Talai 3-6 Besuch im Mondlicht

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Besuch im Mondlicht

Ushin folgt dem Lichtwesen über den Pass und auf der anderen Seite wieder in ein Tal hinunter. Während das Diuneld eine Handbreit über dem Boden schwebt, bricht der junge Wolf immer wieder tief in die Oberfläche des verkrusteten Schnees ein. Dies kostet ihn viel Kraft und verlangsamt sein Vorankommen. Er weiß, dass er bald eine Pause einlegen muss. Immerhin steht die Sonne bereits im Zenith. Das bedeutet, dass die Oberfläche des Schnees weich wird und er noch häufiger und tiefer einsinkt.
Ushin brach bereits am frühen Morgen auf, um dem Diuneld zu folgen. Allerdings erst nachdem er kurz zur Hütte zurückgekehrt war, um Talai Bescheid zu sagen, dass eines der Lichtwesen seine Hilfe brauche. Talai zeigte dafür erwartungsgemäß Verständnis. Aber sein Wolfsgesicht verzieht sich zu einem Lächeln, als er an He'shas verschlafenen und erstaunten Gesichtsausdruck denkt. Der Schattenmagier hatte noch nie Gelegenheit, ein Diuneld kennenzulernen. Das ist eigentlich nicht weiter erstaunlich, Wesen der Dunkelheit haben nur selten Kontakt mit Wesen des Lichts. Nun, seit Talai Ushin aus der Falle befreite, ist der junge Wolf nicht mehr überrascht von seltsamen Begegnungen und Zufällen.
Deshalb folgt er dem Diuneld so schnell er es vermag. Er versteht das Lichtwesen nur ansatzweise, spürt aber, dass es seine Aufgabe für dringlich hält. Die wenigen Fetzen von Gedankenbildern, die er entschlüsseln kann, zeigen ihm immer wieder Gefahr und Bedrohung. Wenn Ushin nicht gerade kürzlich von einem der Diuneldí gerettet worden wäre, würde er bestimmt zögern, diesem seltsamen Führer so vertrauensvoll zu folgen. Aber er fühlt sich den geheimnisvollen Lichtwesen gegenüber verpflichtet, genauso wie Talai gegenüber. Wenn nicht das Diuneld und die junge Frau beide bereit gewesen wären, ihm zu helfen, wäre er inzwischen nicht mehr am Leben. Deshalb kämpft sich der junge Wolf tapfer weiter durch den weichen Schnee voran.

~ ~ ~

Mit der Hand beschattet Sorim seine Augen. Er sucht einmal mehr die Schneehänge über ihnen nach den Verfolgern ab, während Laiàn eine kurze Rast benötigt. Ungeduldig wirbelt das Diuneld, das pünktlich zum Sonnenaufgang wieder vor der Hütte erschien, auf der Stelle.
Die Nacht in der Hütte war überraschend erholsam. Sorim briet das Kaninchen, das er am Morgen zuvor gefangen hatte. Zusammen mit einer Suppe aus den Fischresten ergab das eine ergiebige Mahlzeit. Allerdings verzehrten sie heute Morgen ihre letzten Vorräte. Wenn sie nicht bald neue Nahrung finden, werden sie ab jetzt hungern müssen. Aber immerhin verbrachten sie eine warme Nacht und von ihren Verfolgern ist nichts mehr zu sehen.
Sobald Laiàn sich wieder aufraffen kann, folgen sie dem Diuneld weiter den Hang hinunter. Nach einer offenen Fläche erreichen sie einen bewaldeten Hang, wo sie besser vor suchenden Augen verborgen sind. Im Vorbeigehen beginnt Sorim, die Spitzen von Tannenzweigen abzureißen. Laiàn fragt ihn, weshalb.
«Die sind essbar. Natürlich wären junge Frühjahrstriebe besser, aber zur Not können wir bestimmt auch diese alten essen. Wir haben keine Vorräte mehr und müssen früher oder später irgendetwas finden.»
Ohne weitere Bemerkung beginnt Laiàn nun ebenfalls, Tannenspitzen abzureissen. Sorim weiß, dass sein Großvater daraus manchmal Tee kochte und ihm erzählte, in einer Hungersnot hätten sie sich auch schon davon ernährt. Er hofft, dass das nicht nur eine Geschichte war. Im Moment können sie es sich nicht leisten, einen Tag Pause zu machen um zu angeln oder Fallen aufzustellen. Und im Wald wächst um diese Jahreszeit noch nichts Essbares. Vielleicht treffen sie unten im Tal auf eine Hütte und finden Hilfe.
Als sie um die Mittagszeit endlich die Talsohle erreichen, ist der Junge erleichtert. Hier ist der Schnee an vielen Orten schon geschmolzen, und sie kommen leichter voran. Es fällt ihm auf, dass das Diuneld sie vorzugsweise über Stellen führt, an denen sie wenig Spuren hinterlassen. Er geht deshalb davon aus, dass sie immer noch verfolgt werden. Laiàn macht die gleiche Beobachtung.
«Das Diuneld glaubt, dass die Verfolger noch nicht aufgegeben haben.»
«Ja, so sieht es aus. Vielleicht ist es auch nur besonders vorsichtig. Aber ich würde darauf nicht wetten. Ich hatte gehofft, wir könnten endlich eine Pause einlegen und vielleicht in einem Dorf nach etwas zu essen fragen.»
«Besser nicht, wenn das Diuneld es nicht vorschlägt. Bisher hat es uns nur geholfen.»
Sorim nickt und stapft schweigend weiter. Er ist froh, dass Laiàn das Tempo im großen und ganzen gut durchhält. Trotzdem sorgt er sich wegen der fehlenden Vorräte.
Das Lichtwesen führt sie zu einer Stelle, an der sie den Bach am Talgrund überqueren können. Die Kinder benutzen die Gelegenheit, ihre Wasserflaschen aufzufüllen. Kurz darauf erreichen sie einen festgetretenen, schneefreien Weg. Der Funkelwirbel verharrt einen Moment und setzt sich dann talaufwärts wieder in Bewegung. Sorim zögert, ihm zu folgen. Wenn sie noch weiter in die Berge hineingehen, wird die Wahrscheinlichkeit, dass sie Hilfe finden, bestimmt nicht größer. Aber Laiàn schubst ihn an.
«Geh weiter. Es weiß bestimmt, wie wir am besten entkommen können.»
«Wie kannst du so sicher sein, dass es uns helfen will?»
«Hat es schon etwas anderes getan? Es ist unsere beste Hoffnung.»
«Du hast recht. Hoffen wir bloß, dass es daran denkt, dass wir auch einmal essen müssen.»
Kurz darauf wählt das Diuneld eine felsige Stelle, um den Weg zu verlassen. Diesmal folgt Sorim ohne Zögern.
Der Aufstieg ist zunächst einfach, wird aber bald steiler. Sorim setzt stetig einen Fuß vor den anderen. Sie sind nun schon so lange unterwegs, dass ihn jeder weitere Schritt große Anstrengung kostet. Er blickt zurück zu Laiàn, die mit gesenktem Kopf hinter ihm herstapft. Der Junge verzichtet darauf, sie anzusprechen. Froh darüber, dass sie immer noch durchhält, schont er lieber seine eigenen Kräfte.
Sie erreichen wieder einen Wald. Unter den Bäumen ist es merklich kühler und die Sonne dringt nur selten bis auf den Boden. Deshalb liegt an manchen Stellen noch Schnee. Das Diuneld führt sie stetig aufwärts und Sorim fragt sich, ob es sie wohl zu einem weiteren Pass bringt. Dies würde ihre Fluchtchancen natürlich erhöhen.
Endlich erreichen sie eine hochgelegenen Terrasse an der Baumgrenze. Von einer Felsnase aus bietet sich eine gute Aussicht hinunter ins Tal. Sorim erkennt den Weg, den sie gekreuzt haben. Darauf sind zwei Gruppen Menschen zu erkennen. Sofort duckt er sich zu Boden und zieht Laiàn mit sich. Aber bei der einen Gruppe scheint es sich um eine Familie mit Kindern zu handeln. Zumindest sind drei der Gestalten deutlich kleiner als die anderen beiden. Die zweite Gruppe, die etwas hinter der ersten talaufwärts zieht, ist verdächtiger. Er erkennt drei Erwachsene und einen Hund. Laiàn kommt zum gleichen Schluss.
«Das sind sie. Wir haben immer noch einen guten Vorsprung. Wir sollten weitergehen. Denkst du, dass sie uns sehen können?»
«Ich weiß nicht. Sie blicken fast direkt in die Sonne, wenn sie zu uns hochschauen. Das hilft uns bestimmt. Komm, lass uns gehen, das Diuneld möchte weiter.»
Eilig machen sie sich wieder auf den Weg. Kurz bevor die Sonne den Horizont erreicht, hält das Lichtwesen vor einer kleinen, aus Steinen gefügten Hütte. Sie schmiegt sich eng an eine Felswald und das Dach besteht aus flach geschichteten Steinplatten, die auf verwitterten Holzbalken ruhen. Sorim sieht sich um. Das Haus befindet sich in einem Talkessel knapp unterhalb der Baumgrenze. In geringer Entfernung sprudelt ein Bach, an dessen Ufer einige Tannen wachsen. Vermutlich wird das Haus von Hirten benutzt, die Vieh auf die Sommerweiden bringen. Eine niedrige Tür und zwei Fenster sind mit Brettern verschlossen. Sorim rüttelt einmal daran und stellt fest, dass sie eher zum Schutz gegen die Witterung als vor Dieben gedacht sind. Es gelingt ihm leicht, die Verschalung der Tür zu entfernen. Geduckt wirft er einen Blick durch den Eingang in das düstere Hausinnere. Er erkennt einen kleinen Tisch, zwei Stühle und eine Pritsche mit einer strohgefüllten Matratze. In einer Ecke liegt eine offene Herdstelle, daneben ist ein Holzvorrat aufgeschichtet. Sorim dreht sich um und tritt wieder vor das Haus, wo Laiàn und das Diuneld auf ihn warten.
«Wir könnten hier übernachten. Was denkst du?»
Dabei blickt er nicht Laiàn an, sondern das Lichtwesen. Es wirbelt zur Antwort schneller um seine Achse und löst sich dann in einem Funkensturm auf.
«Das sollte wohl ja heißen. Komm, schauen wir uns das Haus näher an.»
Laiàn betritt den Raum als erste. Besorgt eilt Sorim ihr nach, als er ihren überraschten Aufschrei vernimmt. Aber dem Mädchen droht keine Gefahr. Mit dem Finger zeigt es zu einem Balken über der Herdstelle. Dort hängen neben einem rußgeschwärzten Beutel unverkennbar zwei dünne Hartwürste.

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