Der Brunnen von Sié
Es wird bereits dunkel, als Dánirah die Stufen zum Haupttor des Palasts emporsteigt. Die Treppe besteht aus weißem Stein mit polierter Oberfläche und ist so breit, dass Dutzende von Menschen gleichzeitig nebeneinander hinaufsteigen könnten. Sie demonstriert unmissverständlich die Macht und den Reichtum des Sonnenkönigs. Das riesige Palasttor aus schwarzem Holz nimmt sich dagegen fast klein aus. Aber der Eindruck täuscht. Dánirah weiß aus Erfahrung, dass der Eingang bequem hoch genug für einen der berittenen Fahnenträger des Königs ist. Er muss nicht einmal die blaue Fahne mit dem goldenen Sonnensymbol senken. Allerdings wird dieses Tor nur selten und zu besonderen Festanlässen von der Reiterei benutzt. Pferde ziehen den flacheren Seiteneingang des Palastes der zeremoniellen Treppe vor.
Heute ist das Tor geschlossen und die Torwachen mustern Dánirah mit finsteren Blicken. Sie ahnt bereits, dass sie diesmal kein Glück haben wird. Wenn nicht zufällig einer der Krieger Dienst tut, der sie persönlich kennt oder doch zumindest von ihr gehört hat, wird sie selten direkt zu Liha vorgelassen. Trotzdem lohnt es sich, es zu versuchen. Falls sie Erfolg hat, kann sie noch am gleichen Abend mit ihrem alten Freund sprechen. Andernfalls wird es unter Umständen einen oder zwei Tage dauern, bis sie ihn erreicht.
Es ist, wie Dánirah vermutet hat. Die Torwachen nehmen sich nicht einmal die Mühe, auf ihre Fragen zu antworten. Stur blicken sie geradeaus, als ob die Tanna gar nicht vorhanden wäre. Sie ist sich solche Reaktionen gewöhnt. Viele Keleni halten Tannarí immer noch für minderwertig und ihrer Aufmerksamkeit nicht würdig. Deshalb wendet sie sich ab und steigt die lange Treppe wieder hinunter. Sie kennt zum Glück andere Wege, den Drachen von Kelèn zu erreichen.
Gemächlich, um bei den Wachen keinen unnötigen Verdacht zu erwecken, überquert Dánirah den großen Platz am Fuß des Palasthügels und biegt in eine Seitengasse zur Linken ab. Sie kennt den Weg zu dem kleinen Gasthaus in der Unterstadt auswendig, aber sie will einem allfälligen Verfolger nicht die Genugtuung bereiten, ihren Weg nachvollziehen zu können. Deshalb verbringt sie die Zeit bis zum Einbruch der Dunkelheit damit, kreuz und quer durch die Hauptstadt zu ziehen.
Schließlich hält sie vor einem Gasthaus an, das sich durch nichts von anderen solchen Häusern unterscheidet. Die schwere Tür führt in einen kleinen Vorraum, von dort betritt Dánirah die Gaststube. Das Licht ist nicht besonders hell, aber sie kann erkennen, dass nur wenige Plätze an den großen, roh gezimmerten Tischen besetzt sind. Die Wahrträumerin sucht sich einen Platz in einer Ecke, von dem aus sie den ganzen Raum überblicken kann. Bei einem jungen Mädchen bestellt sie einen Teller Eintopf. Die Bedienung sieht mit ihren blonden Locken und den großen, graublauen Augen Talai sehr ähnlich, wenn auch das Gesicht schmaler ist und im Vergleich zu der Prinzessin sehr jung und unerfahren wirkt. Dánirah blickt der jungen Kelen gedankenverloren nach. Wie es Talai und ihrem Kae wohl geht? Ob sie den Brunnen von Sié schon erreicht haben? Sie hat seit Tagen nichts geträumt und weiß nicht, ob sie das als gutes oder schlechtes Zeichen werten soll.
Das Mädchen kommt mit ihrer Bestellung zurück, und Dánirah lächelt ihm freundlich zu.
«Ist Naiin heute hier?»
«Ja, sie ist hinten. Soll ich sie rufen?»
«Richte ihr einfach aus, eine alte Bekannte sei hier. Sie wird wissen, was zu tun ist.»
Etwas verwirrt geht das Mädchen wieder und Dánirah macht sich mit großem Hunger über die ausgezeichnete Mahlzeit her, froh, dass die Wirtin heute Abend im Haus ist. Aus dem Augenwinkel beobachtet sie, wie die Tür zu einem Hinterzimmer sich einen Spalt breit öffnet. Naiin hat sich überzeugt, wer die Besucherin ist. Vermutlich ist jetzt bereits eine Botschaft in den Palast unterwegs.Dánirah hat ihren Teller geleert und einen Krug Tee bestellt. Sie weiß, dass sie sich in Geduld üben muss. Nach einer Weile setzt sich die Hausherrin persönlich an ihren Tisch. Die Kelèn ist ein Stück älter als Dánirah, aber sie ist immer noch schlank und geht aufrecht. Das schneeweiße Haar trägt sie in einen komplizierten Zopf geflochten.
«Dánirah! Schön. Dass dich dein Weg wieder einmal zu uns führt. Wie geht es dir?»
«Danke, Naiin, es geht mir gut. Vor allem nach einem Teller deines ausgezeichneten Eintopfs.»
«Schmeichlerin. Hast du einen Moment Zeit, dir etwas anzusehen?»
Dánirah füllt ihren Becher mit dem letzten Tee und folgt ihrer Gastgeberin in das Hinterzimmer. Niemand in der Gaststube beachtet die beiden Frauen, die über eine Bemerkung Danirahs lachend die Tür hinter sich zuziehen. Niemand weiß, dass Naiin in einem riesigen Informationsnetz eine wichtige Rolle spielt, dessen Fäden bei einem einzigen Mann zusammenlaufen. Die Wirtin bedeutet Dánirah, ihr durch den Raum in einen Flur zu folgen. Von dort erreichen sie über eine Treppe einen kleinen, gemütlich eingerichteten Raum im Obergeschoss. Die Wände sind mit Holz verkleidet und in einem offenen Kamin brennt ein Feuer. Davor sitzt ein Mann auf einem niedrigen Hocker. Er steht auf, um den beiden Frauen entgegenzutreten. Sein Gesicht ist durch eine Kapuze verborgen. Erst als Naiin und Dánirah vor ihm stehen, schlägt er sie zurück.
Mit einem fröhlichen Lachen umarmt der glattrasierte Kelen zuerst Naiin und dann Dánirah.
«Es tut wirklich gut, euch beide wieder einmal zu sehen. Verzeih mir, Naiin, ich war viel zu lange nicht mehr hier. Und du, Dánirah? Was treibt dich in die Mauern der ungeliebten Stadt?»
Die Wahrträumerin lächelt. Dieser Mann kennt sie viel zu gut. Er sieht aus wie immer, vielleicht etwas weniger sonnengebräunt und das braune Haar von mehr Silberfäden durchzogen.
«Nun, vielleicht wollte ich einfach deinen stattlichen, nicht vorhandenen Bart wieder einmal sehen.»
Liha lacht herzhaft. Damals in Lelliní, auf der Jagd nach dem Feuermagier, hatte er sich einfachheitshalber einen Bart stehen lassen. Dánirah wird nicht müde, ihn mit seiner damaligen struppigen Erscheinung zu necken. Sie weiß, dass dem Drachen von Kelèn bewusst ist, dass ein triftiger Grund sie dazu bewegt, die Hauptstadt zu besuchen. Die Tanna bedeutet Naiin und Liha, sich zu setzen.
«Hört zu. Wie ihr euch vorstellen könnt, hat mich ein Traum hierher gesandt. Ich lernte vor einiger Zeit in Haonjit eine bemerkenswerte junge Frau kennen. Sie ist unterwegs nach Nirah, in Begleitung eines Kae und mit einer Aufgabe, die ich nur zum Teil verstehe. Ihre Mission steht aber im Zusammenhang mit dieser Krankheit, die sowohl menschliche Kinder wie auch Kaedin heimsucht.»
«Wie immer sprichst du in Rätseln, Dánirah. Wer ist diese Frau?»
Naiin mustert ihren alten Freund und die Tanna nachdenklich.
«Vielleicht willst du das gar nicht so genau wissen, Liha, und ganz bestimmt nicht aussprechen, zumindest nicht außerhalb dieses Zimmers.»
Die Augen des ersten Beraters des Königs weiten sich. Dánirah nickt bestätigend.
«Wie geht es ihr? Ich habe Krieger ausgeschickt um sie zu suchen.»
«Es geht ihr gut. Sie ist wohl stärker, als du glaubst und hat sowohl einige verborgene Talente wie auch eine Aufgabe zu erledigen, behaupten meine Träume. Was sie jetzt braucht, ist Unterstützung, nicht eine Eskorte die sie heimholt.»
Der Drache von Kelèn nickt langsam. Dánirah ist froh, dass er ihr nach wie vor vollkommen vertraut.
«Sehr gut. Naiin, sind wir hier ungestört? Ich glaube, ich möchte die ganze Geschichte hören.»
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Talai
FantasyNach einem Überfall findet sich die rebellische Tochter des Sonnenkönigs allein in einem fremden Land - einem Land, dessen Kinder von einer tödlichen Krankheit heimgesucht werden. Auf dem langen Weg nach Hause findet Talai überraschend Hilfe und Fre...