In den Felsen
Sorim sucht sich einen sicheren Halt und blickt zurück. Etwa drei Mannslängen über ihm macht sich Laiàn bereit, die beiden Taschen zu ihm hinunterzulassen. Das improvisierte Seil aus zusammengeknoteten Riemen ist zu kurz, sie muss die Gepäckstücke ein Stück in Sorims Arme fallen lassen. Aber der Junge fängt eine Tasche nach der anderen auf und setzt sie sicher auf dem schmalen Felsband ab, auf dem er selbst steht. Nun ist es an Laiàn, zu ihm hinunterzuklettern. Dies ist das bisher schwierigste Steilstück und er versucht, seiner Freundin so gut wie möglich zu beschreiben, wo sie Halt für ihre Fußspitzen oder Finger findet. Zum Glück ist Laiàn schwindelfrei. Sorim muss sich eingestehen, dass sich das Mädchen besser hält, als er es ihm je zugetraut hätte. In den Felsen bewegt es sich mindestens genauso geschickt oder sogar geschickter als er selbst. Inzwischen haben sie den steilen Abstieg zur Hälfte geschafft, und die Sonne steht noch eine Handbreit über dem Horizont. Wenn sie sich beeilen, erreichen sie den Fuß der Felswand vor Einbruch der Dunkelheit und können so ein weiteres Hindernis zwischen sich und ihre Verfolger bringen.
Sobald Laiàn sicher neben ihm steht, ist es an ihm, die Führung zu übernehmen, damit sie Atem schöpfen kann. Er sieht sich nach ihrem zuverlässigen Führer um. Das Diuneld tanzt bereits über der nächsten Felsstufe und weist ihm den Weg. Entschlossen klettert er los. Der Abstieg wird schwieriger und Sorim benötigt alle Konzentration, die er aufbringen kann, um nicht den Halt zu verlieren. Sie besitzen weder Seil noch Haken und können sich nicht gegenseitig sichern. Trotzdem kommen sie gut voran. Sobald die Sonne ihre letzten goldenen Strahlen über dem Bergkamm im Westen schickt, erreichen sie den Fuß des Steilhangs, wo das Terrain flacher wird.
Sorim hilf Laiàn, neben ihm einen sicheren Stand zu finden. Sie lächelt ihm zu.
«Beinahe geschafft. Das ging besser, als ich befürchtete. Und wir haben noch genug Tageslicht, ein Versteck für die Nacht zu suchen.»
Sorim nickt und blickt sich nach dem Diuneld um. Ihr Begleiter tanzt ein Stück unterhalb über einer beinahe schneefreien Geröllhalde und gibt ihnen die Richtung an. Das Wesen scheint es eilig zu haben. Entschlossen nimmt der Junge seine Tasche auf und folgt dem Funkenwirbel. Laiàn zögert nicht, sich anzuschließen. Im Licht der letzten Sonnenstrahlen durchqueren sie stolpernd das Geröllfeld. Sorim versucht vergeblich, das Funkenwesen zu bewegen, das Tempo herabzusetzen. Endlich erreichen sie eine flache, grasbewachsene Stelle. Das braune, noch vom Schnee flachgedrückte Gras erlaubt es ihnen, besser voranzukommen. Der Lichtwirbel bewegt sich nun noch schneller und führt sie zu einem Bach, der gemächlich durch die Wiese fließt. Dort hält das seltsame Wesen an und führt einen Tanz über den großen, vom eiskalten Wasser um- und überspülten Steinen auf. Sorim blickt fragend zu Laiàn.
«Was es wohl jetzt von uns will?»
«Hmm, vielleicht möchte es uns sagen, wir sollen durchs Wasser gehen? Das würde unsere Spur für den Hund verwischen, nicht wahr?»
Wie zur Bestätigung wirbelt das Wesen schneller um seine Achse. Dann leuchten seine Funken in eine kräftigen Glühen auf und beginnen zu verblassen. Sorim und Laiàn sehen zu, wie sich das Wesen vor ihnen im letzten Sonnenstrahl auflöst und sie in der zunehmenden Dämmerung allein lässt.
«Ich glaube, es ist nur im Sonnenlicht sichtbar. Lass uns weitergehen, Sorim, durch den Bach, wie es vorgeschlagen hat. Meine Schuhe sind ohnehin durchweicht vom Schnee. Vielleicht können wir unsere Spur verwischen, solange es hell genug ist, etwas zu erkennen.»
Sorim nickt. Laiàn hat recht. Er ist inzwischen wirklich müde, aber nun, da sie eine echte Chance haben, den Verfolgern zu entkommen, dürfen sie nicht innehalten. Er geht seiner Freundin voran in das eiskalte Wasser.
Das Vorankommen auf den überspülten, rutschigen Steinen ist mühsam und bald spürt Sorim seine Füße nicht mehr. Er wirft einen Blick über die Schulter zu Laiàn.
«Kannst du noch?»
«Nicht mehr lange. Aber einen Moment werde ich es noch aushalten. Lass uns eine Stelle suchen, wo wir den Bach unauffällig verlassen können, über Felsen oder so.»
Es ist schon fast dunkel, als Sorim endlich eine geeignete Stelle entdeckt. Er klettert ungeschickt mit gefühllosen Füßen über eine flache Felsplatte ans Ufer und reicht Laiàn eine Hand, um ihr zu helfen. Das Mädchen ist fast völlig durchnässt.
«Wir müssen einen Ort finden, wo wir Feuer anzünden und unsere Sachen trocknen können.»
Das ist nicht einfach. Sie bewegen sich so schnell als möglich von dem Bach weg, immer bemüht, keine Spuren zu hinterlassen. Im schwachen Licht erahnt Sorim etwas tiefer im Tal eine dunkle Masse. Laiàn erkennt sie im gleichen Moment.
«Ist das da vorne ein Wald? Wir könnten unter den Bäumen ein Feuer anzünden, so dass unsere Verfolger es nicht sehen.»
Sorim bezweifelt, dass sie das schaffen. Aber ohne Feuer werden sie die Nacht in ihren nassen Sachen nicht überleben. Bald erreichen sie die ersten Bäume. Sie stehen zu weit auseinander, um einen wirksamen Sichtschutz zu bieten. Deshalb stolpern die beiden Ausreißer weiter. Plötzlich lässt ein überraschter Ausruf Laiàns Sorim zusammenfahren. Er dreht sich zu ihr um. Es dauert einen Moment, bis er erkennt, auf was ihr ausgestreckter Finger im Licht des aufgehenden Mondes zeigt. Die Hütte ist so winzig, dass Sorim sie im Vorbeigehen nicht bemerkte. Aber sie hat ein Dach und neben dem Eingang ist sogar etwas Holz aufgestapelt.
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Talai
FantasiNach einem Überfall findet sich die rebellische Tochter des Sonnenkönigs allein in einem fremden Land - einem Land, dessen Kinder von einer tödlichen Krankheit heimgesucht werden. Auf dem langen Weg nach Hause findet Talai überraschend Hilfe und Fre...