Talai 2-5 Musik für ein Bett

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Musik für ein Bett

Die Fähre ist nicht besonders voll und Talai steht etwas abseits der anderen Passagiere. Sobald sie Dánirah nicht mehr erkennen kann, wendet sie sich dem näherkommenden Ostufer des Flusses zu. Sie war erst einmal in Gerin, und das als kleines Kind. Ihre Erinnerungen an diese Zeit sind geprägt von ihrem Aufenthalt bei Dánan in Atara. Von der Reise dorthin weiß sie kaum noch etwas. Sie wird sich auf die Empfehlungen und Beschreibungen von Dánirah und Thisàn verlassen müssen, um ihren Weg nach Süden zu finden. Unbewusst tastet sie nach der Karte in ihrer Tasche und atmet beruhigt auf, als sie das wertvolle Geschenk spürt.
Zwei Männer treten neben sie an die Reling und Talai rückt etwas zur Seite, um ihnen Platz zu machen. Ungewollt hört sie, wie die beiden Händler, die mit schwer beladenen Wagen reisen, erwähnen, dass sie noch heute Richtung Nonar ziehen wollen, sofern der Zustand der Straße das zulässt. Das ist auch Talais Richtung, und einen Moment lang überlegt sie, ob sie die Händler bitten soll, sich ihnen anschließen zu dürfen. Die Männer sind ordentlich gekleidet und sehen eigentlich vertrauenswürdig aus. Einer scheint mit seiner Frau und ihrer kleinen Tochter zu reisen. Aber schließlich entscheidet sie sich doch dagegen. Sie will lieber alleine weiterziehen, als noch einmal in eine unangenehme Situation wie damals bei Ushar zu kommen.
Deshalb zögert Talai nicht, sich gleich nach dem Erreichen des anderen Ufers auf den Weg zu machen. Sie folgt der Straße, die ein kurzes Stück zu einer Ansammlung von Häusern ansteigt. Ein Blick zurück zeigt ihr, dass die Händler gerade dabei sind, mithilfe der Fährleute die schweren Wagen an Land zu bringen. Vielleicht sieht sie diese Reisegruppe ja später wieder, in einem der Gasthäuser auf dem Weg nach Nonar. Sie hat Dánirah versprochen, wenn immer möglich nicht allein in den Wäldern zu übernachten. Allerdings ist sie nicht überzeugt, dass ein Gasthaus in jedem Fall die sicherere Wahl ist. Aber sie weiß inzwischen, wie gefährlich es ist, im Winter allein draußen zu übernachten. Ein kleiner Fehler kann dabei leicht das Leben kosten. Talai will mit allen Mitteln verhindern, dass ihr dieser Fehler unterläuft.
Östlich des Flusses gibt es nur wenige Gebäude, ein Gasthaus und einige Ställe für Reisende, die über Nacht auf die Überfahrt warten müssen. Die Häuser sind weniger gut gepflegt als jene von Zalkenar. Wer hier nicht geschäftlich zu tun hat, zieht es wohl vor, auf der anderen Seite des Flusses zu wohnen. Talai verlässt den Ort, ohne von jemandem angesprochen zu werden.
Nun ist sie also wieder alleine unterwegs, aber diesmal nicht, um auf direktem Weg nach Hause zurückzukehren. Diesmal steht ihr eine lange Reise mit unbekanntem Ziel und durch ein fremdes Land bevor. Wenn da nicht das schlafende Kae in ihrer Laute und Danirahs Ring an ihrem Arm wären, würde sie sich wohl selbst für verrückt halten. Auch so ist die Verlockung groß, umzukehren und mit der nächsten Fähre wieder nach Kelèn überzusetzen. Aber Dánirah hat ihr bis jetzt nie einen Grund gegeben, an ihr oder ihren Träumen zu zweifeln. Deshalb vermutet Talai, dass ihr Schicksal sie so oder so in die Ebene von Sié führen wird, früher oder später. Da ist es bestimmt besser, wenn sie freiwillig den möglichst direkten Weg einschlägt.
Dieser Gedanke muntert sie etwas auf. Zügig setzt sie ihren Weg fort. Er führt durch die sumpfige Flussebene des Haon, vorbei an großen Schilffeldern und gefrorenen Wasserflächen. Es ist kalt, trotz des schönen Wetters, und sie geht schnell, um sich warm zu halten. Gegen Mittag begegnet sie einigen Reisenden, die in der Gegenrichtung unterwegs sind und eine geeignete Stelle für eine Rast entdeckt haben. Sie laden Talai ein, an ihrem Feuer zu sitzen. Gerne willigt sie ein, denn zu der gemischten Gruppe gehören auch Kinder. Auch nach so langer Zeit belastet sie noch die Erinnerung an den Überfall in Inoira. Vermutlich wird sie noch lange auf jede unerwartete Begegnung misstrauisch reagieren. Während dem Essen tauscht sie mit den Wanderern, die zu einem Familienfest nach Zalkenar ziehen, Informationen zum Zustand der Straße aus. Talai erfährt, dass sie noch vor dem Einbruch der Nacht einen Weiler erreichen wird, in dem es ein Gasthaus gibt.
Ermutigt macht sie sich wieder auf den Weg. Die Gegend ist flach und eintönig. Die Sonne bringt den Schnee zum Schmelzen und taut den Boden auf. Bald ist die Straße mit Pfützen übersät. Talai fragt sich, wie wohl die Händler mit ihren schweren Wagen vorankommen. Bestimmt sinken die Räder im aufgetauten Morast ständig ein. Als am späten Nachmittag endlich die Häuser des angekündigten Dorfes in Sicht kommen, ist sie erleichtert. Inzwischen wird es schon wieder kalt, und Nebel bilden sich über dem Sumpfland.
Talai betritt die Gaststube etwas zögernd, gespannt darauf, was sie erwartet. Aber sie sorgt sich unnötig. Noch sitzen nur wenige Gäste an den Tischen und der Wirt ist dabei, an der Theke Gläser zu trocknen. Er mustert Talai nachdenklich von oben bis unten und zieht einen Mundwinkel etwas nach oben.
«Du siehst aus, als möchtest du für eine Mahlzeit und ein Bett unsere Gäste unterhalten. Kannst du mit diesem Instrument umgehen?»
Talai wickelt ihre Laute aus dem Tuch, in dem sie sie mitträgt, und spielt einige Akkorde. Sofort wenden sich die Gäste neugierig zu ihr um. Der Wirt nickt zufrieden.
«Sehr gut. Meine Frau wird dir einen Schlafplatz in einer unserer Kammern zeigen. Außerdem kannst du mit uns essen und später spielen, während die Gäste ihre Mahlzeit erhalten.»
«Danke. Das ist sehr nett. Ich bin mit der Fähre von Zalkenar gekommen und ich glaube, dass einige Händler heute hier übernachten wollen. Aber die Straße war ziemlich schlecht, vermutlich werden sie erst spät eintreffen.»
«Ja, sobald es zu tauen beginnt, ist die Straße für schwere Wagen oft kaum passierbar. Nun, wir haben genug Platz. Im Winter gibt es nicht viel Verkehr, das ändert sich erst, wenn es wieder wärmer wird.»

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