer aufgewühlt und zahlreiche Insekten schwirren über dem feuchten Schlick. Der Vogel setzt einen Fuß vor den anderen, sucht sich einen Pfad und beginnt eifrig, im Schlamm zu picken. Plötzlich hält er inne, erstarrt einen Moment und breitet seine Flügel aus, um sich aufgeregt krächzend weiter flussabwärts eine andere Futterstelle zu suchen.
Kaum ist die Sonne unter dem Horizont verschwunden, bewegt sich etwas an der aufgewühlten Stelle am Flussufer. Im rasch schwindenden Tageslicht bildet sich über dem Sumpf ein tiefer Schatten. Was zunächst nur wie ein verlorener Fetzen Nebel oder Rauch aussieht, wirkt bald wie ein Knäuel undurchdringlicher Finsternis. Langsam bewegt sich dieses seltsame Wesen vorwärts, weg von der Schlammpfütze am Ufer und hinüber zum Schilf. Geschickt windet sich die Dunkelheit zwischen den Schilfhalmen hindurch. Aber schon bald verlangsamt sich ihr Fortschritt. Keuchend bleibt das Wesen der Nacht einen Moment liegen, die Schattenränder pulsierend und verfließend. Erst nach einer Weile setzt es seinen Weg fort, mühseliger als gewohnt und mit häufigen Pausen. Endlich erreicht es den Rand des Schilfgürtels. Hier wachsen Büsche und dahinter erheben sich große Uferbäume. Langsam kämpft sich das Schattenwesen durch das Unterholz voran, auf der Suche nach einem neuen Versteck.
Wenn ein Mensch oder ein größeres Tier in der Nähe wäre, könnte es deutlich die Unruhe und das Unwohlsein spüren, das die kleine Dunkelheit verbreitet. Aber die Nachttiere, die am Ufer des großen Flusses Haon leben, sind die Anwesenheit von Kaedin gewohnt. Zu ihrem Schutz können die ‹kleinen Dunkelheiten› Angst in andere Wesen projizieren. Nur die wenigsten Menschen wissen, dass dieses seltsame Angstgefühl, das einen manchmal befällt, wenn man nachts allein unterwegs ist, von einem Kae ausgestrahlt wird. Dieses irrationale Gefühl, beobachtet zu werden, weglaufen zu müssen vor einer unbekannten Gefahr, ist die besondere Gabe und die einzige Waffe der Kaedin. Sie ist auch der Grund, warum die kleinen Dunkelheiten gefürchtet werden.
Als Wesen der Nacht anerkennen die Kaedin die Königin Silàn von Silita. Sie dienen ihr als Beobachter und Botengänger, bleiben aber am liebsten unter sich. Bevorzugt leben sie in den ausgedehnten Sumpfgebieten des Haontals. Die Berge und die nördlichen Steppen meiden sie wenn immer möglich, denn trotz ihrer Genügsamkeit benötigen sie zum Leben und Gedeihen Wasser.
Nur selten bekommen Menschen ein Kae zu Gesicht. Die Meister der Tarnung können sich in jedem noch so kleinen Schattenflecken verstecken. Die Bewegungen der Kaedin sind flink und für die meisten Augen wirken sie nur wie Rauchschwaden oder diffuse dunkle Nebelfetzen. Aber dieses spezielle Kae bewegt sich nur langsam. Immer wieder verschwimmen seine Konturen, wenn es reglos verharrt, um Kraft zu sammeln. Endlich erreicht es den Stamm einer alten Weide. Zwischen ihren Wurzel kauert es sich zusammen, zu erschöpft, um sich weiter zu bewegen. Inzwischen geht die Nacht dem Ende entgegen und es weiß, das es vor Sonnenaufgang kein besseres Versteck mehr finden wird. Mit letzter Kraft zwängt es sich in eine feuchte Höhle zwischen den Wurzeln, um die nächste Nacht abzuwarten. Es weiß, dass es krank ist, zu krank, um Hilfe zu suchen. Es müsste der Königin Meldung machen, seine Artgenossen vor der drohenden Gefahr warnen. Aber dazu muss es zuerst neue Kraft sammeln.
~ ~ ~Eine junge Frau steht erschöpft am Fenster ihres Hauses und beobachtet, wie langsam über dem Tal der Tag anbricht. Nebelschwaden steigen vom Fluss auf und streichen durch die Uferbäume. Seufzend wendet sie sich wieder dem Bett ihrer kranken Tochter zu. Das kleine Mädchen ist endlich eingeschlafen, aber sein Atem geht unregelmäßig. Es hat noch nicht einmal zwei ganze Jahre gesehen und die Mutter fürchtet, dass es nie dazu kommen wird. Ihre Hoffnung auf Besserung schwindet von Tag zu Tag mit den Kräften ihrer Tochter. Diese nimmt nichts mehr zu sich, nicht einmal Wasser. Mit großen Augen starrt das früher so lebhafte Kind die meiste Zeit an die Decke, lustlos und ohne Kraft.
Viele Kinder sollen an dieser seltsamen Krankheit leiden, die niemand kennt und für die es kein zuverlässiges Heilmittel zu geben scheint. Bei manchen älteren Kinder geht der Anfall rasch vorbei, bei jüngeren kann er tagelang dauern und schließlich mit dem Tod enden.
Sanft streicht die Mutter dem Kind eine Strähne blondes Haar aus den Augen. Ihr Mann ist unterwegs ins nächst größere Dorf, wo es einen guten Heiler geben soll. Inzwischen nagen Zweifel an der Mutter. Sie hätte ihn vielleicht besser zusammen mit dem kranken Kind begleitet, obwohl ihr der Transport des Mädchens bei seinem Aufbruch undenkbar schien.
Was ist, wenn der Heiler nicht bereit ist, ihm zu folgen oder ihm ein wirkungsvolles Heilmittel zu verkaufen? Was ist, wenn ihre Tochter stirbt, bevor ihr Vater zurückkommt?
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Talai
FantasyNach einem Überfall findet sich die rebellische Tochter des Sonnenkönigs allein in einem fremden Land - einem Land, dessen Kinder von einer tödlichen Krankheit heimgesucht werden. Auf dem langen Weg nach Hause findet Talai überraschend Hilfe und Fre...