Epilog
He'sha legt leise Holz auf die Glut vom Vorabend und und setzt den gefüllten Wassertopf auf. Es ist noch dunkel, aber die Morgendämmerung naht. Talai dreht sich unruhig im Schlaf. Kurz darauf reibt sie sich verschlafen die Augen, schlägt ihre Decke zurück und richtet sich auf.
«Guten Morgen! Ihr habt uns also gefunden. Wann seid ihr angekommen?»
«Dir auch einen guten Morgen, Talai. Mit der Hilfe des Kae ist es nicht schwierig, dich zu finden. Es verständigt sich inzwischen mit Luok über große Distanzen. Wir sind soeben angekommen. Luok schläft in einer Höhle in den Felsen auf der anderen Talseite. Sie lässt grüßen und besucht uns heute Abend. Wo steckt Ushin?»
«Auf der Jagd, nehme ich an. Hast du deine Familie gesehen?»
He'sha nickt, er kann Talais Neugierde gut nachvollziehen. Er spielt selbst mit dem Gedanken, sie nach Penira zu begleiten, eines Tages. Aber das ist etwas, was warten muss bis Talai sicher ist, wohin ihr Pfad sie führt. Er versteht, dass sie im Moment nicht in die Hauptstadt zurückkehren möchte. In manchen Nächten träumt sie seltsame Träume. Manchmal erzählt sie ihm davon, und manchmal starrt sie tagsüber nachdenklich in die Wolken, bevor sie mit einem entschuldigenden Lächeln in die Gegenwart zurückkehrt.
He'sha und Talai sind seit über einem Mond zusammen unterwegs, seit sie sich von Dánirah, Liha und den andern trennten. Der Drache von Kelèn stellte sich der Aufgabe, den Minenkindern eine Zukunft zu schaffen. Einige kehrten zu Verwandten zurück. Andere, wie Sorim und Laiàn, besaßen diese Möglichkeit nicht. Liha hat vor, für sie in Nirah oder Kelèn Pflegeeltern zu suchen. Dánirah will ihn unterstützen. He'sha ist überzeugt, dass die beiden nicht locker lassen, bis es für alle Kinder eine gute Lösung gibt.
Auf ihrer gemeinsamen Reise hatte He'sha Gelegenheit, Talai besser kennenzulernen. Die letzten drei Tage war er aber mit Luok alleine unterwegs und besuchte Silita-Suan. Es war seltsam, seinen Eltern gegenüberzutreten. Seine Mutter musterte ihn von Kopf bis Fuß und schloss ihn herzlich in die Arme, sein Vater klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter. Gesprochen wurde nur wenig. Einzig Tanàn wollte alles bis ins kleinste Detail erzählt bekommen. Silàn musste sie ermahnen, den jüngeren Bruder nicht zu überrennen. Eine der Aussagen seiner Mutter zeigte ihm, dass diese ihn besser versteht, als er es für möglich hielt. Immer wieder wiederholt er in Gedanken ihre Worte.
‹He'sha hat seine eigene Magie gefunden, und sein eigener Weg liegt vor ihm. Diese Dinge lassen sich nicht erklären, wie sich das Leben selbst nicht erklären lässt.›
He'sha bemerkt, dass er Talai immer noch eine Antwort auf ihre Frage schuldig ist.
«Verzeih, ich war in Gedanken. Ja, ich habe meine Eltern besucht und bin froh, dass ich es endlich hinter mich brachte. Sie laden dich ein, Silita-Suan zu besuchen. Ich glaube, die Königin der Nacht möchte den Morgenstern kennenlernen, von dem alle sprechen.»
Talai schüttelt den Kopf.
«Was wir erreicht haben, haben wir gemeinsam erreicht.»
«Ja, aber du warst der Schlüssel. Du hast uns alle zusammengebracht, Dánirah, Liha, Sorim, Laiàn, Ushin, das Kae und Ijenkae, Luok, mich und sogar Numesh und seine Leute. Und dein Traum hat das Schlimmste verhindert.»
«Es waren Dánirahs Träume, die alles lenkten.»
«Nein, so funktionieren Dánirahs Träume nicht. Sie zeigen Dinge, die geschehen werden. Aber alles was Dánirah träumte, hätte auch in einer Katastrophe enden können.»
Ushins Auftauchen erspart Talai eine Antwort. Der Wolf begrüßt He'sha mit einem scharfzahnigen Lächeln und lässt sich von ihm das Nackenfell kraulen. Auch sie haben sich kennen und verstehen gelernt.
In angenehmem Schweigen trinken Talai und He'sha im zunehmenden Tageslicht Tee, bis über der Bergkette im Osten die Sonne aufgeht. He'sha löscht das Feuer während Talai mit geübten Handgriffen ihre Habseligkeiten zusammenpackt uns sich versichert, dass das Kae in ihrer Laute schläft.
Die heutige Etappe ist nicht lang. He'sha, der sich längst an kurze Schlafzeiten gewöhnt hat, genießt die Wanderung mit Talai und Ushin durch den Bergfrühling von Atara. Sie schreiten zügig aus und bald erkennt der junge Magier den Eingang zum versteckten Tal der Schattenwandlerin vom Berg. Er kam noch nie zu Fuß hierher, kennt aber das Gelände aus der Luft. Trotzdem ist er überrascht, dass die magische Abschirmung, die das Tal umgibt, nicht wirkt. Ob das an seiner neuentdeckten Magie liegt? Er wird Dánan danach fragen müssen. Andererseits ist es Talai, die zielsicher vorangeht und sich von der Tarnmagie nicht ablenken lässt.
«Sag mal, warst du schon einmal hier oder wieso kennst du diesen Weg?»
Die junge Frau legt nachdenklich die Stirn in Falten.
«Ich war tatsächlich schon einmal hier, als ich etwa vier Jahre alt war. An den Weg kann ich mich nicht erinnern. Aber letzte Nacht hatte ich einen Traum...»
Da ist es wieder. He'sha ist überzeugt, dass Talais Träumen mehr Bedeutung beizumessen ist, als sie zugeben möchte. Er geht nicht weiter darauf ein. Der Tag ist zu schön um ihn mit tiefgründigen Gesprächen zu füllen.
Bald erreichen sie das kleine Hochtal, in dem Dánans sonnenbeschienenes kleines Haus steht. Die Schattenwandlerin arbeitet im Garten. Sie richtet sich auf, sobald sie das Geräusch ihrer Schritte hört.
«Kerim, ich glaube du bekommst Besuch!»
Talai ist überrascht, dass Dánan sie erkennt, nach all den Jahren. Die alte Schattenwandlerin sieht noch genauso aus wie in ihrer Kindheitserinnerung. Einzig das Haar ist vielleicht etwas silberner geworden. Da öffnet sich die Tür der Hütte und ein bekannter blonder Lockenschopf blickt hinaus. Ein strahlendes Lachen breitet sich auf Kerims sonnengebräuntem Gesicht aus.
«Talai! Endlich, ich hatte Angst, ich würde dich nie wieder sehen.»~ ~ ~
Spät am Abend verlässt Talai die Hütte, um Luft zu schnappen. Dánan blickt ihr mit einem Lächeln nach, He'sha und Kerim sind zu vertieft in ihr Gespräch über Schattenmagie, um ihr Verschwinden zu bemerken. Sie spaziert in Gedanken versunken hinüber zum Wald und setzt sich auf einen Felsen unter einer riesigen Tanne. Mit zurückgelegtem Kopf betrachtet sie den Sternenhimmel. An dieser Stelle spielte sie als Kind mit Miràn und Mirim. Der Felsen war manchmal ihre Burg und Miràn und sie die Prinzessinnen, die von Ritter Mirim gerettet werden mussten. An anderen Tagen wurde die Burg zum Horst von gefährlichen Drachenschatten. Talai lächelt versonnen, verloren in ihren Erinnerungen. Wie lange das alles her ist, wie viel sich in ihrem Leben in kurzer Zeit verändert hat.
Ein mächtiger schwarzer Schatten landet geräuschlos neben ihr, und zwei goldene Augen mit schrägen Schlitzpupillen blinzeln sie an. Talai umarmt den schuppigen Hals der Hrankae.
«Ich habe dich vermisst, Luok.»
«Ich dich auch, Morgenstern. Gibt es etwas zu berichten?»
«Ich habe meinen jüngeren Bruder gesehen. Er ist glücklich hier, und ich bin sicher, er wird einmal ein großer Heiler und Schattenwandler. Ich glaube, sogar mein Vater wird davon begeistert sein, irgendwann.»
«Und du, wie geht es dir?»
Talai lächelt über die Besorgnis in Luoks Stimme.
«Mir geht es gut. Ich habe geträumt. Sag He'sha noch nichts davon, aber ich habe uns alle am Meer gesehen, He'sha, dich, das Kae, Ushin und mich. All dieses endlose Wasser war wundervoll und gewaltig. Ich weiß nicht, weshalb wir so weit nach Norden reisen sollten, aber es gibt dafür bestimmt einen triftigen Grund. Zunächst dachte ich, nach diesem Besuch in Atara würde ich des Wanderns bestimmt müde. Aber jetzt kann ich mir nichts interessanteres vorstellen, als durch das ganze Land bis ans Meer zu ziehen.»
Luoks goldene Drachenaugen blinzeln schalkhaft.
«Ich wollte schon immer das Meer besuchen. Und wenn ein Traum dich dorthin schickt, sollten wir ihm unbedingt Folge leisten.»
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Talai
FantasyNach einem Überfall findet sich die rebellische Tochter des Sonnenkönigs allein in einem fremden Land - einem Land, dessen Kinder von einer tödlichen Krankheit heimgesucht werden. Auf dem langen Weg nach Hause findet Talai überraschend Hilfe und Fre...