Talai 1-6 Der Drache von Kelèn

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Der Drache von Kelèn

Die Sitzung des inneren Rats von Penira ist zu Ende. Wie immer, wenn der König abwesend ist, obliegt es seinem engsten Berater, Feldherrn und alten Freund Liha, die Regierungsgeschäfte zu steuern. Natürlich sind der Form halber auch die Königin und seit einiger Zeit der Thronfolger an den Besprechungen anwesend. Aber die Fäden laufen trotzdem alle bei dem Mann zusammen, der seit vielen Jahren den Spitznamen ‹Drache von Kelèn› trägt.
Mit einem Kopfnicken verabschiedet sich Liha von Duwish. Der etwas füllige, weißhaarige Berater hat sich kaum verändert, seit er ihn kennt. Immer noch trägt dieser sein Haar kurz geschnitten, ein Hinweis auf seine Herkunft aus dem nördlichen Kelèn. Duwish lenkt seit langem mit großen Geschick und festem Griff die wirtschaftlichen Interessen des Landes. Seit dem Tod Katims, dem dritten der ursprünglichen Vertrauten Pentims, ist er der Älteste im inneren Rat. Der König und Liha verlassen sich unbedingt auf seinen reichen Erfahrungsschatz und schätzen seine offene Art, immer seine Meinung zu sagen, mag sie noch so unbequem sein. Ferac, der junge Gelehrte und Nachfolger Katims im Rat ist ein anderer Fall. Liha verzweifelt fast daran, dem jungen Mann eine klare Aussage zu entlocken. Wenn er sich äußert, neigt er dazu, sich in langen Monologen zu verlieren, die zwar fundiert sind, aber oft wenig zur Entscheidungsfindung beitragen. So war es auch heute.
Liha blickt dem Mann mit verwuscheltem blondem Haar nach, der mit abwesendem Gesichtsausdruck die Treppe hinuntersteigt und dabei beinahe über die eigenen Füße stolpert. Die Königin räuspert sich.
«Vielleicht findet er etwas hilfreiches in seinen Büchern.»
«Hoffentlich, meine Königin. Ein Gelehrter nützt uns wenig, wenn er keine klaren Antworten beibringen kann.»
«Ich weiß, Liha. Manchmal bringt er mich beinahe zum überkochen. Aber im Moment haben wir keine anderen Möglichkeiten. Ich wünschte, Katim wäre hier. Irgend etwas an dieser unbekannten Krankheit erscheint mir seltsam Glaubst du, dass sie magische Ursachen hat?»
Liha reibt sich das glattrasierte Kinn und mustert nachdenklich den Thronfolger, der seinen Blick fest erwidert. Sie erinnern sich alle drei gut daran, wie Mirim als kleiner Junge mit einem Zauberbann belegt wurde, der ihn verzehrte wie ein Feuer. Damals galt es, den Magier unschädlich zu machen, welcher den Bann nährte. Liha war maßgeblich an dieser Aufgabe beteiligt. Der Krieger holte sich dabei nicht nur seinen Spitznamen, er lernte auch mehr über Magie, als ihm lieb war.
«Ich weiß nicht, meine Königin. Auszuschließen ist es nicht. Im Moment besitzen wir noch nicht genug Fakten, um sicher zu sein. Ich werde noch heute einen Aufruf an meine Informanten weitergeben, alles über die Krankheit und ihren Verlauf zu sammeln. Ich hoffe, dass wir mehr herausfinden, bis der König zurückkehrt.»
Fanlaita nickt. Die Abwesenheit des Königs ist in dieser Situation besonders ungünstig. Liha ist sicher, dass Pentim zurückkehren wird, sobald er etwas von dieser Krankheitswelle hört. Aber das kann lange dauern. Noch weiß niemand, ob Lellini auch betroffen ist oder ob sich die Fälle nur in Kelèn häufen. Energisch zieht die Königin den Schal um die Schultern.
«Nun, ich werde mich bei meinen Hofdamen umhören. Sie sind zwar erbarmungslose Klatschmäuler, aber in diesem Fall ist es möglich, dass ihre Gerüchte wertvolle Informationen enthalten. Ich melde mich, wenn ich etwas Brauchbares höre.»
«Danke, meine Königin.»
Liha beobachtet, wie die schlanke Gestalt Fanlaitas eilig die Treppe hinunter steigt und im Flügel mit den königlichen Gemächern verschwindet. Wer hätte vor einem Dutzend Jahren gedacht, dass sich aus der sanften, ängstlichen Gattin des Königs eine so starke und kompetente Königin entwickeln würde! Mirim wartet ab, bis sich eine Tür hinter seiner Mutter schließt.
«Liha, falls diese Krankheit tatsächlich magische Ursachen hat, sollten wir uns Hilfe holen.»
«Ich weiß, junger Herr.»
«Liha, lass das. du weißt, dass ich diesen Titel nicht ausstehen kann. Ich heiße Mirim.»
Der alte Krieger lächelt. In solchen Dingen ähnelt der Thronfolger seinem Vater mehr, als ihm bewusst ist. Vermutlich ist das eine gute Sache.
«Mirim. Ich werde mit A'shei respektive Silàn Kontakt aufnehmen, sobald sich eine Möglichkeit ergibt. Aber wir besitzen immer noch kein regelmäßiges Kommunikationssystem mit der Königin der Nacht. In solchen Fällen wäre das sehr hilfreich. Die Reise nach Eshte ist lang, besonders jetzt, wo der Winter vor der Tür steht. Aber ich werde trotzdem einen Boten nach Silita-Suan senden. Schaden kann daraus nicht erwachsen.»
«Das ist richtig. Aber ich habe noch an jemand anderen gedacht.»
Liha wirft dem Prinzen einen fragenden Blick zu. Spricht er von Onish? Der Schattenwandler vom Weg ist ein ausgezeichneter Heiler und ebenfalls ein guter Freund Lihas. Allerdings ist er mehr oder weniger ständig unterwegs und taucht immer nur unerwartet auf. Die einzige Möglichkeit, mit ihm in Kontakt zu treten, ist über das ungewöhnliche Kommunikationsnetz der Königin der Nacht oder durch eine Botschaft, die bei seiner Freundin hinterlegt wird. Kej, die Hüterin der Drachen, lebt allerdings im fernen Norden Lellinis, am großen Meer. Die Reise dorthin ist doppelt so lang wie jene nach Silita-Suan.
«Onish wäre bestimmt eine große Hilfe. Ich kenne keinen begabteren Heiler. Aber die Chance, dass er von der Krankheit hört und entweder direkt etwas unternimmt oder hierher kommt ist größer, als dass ihn eine unserer Nachrichten erreicht.»
«Das denke ich auch. Aber da gibt es noch Onishs alte Lehrmeisterin, Dánan. Sie lebt in Atara. Mit ihr Verbindung aufzunehmen ist bestimmt einfacher als mit Silàn von Silita oder Onish vom Weg.»
Natürlich hat Mirim recht. Liha lernte auch Dánan kennen, allerdings ist das sehr lange her. Die Schattenwandlerin zog damals mit dem Volk der Dämmerung, den Tannarí, ins Grasland von Linar und war dabei, als die blutjunge Königin Silàn einen Friedensschluss zwischen den Völkern der Keleni, Lelliní und Tannarí erwirkte. Die alte Frau machte damals auf ihn einen zuverlässigen und besonnenen Eindruck. Später zog sie sich in ein abgelegenes Bergtal in Atara zurück, um den jungen Schattenwandler Onish auszubilden. Sie war es auch, die Königin Fanlaita und ihren beiden älteren Kindern Unterschlupf gewährte, als ein Feuermagier Mirims Gesundheit und das Haus Diun bedrohte. Liha nickt nachdenklich.
«Dánan. Ja, das ist jemand, den wir nicht vergessen sollten. Der Weg dahin ist zwar weiter als jener nach Silita-Suan, aber im Winter wesentlich einfacher. Das einzige, was mir Sorge macht, ist dass die Schattenwandlerin vom Berg ihr Tal gut gegen Besucher gesichert hat.»
Mirims Lächeln ist siegesgewiss. Liha ahnt, was nun kommen wird.
«Sie hat das Tal gegen Eindringlinge gesichert. Aber gewisse Besucher sind willkommen. Damals, als wir abreisten, hat sie mir fest versprochen, dass ich jederzeit zurückkehren kann, wenn die Notwendigkeit besteht.»
Liha verschränkt die Arme. Auf seiner Stirn bildet sich eine Falte. Nicht umsonst wird er der Drache von Kelèn genannt. Sein Gedächtnis funktioniert ausgezeichnet und es gibt wenige Dinge, die seiner Aufmerksamkeit entgehen. Er erinnert sich noch genau, weshalb Mirim der Abschied von Dánan damals so schwer viel. Der Grund war nicht etwa die gute Bergluft von Atara oder die fachkundige Betreuung durch die Schattenwandlerin, sondern deren junge Schülerin. Miràn, ein magisch begabtes Mädchen aus dem Süden Ataras, war nur wenig jünger als Mirim. Nach den Aussagen Berims, der die Eskorte der Königin und ihrer Kinder anführte, verstanden sich die beiden ungleichen Kinder auf den ersten Blick und wurden praktisch unzertrennlich. Obwohl Mirim seiner Kinderfreundin seit damals nie wieder begegnete, vermutet Liha, dass sie mit ein Grund ist, warum der Thronfolger sich schwer tut, eine Ehefrau zu wählen. Es gibt in Penira mindestens zwei Dutzend edle junge Damen, die überzeugt sind, der Prinz mache ihnen den Hof. Aber im Gegensatz zu König Pentim und Königin Fanlaita durchschaut der Drache Mirims Manöver.
Nun gut, vielleicht ist es an der Zeit, den Thronfolger auf die Probe zu stellen. Vielleicht muss er zuerst seine Jugendliebe wiedersehen, bevor er bereit ist, einen Schritt vorwärts zu machen. Wenn das zudem hilft, die Bedrohung durch diese neue Krankheit in den Griff zu bekommen, kann es nicht schaden, wenn der Prinz nach Atara reist. Lihas Stirn glättet sich und er lächelt Mirim zu.
«Sehr gut. Ich werde mit der Königin sprechen und eine Eskorte zusammenstellen. Wann kannst du bereit sein zur Abreise?»

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