Freundin der Schatten
Kurz vor dem Mittag liegt endlich der Marktort Ramenar vor ihnen. Liha ist froh, dass sie trotz dem guten Wetter so rasch vorangekommen sind. Die frühlingshaft warme Sonne bringt den Schnee zum Schmelzen und verwandelt damit zahlreiche Straßen und Wege in Sumpf. In dieser Jahreszeit dauert es jeweils lange, bis wieder alle Strecken gut passierbar sind. Wenn er mit einer Truppe Krieger unterwegs wäre, hätte er bestimmt inzwischen das Murren über die schlechten Straßen längst satt. Aber Dánirah beklagte sich noch nicht ein einziges Mal. Im Gegenteil, sie genießt das warme Wetter und stört sich nicht im mindesten, wenn sie absteigen muss, um ihr Pferd um ein Sumpfloch herumzuführen und dabei ihre Füße und die Säume ihrer langen, dunklen Röcke schmutzig werden.
Der Heerführer von Kelèn kennt das Dorf Ramenar von zahlreichen früheren Besuchen, in offizieller und inoffizieller Mission. Inzwischen überrascht es ihn nicht mehr, wie gut sich auch seine Begleiterin in diesem Land zurechtfindet. Immer wieder stellen die beiden fest, dass sie in manchen Orten sogar gemeinsame Bekannte besitzen. Bald stellt sich heraus, dass auch Ramenar dazugehört. Als Liha sein Pferd vor einem kleinen, eher ärmlich wirkenden Gasthaus anhält, lächelt Dánirah.
«Hier? Das hätte ich mir eigentlich denken sollen.»
Ohne weitere Erklärung schwingt sie sich vom Pferd und klopft an die verwitterte Tür. Die Frau, welche öffnet, ist ein gutes Stück älter als die Tanna. Ihr einstmals rotes Haar ist von vielen grauen Strähnen durchzogen und die grünen Augen sind zwischen den zahlreichen Falten des Gesichts kaum zu erkennen. Mit einem strahlenden Lächeln schließt sie Dánirah in die Arme. Erst dann fällt ihr Blick auf Liha. Ihre Augen weiten sich.
«Sieh an, wenn das nicht eine überraschende Reisegesellschaft ist. Kommt herein, ihr beiden. Ich habe Wasser auf dem Herd und einen Kuchen im Ofen. Außerdem bin ich gespannt zu hören, was zwei so berühmte Gäste in mein bescheidenes Haus bringt.»
«Kuchen klingt gut, Kallàn. Aber wir müssen heute noch weiter.»
Die Wirtin nickt und zieht Dánirah mit sich ins Haus. Liha steigt vom Pferd und führt die beiden Tiere zum Brunnen. Erst nachdem sie versorgt sind, folgt er den Frauen. Die Gaststube ist leer, aber aus der Küche dringen leise Stimmen. Liha klopft und öffnet die Tür. Ein Geruch nach Gewürzen und frischem Kuchen zieht durch den Raum. Lächelnd reicht die Wirtin ihm einen Becher Tee.
«Nun möchte ich zu gerne die Geschichte hören, weshalb die Wahrträumerin der Tannarí und der Drache von Kelèn gemeinsam durch Nirah ziehen.»
Liha nimmt den Tee und setzt sich auf die lange Bank am Tisch zu Dánirah.
«Nun, Kallàn, wir folgen einem von Dánirahs Träumen. Wie alles zusammenhängt, wissen wir noch nicht. Aber die Sache ist wichtig, vielleicht nicht für das Bestehen von Kelèn, aber doch für das Leben vieler Kinder in allen Ländern von hier bis zum nördlichen Meer.»
Das Lächeln auf dem Gesicht der alten Frau verschwindet. Sie nickt nachdenklich, steht auf und holt den dampfenden Kuchen aus dem Ofen. Mit einem großen Messer schneidet sie drei Stücke ab und reicht sie ihren Gästen.
«Die Krankheit, die von allen gefürchtet wird. Ihr seid auf die Spur einer Heilung gestoßen?»
«Das hoffen wir. Aber der Schlüssel zu dem Rätsel liegt in den Händen einer jungen Frau, die selber krank irgendwo hier in den Bergen liegt. Wir müssen sie finden.»
Liha holt aus seiner Tasche einen Brief hervor.
«Einige meiner Krieger sind wohl auf dem Weg hierher. Es sind gute Männer. Einen davon, Raill, solltest du kennen. Kannst du ihm diesen Brief geben?»
«Raill, der Geschichtenerzähler? Natürlich gebe ich ihm den Brief, Liha. Aber nun esst. Wenn ihr heute noch weiter wollt, dürft ihr nicht zu lange bleiben. Der Weg zum nächsten Ort ist lang, bei diesen Strassenverhältnissen.»~ ~ ~
Am frühen Morgen warten Talai und He'sha vor der Hütte darauf, dass Laiàn und Sorim erwachen.
Die beiden erholen sich zusehends, brauchen aber noch eine Menge Schlaf. Luok hat sich bereits in ihr Versteck zurückgezogen und das Kae schläft friedlich in Talais Laute. Ushin liegt zusammengerollt einige Schritte entfernt auf einer Felsplatte an der Sonne. Ein leichter Wind lässt die feinen Härchen seines Fells zittern. Die junge Frau betrachtet ihren Wolfsfreund liebevoll. In den letzten Tagen war er fast ständig entweder auf der Jagd oder überwachte die Umgebung, um sicherzustellen, dass kein weiterer Angriff erfolgte. Es überrascht sie deshalb, dass er nicht schon längst vor Erschöpfung zusammengebrochen ist.
«Weißt du, wie Ushin das macht? Er besitzt beinahe unerschöpfliche Energievorräte.»
He'sha betrachtet nun ebenfalls den schlafenden Wolf. Ein Lächeln spielt um seine Lippen.
«Nein, keine Ahnung. Mag sein, dass er einfach von seinen Reserven zehrt. Aber ich nehme an, dass mehr dahinter steckt. Meine Mutter hat eine gute Freundin, eine weiße Wölfin. Sie heißt Talisha und besitzt eine eigene Art der Magie. Zumindest glaube ich das. Dein Ushin erinnert mich sehr stark an sie.»
«Er ist nicht mein Ushin, er ist ein freier Wolf und kann tun, was er will. Allerdings bin ich froh, dass er bei uns geblieben ist. Trotzdem werde ich ihm sagen, dass er sich nicht verpflichtet fühlen muss, uns weiter zu begleiten.»
«Ushin weiß das. Er bleibt freiwillig bei dir, genauso wie das Kae.»
«Warum?»
«Aus dem gleichen Grund wie ich, wir fürchten, dass du nicht allein zurechtkommst.»
He'sha schalkhafte Bemerkung bringt Talai zum Lachen. Ushins Ohren zucken und sie senkt die Stimme zu einem Flüstern.
«Da habt ihr sogar recht, ohne euch alle wäre ich in dieser Höhle erfroren und verhungert. Vielleicht sogar vorher.»
«Trotzdem ist das nicht der Grund, warum wir noch hier sind. Luok sagt, du hättest das Zeug, die Kaedin zu retten. Wenn uns das gemeinsam gelingt, und die Kinder aus der Mine noch dazu, lohnt es sich sogar heute Abend den Vollmondrat meiner Mutter zu verpassen.»
«Du solltest nach Eshte zurückkehren? Weshalb hast du mir nichts davon gesagt?»
«Weil das hier wichtiger ist. Wir sollten mit den Kindern ins Tal absteigen. Irgendwie müssen wir Mittel finden, zu stoppen, was in dieser Mine passiert. Aber zuerst brauchen wir einen sicheren Platz für die beiden.»
Talai fürchtet, dass das schwierig werden könnte. Sie kennt hier kaum jemanden und auch He'sha ist mit Nirah nicht vertraut.
«Ich habe in Tenar eine nette Wirtin kennengelernt. Vielleicht könnte sie für die Kinder sorgen, oder sie weiß jemanden, der bereit wäre, sie aufzunehmen. Andererseits könnten sie uns bestimmt helfen. Niemand kennt die Mine so gut wie die beiden.»
«Das stimmt. Vielleicht sollten wir bei dieser Frau in Tenar vorbeischauen. Wenn die Kinder dort bleiben möchten, gut. Aber ich bezweifle, dass sie so schnell zu jemandem Vertrauen fassen.»
Damit hat He'sha natürlich recht. Aber es gibt noch einen anderen Grund, warum Talai hinunter ins Tal möchte.
«Dánirah ist unterwegs hierher. Sie sagte, wir würden uns im Frühjahr in Nirah treffen. Vielleicht ist das die Unterstützung, die wir brauchen.»
«Dann spricht wohl alles dafür, dass wir nicht den Weg über die Berge zur Mine nehmen. Gut. Ich habe Luok bereits vorgewarnt, dass ich mit euch absteige. Sie war nicht begeistert, aber wir haben für heute Nacht einen Treffpunkt it in der Nähe von Tenar vereinbart. Also los, lass uns aufbrechen.»
He'sha steht entschlossen auf, um Sorim und Laiàn zu wecken. Talai nickt und beginnt, ihre Sachen zu packen. Wenn sie heute noch bis hinunter nach Tenar wollen, ist es höchste Zeit, dass sie losgehen. Ushin steht mit einer geschmeidigen Bewegung auf und blinzelt sich den Schlaf aus den Augen. Dann entblößt er in einem Wolfslächeln eine Reihe spitzer Zähne. Talai klaubt eine Handvoll Schnee zusammen und wirft sie nach ihrem Freund.
«Du hast gelauscht. Weißt du, dass das unhöflich ist?»
‹Menschen sprechen so laut, dass ein Wolf unmöglich in der Nähe schlafen kann.›
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Talai
FantasyNach einem Überfall findet sich die rebellische Tochter des Sonnenkönigs allein in einem fremden Land - einem Land, dessen Kinder von einer tödlichen Krankheit heimgesucht werden. Auf dem langen Weg nach Hause findet Talai überraschend Hilfe und Fre...