Talai 2-4 Abschied am Haon

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Abschied am Haon

Thisàn legt den Finger auf die Karte. Zahlreiche Informationen sind mit einer feinen Feder auf ein Stück dünnes Leder gezeichnet. Punkte markieren Orte, Linien Flüsse. Auch Bergketten und Wälder sind festgehalten. Talai bewundert die kunstvolle Arbeit, bis die Stimme der Heilerin sie aus ihren Gedanken reißt.
«Am besten folgst du der neuen Straße bis Nonar. Von dort aus gibt es einen Pfad, der dich über die Hochebene nach Sié bringt. Ich kann mir aber immer noch nicht vorstellen, was du in dieser verlassenen Gegend vorhast.»
«Ich mir auch nicht. Aber Dánirah meint, der Traum sei eindeutig. Sie hat die Ebene von Sié schon durchquert.»
«Ich ebenfalls, und ich möchte nicht behaupten, dass es eine angenehme Erfahrung war. Der Brunnen von Sié ist die einzige Wasserstelle zwischen Nonar und Tenar. Du wirst dich vorsehen müssen.»
Dánirah tritt näher und beugt sich ebenfalls über die Karte. Mit dem Finger folgt sie dem Weg, der die Berge von Nirah mit der Hochebene von Gerin verbindet, bis zum Brunnen von Sié.
«Das war, bevor der Brunnen versiegte. Heute führt er kein Wasser mehr. Wenn du dich beeilst und im Hochland noch Schnee liegt, wird dir dieser Weg leichter fallen als mir, damals als ich Gerin auf dem Pilgerweg durchquerte.»
Talai weiß, dass die Wahrträumerin mit dieser Reise schreckliche Erinnerungen verbindet. Trotzdem sieht sie keine andere Möglichkeit, als diesen Weg einzuschlagen.
«Hör zu, Talai. Ich weiß, dass der Weg gefährlich ist. Aber letzte Nacht hat sich mein Traum noch einmal wiederholt. Ich sah dich am Brunnen von Sié stehen. Aber diesmal träumte ich weiter. Du trafst dort jemanden, eine Person, die ich leider nicht erkennen konnte. Auch der Rest des Traums war unklar. Aber er zeigte dich in den Bergen. Ich bin sicher, dass es irgendwo in Nirah war. Nur dort gibt es diese schwarz und weiß gesprenkelten Felsen. Es ist eine sehr schöne Gegend, besonders im Frühling. Bestimmt wird es dir dort gefallen.»
Talai nickt zweifelnd. Sie freut sich auf den Frühling, aber wenn sie sich die Karte ansieht, erscheint ihr der Weg bis Nirah unendlich lang. Immerhin bedeutet Danirahs Traum, dass sie nicht in der Hochebene von Gerin verdursten wird. Entschlossen rollt sie die Karte, das Geschenk Thisàns, zusammen und steckt sie in ihre Tasche.
«Nun, dann lasst uns aufbrechen. Je länger wir den Abschied hinausschieben, desto mehr fürchte ich mich vor der Reise.»

Thisàn und Danirah begleiten Talai durch das Dorf hinunter zur Fähre. Die beiden Frauen scheinen genau so bedrückt über die bevorstehende Trennung wie sie selbst. Obwohl es noch früh ist, sind auf den Straßen von Zalkenar bereits viele Menschen unterwegs. Ab und zu grüßt jemand Thisàn, und Talai erhält den Eindruck, dass die Heilerin im Dorf gut bekannt und hoch geachtet ist. Ihre beiden Begleiterinnen werden aber kaum wahrgenommen, nur Talais Laute zieht ab und zu einen abschätzenden Blick auf sich. Dánirah bemerkt das Erstaunen der jungen Frau.
«Wir sehen beide nicht aus, als wären wir Händler. Damit sind wir für die meisten Keleni hier in Zalkenar uninteressant. Zudem macht es dich in ihren Augen beinahe unsichtbar, dass du einen Tanna-Schal trägst. Vielleicht wird dir das sogar helfen, wenn du allein unterwegs bist.»
Talai ist sicher, dass das früher oder später hilfreich sein kann. Sie erinnert sich noch zu gut an die Händler, mit denen sie von Ushar aufbrach. Ob vielleicht auch das Kae etwas damit zu tun hat, dass sie heute kaum beachtet wird? Falls das so ist, will sie sich nicht darüber beklagen. Das schlimmste, was ihr in diesem Moment passieren kann, ist dass außer Thisàn noch jemand sie als Tochter des Sonnenkönigs erkennt.
Endlich erreichen sie den Anlegesteg der Fähre. Das große Boot ist gerade unterwegs ans andere Ufer. Das gibt Talai zumindest Zeit, sich ordentlich von Dánirah zu verabschieden. Thisàn bemerkt, dass die beiden Freundinnen Zeit für sich allein brauchen.
«Ich glaube, ich verabschiede mich jetzt. Viele Patienten warten noch auf meinen Besuch. Ich wünsche dir Erfolg mit deiner Aufgabe, Talai. Hoffentlich findest du einen Weg, sowohl den Kaedin wie auch den Kindern zu helfen.»
«Glaubst du, dass es einen Zusammenhang gibt?»
«Es wäre ein zu großer Zufall, wenn zwei solche Krankheitswellen gleichzeitig das Land heimsuchten, ohne etwas miteinander zu tun zu haben. Ja, ich glaube an einen Zusammenhang. Aber das hilft mir trotzdem nicht dabei, die Kinder zu heilen, die betroffen sind.»
«Falls ich etwas herausfinde, werde ich versuchen, zu helfen. Vielen Dank für alles, Thisàn.»
«Ich danke dir, Talai. Ich bin froh, dich kennengelernt zu haben. Meine Tür ist für dich und dein Kae immer offen.»
Nachdem sich Thisàn auch von Dánirah verabschiedet hat, stehen die beiden Freundinnen schweigend nebeneinander am Flussufer. Talai möchte Dánirah noch so viele Dinge fragen, aber ihr fallen die richtigen Worte nicht ein. Schließlich räuspert sich die Tanna.
«Mir fällt der Abschied genauso schwer wie dir, Talai. Soll ich deiner Familie etwas ausrichten, wenn ich nach Penira komme?»
«Ich glaube nicht, dass du bis zu meiner Familie vorgelassen wirst.»
«Da täuschst du dich möglicherweise. Ich habe im Palast des Sonnenkönigs zumindest einen einflussreichen Freund. Wenn er in der Hauptstadt ist, werde ich ihn hoffentlich zu finden wissen.»
Neugierig geworden mustert Talai die Tanna. Bisher kam die Rede nie auf ihre Beziehungen in Kelèn. Aber eigentlich erstaunt es nicht, dass Dánirah auch in Penira Bekannte hat.
«Schau mich nicht an, als würden mir plötzlich grüne Haare wachsen. Ich war einige Zeit mit Liha unterwegs, dem Berater deines Vaters.»
«Du kennst Liha? Den Drachen von Kelèn? Wirst du ihn besuchen?»
«Der Drache von Kelèn? Nun, davon hat er mir noch nicht erzählt. Aber er hat immerhin an der Seite der Feuerdrachen gegen einen Feuermagier gekämpft, also hat er den Namen wohl verdient. Ja, ich kenne Liha schon lange. Wenn ich durch Penira komme, besuche ich ihn. Das kommt selten vor, aber wir sehen uns. Du kannst mir also eine Botschaft an deine Eltern mitgeben, oder an deine Brüder, wenn dir das lieber ist.»
Talai überlegt fieberhaft, wie sie die Botschaft formulieren soll. Sie setzt großes Vertrauen in Liha, aber er ist doch erster Berater des Königs. Nun, vielleicht kennt Dánirah Lihas Freund.
«Bist du dem Waffenmeister Berim schon begegnet? Er ist befreundet mit Liha.»
«Berim war nicht dabei, als wir am Nordmeer die Drachen suchten. Aber ich habe ihn später getroffen. Er ist halber Tanna, und er hat bis zu einem gewissen Grad das Gesicht.»
Das sind für Talai zu viele Neuigkeiten auf einmal. Sie weiß natürlich, dass Liha an Onishs Seite den Feuermagier Hajtash besiegte. Aber Dánirah wurde in dieser Geschichte nie erwähnt.
«Du warst bei Liha und Onish, als sie die Shahraní befreiten? Das wusste ich nicht.»
«Meine Träume führten mich damals ans Nordmeer. Nur zusammen konnten wir den Magier besiegen, Onish, Kej, Liha, Sanesh und zu einem gewissen Grad auch ich, beziehungsweise meine Träume. Ich werde dir die ganze Geschichte später einmal erzählen.»
Damit muss Talai sich wohl zufrieden geben. Für eine lange Geschichte reicht die Zeit heute wirklich nicht, so neugierig sie auch ist. Aber eine andere Frage ist noch dringender.
«Ich kenne Berim schon, seit er mich als Kind zu Dánan brachte, um mich vor dem Feuermagier zu schützen. Weshalb glaubst du, dass er das Gesicht hat?»
«Wie Senai weiß Berim Dinge, die andere nicht ahnen. Aber er lebt am Hof von Penira und zieht es vor, diese Tanna-Gabe zu verleugnen.»
Das ist etwas, über das Talai später in Ruhe nachdenken muss. Vermutlich liegt Danirah mit ihrer Einschätzung einmal mehr richtig. Sie seufzt.
«Manchmal denke ich, dass ich mit Berim und Liha mehr Zeit verbracht habe, als mit meinem Vater. Die beiden werden wissen, wieviel der König von meiner Geschichte erfahren sollte.»
«Gut, das wäre also geregelt. Möchtest du sonst noch etwas wissen?»
Talai lässt den Blick über die breite Wasserfläche des Haon schweifen. Die Fähre hat inzwischen das andere Ufer erreicht und wird soeben neu beladen. Ihr bleibt nicht mehr viel Zeit für Fragen.
«Es gibt noch vieles, das ich von dir wissen möchte, Dánirah. Mehr als du mir beantworten kannst, bevor die Fähre zurückkommt. Werden wir uns irgendwann wiedersehen?»
«Ja, das werden wir, noch bevor deine Reise zu Ende geht. Dein Schicksal ist mit meinem verwoben. Ich habe dir von meinem letzten Traum erzählt, der in Nirah spielt. Wir werden uns spätestens dort wiedersehen.»
Talai atmet tief durch. Diese letzte Information beruhigt sie ungemein. Trotzdem bedrücken sie zahlreiche unangenehme Vorahnungen und Ängste, wenn sie daran denkt, die Reise alleine fortzusetzen. Einen Moment lang ist sie versucht, Dánirah zu sagen, sie habe sich anders entschlossen und werde doch nach Penira zurückkehren. Aber das ist keine Option. Wie immer scheint Dánirah ihre Zweifel zu spüren.
«Du schaffst das, Talai. Du hast viel gelernt in den letzten Monden.»
«Ich weiß, und ich habe wohl auch nicht wirklich eine andere Wahl, außer nach Hause zurückzukehren um irgend eine politische Heirat zum Wohl des Reiches einzugehen. Trotzdem wäre es mir lieber, wir könnten zusammenbleiben.»
Gemeinsam beobachten sie, wie die Flussfähre langsam näher kommt. Der Haon ist hier nicht annähernd so breit wie weiter unten bei Haonjit. Die Fähre von Zalkenar ist kleiner, und Talai fällt auf, dass sie weder Mast noch Segel besitzt. Von der gemächlichen Strömung wird das Boot während der Querung ein gutes Stück flussabwärts getragen. Kurz vor dem Ufer steuert der Schiffer es aber in die Widerwasser einer Landzunge, die es für die Zuschauer überraschend ganz nahe an den Anlegesteg bringen. Das letzte Stück muss die Mannschaft das flache Boot allerdings mit langen Stangen vorantreiben, die in den Grund des Flusses gerammt werden. Bald liegt die Fähre sicher vertäut am Steg und wird entladen. Dánirah ergreift Talais Hand.
«Alles Gute auf deiner Reise, kleine Schwester. Ich werde jeden Tag an dich denken.»
«Dir auch alles Gute, Dánirah. Ich werde dich vermissen, wenn ich allein durch den Schnee ziehe oder in einer Gaststube auftrete.»
Mit einem Lächeln streift sich Dánirah einen ihrer silbernen Armringe vom Handgelenk und reicht ihn Talai. Diese nimmt das Geschenk überrascht entgegen. Der Ring ist schwer und mit kunstvoll eingravierten Zeichen einer alten Schrift verziert.
«Bei meinem Volk, den Tannarí, gibt es eine Legende über solche Ringe. Sie werden ‹Ringe der Wahrheit› genannt und dürfen nicht verkauft, sondern nur verschenkt werden. Dieser trägt deinen Namen, weiße Blüte. Vielleicht hilft er dir, die richtigen Entscheidungen zu treffen.»
Talai betrachtet verwundert den Ring. Wie ist es möglich, dass er ihren Namen trägt? Aber sie hat inzwischen gelernt, dass manche Dinge sich nicht einfach erklären lassen. Und seit in ihrer Laute ein Kae wohnt, ist sie bereit, sehr viele Dinge zu glauben, an denen sie bisher zweifelte.
«Danke, Dánirah. Wenn mir der Ring hilft, mich richtig zu entscheiden, ist das bestimmt eine große Unterstützung. Ist das ein magischer Ring?»
«Magie wohnt vielen Dingen inne. Trotzdem glaube ich nicht, dass dieser Ring magische Kräfte besitzt. Aber er soll dich an meine Freundschaft erinnern, und daran, dass ich deinen Entscheidungen traue. Aber geh nun, es ist Zeit, sonst legt die Fähre ohne dich ab.»
Talai umarmt die Tanna herzlich, bevor sie sich mit Tränen in den Augen abwendet, um über den Steg die Fähre zu betreten. Sie drückt dem Fährmann eine Münze für die Überfahrt in die Hand und sucht sich einen Platz an der Reling. Während die Fähre ablegt, winkt sie mit schwerem Herzen der Tanna zu, bis sie die Freundin in den Menschen am Ufer nicht mehr erkennen kann.

~ ~ ~

Mit einem enttäuschten Seufzen stapelt Liha die jüngsten Berichte seiner Informanten ordentlich auf seinem Schreibtisch. Es gibt immer noch keinen Hinweis auf den Verbleib der Prinzessin, obwohl seine besten Männer und Frauen nach ihr Ausschau halten. Er erwartet jeden Moment die Königin, die es sich nicht nehmen lässt, sich jeden Tag persönlich über den Verlauf der Suche zu informieren. Das lange erwartete Klopfen an der Tür lässt ihn trotzdem aufschrecken. Es schmerzt den alten Krieger, der besorgten Mutter einmal mehr einen abschlägigen Bescheid geben zu müssen.
Fanlaita betritt den Arbeitsraum des Drachen von Kelèn mit gefasstem Gesicht. Liha steht rasch auf, um ihr den bequemsten seiner Stühle anzubieten und eine Tasse Tee einzuschenken. Die Königin bedankt sich mit einem Nicken und bittet Liha, sich ebenfalls zu setzen.
«Keine Neuigkeiten, vermute ich?»
«Nicht über Talai, meine Königin.»
Der forschende Blick der Königin ist Liha unangenehm. Zu gern würde er ihre Hoffnungen bestätigen. Aber einmal mehr überrascht ihn Fanlaita.
«Es gibt also andere wichtige Neuigkeiten?»
«Möglicherweise. Ich würde es als eine Spur bezeichnen. Die Krankheit, die so viele Kinder heimsucht, beschränkt sich vor allem auf Siedlungen im Haontal. Penira scheint bisher weitgehend verschont zu sein. Das ist ungewöhnlich. Seuchen breiten sich sonst vor allem in Städten rasend schnell aus.»
«Was ist mit Lelai? Das ist eine Stadt, die mindestens so groß ist wie Penira.»
«Größer, würde ich sagen. In Lelei gibt es hunderte wenn nicht tausende von Krankheitsfällen. In Penira nur wenige Dutzend, und davon könnte es sich bei einigen um eine normale Grippe handeln.»
«Und was ist der Unterschied zwischen Lelai und Penira?»
«Lelai liegt im Haontal, genauso wie Zalkenar, Haonjit, G'hrak oder Ramenar. Die Krankheit scheint sich entlang des Flusses auszubreiten.»
Die Falten auf Fanlaitas Stirn zeigen, dass sie sich ernsthaft mit diesem Problem beschäftigt.
«Kann es sein, dass wir es mit einer exotischen Krankheit zu tun haben, die übers Meer nach Lelai kam und dann mit den Handelsschiffen flussaufwärts verschleppt wurde?»
«Davon gehe ich aus. Ferac hat herausgefunden, dass es im nördlichen Inoira eine Krankheit gibt, der sehr ähnliche Symptome zugeschrieben werden. Die Inoirí nennen sie Schlafkrankheit.»
«Das klingt nach einer zuverlässigen Spur. Wir sollten mit dem König sprechen.»
Entschlossen steht die Königin auf. Liha nickt und erhebt sich, um sie zu begleiten. Er ist froh, dass er Fanlaita zumindest einen Moment lang von der Sorge um ihre Tochter ablenken konnte.

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