Heimkehr
Mirims Gesichtsausdruck zeigt offen Überraschung. Dánans Eröffnung, dass ihre Schülerin Miràn mit ihm nach Kelèn reisen werde, um sich die kranken Kinder persönlich anzusehen, bringt seine Gedanken zum Wirbeln. Die Schattenwandlerin lächelt wissend und er hat das beunruhigende Gefühl, dass sie direkt in seinen Kopf hineinsehen kann. Aber sie verzichtet darauf, ihn auf seine Verwirrung anzusprechen. Stattdessen mahnt sie zur Eile.
«Nun, da alles entschieden ist, solltet ihr euch bereit machen. Der Neuschnee liegt tief und es wird euch viel Zeit kosten, bis Himenar abzusteigen.»
Miràn eilt kommentarlos davon, um ihre Sachen zu packen. Mirim glaubt, auf ihrem Gesicht ein flüchtiges Lächeln zu erkennen. Die junge Frau besitzt nur wenig und davon lässt sie das meiste in Dánans Hütte zurück. Nur einige zusätzliche Kleidungsstücke wandern in eine alte Tragetasche. Die warme Winterkleidung zieht Miràn sich über. Dánan reicht ihr zudem einen in wasserdichtes Wachstuch eingeschlagenen Beutel mit Heilkräutern, den sie sorgfältig wegpackt.
Mirim geht hinaus um sein Pferd zu satteln, das die Nacht bei den Ziegen im kleinen Stall neben dem Holzschuppen verbrachte. Er wird sich im Dorf Himenar, wo seine Eskorte auf ihn wartet, nach einem Reittier für Miràn umsehen müssen. Ob sie überhaupt reiten kann? Vielleicht sollte er besser einen Wagen besorgen ... Er weiß immer noch nicht, ob er erfreut oder besorgt über die Entwicklung der Dinge sein soll. Er sehnte sich danach, Miràn wiederzusehen. Aber obwohl die junge Frau viele Züge seiner Kinderfreundin aufweist, hat sie sich doch sehr verändert. Sie lässt sich in keiner Weise mit den Damen am Hof von Penira vergleichen. Ihre Selbstsicherheit und Unabhängigkeit verunsichern den Prinzen. In der kurzen Zeit ihres Wiedersehens ist ihm klar geworden, dass Miràn nicht mehr das schüchterne kleine Mädchen ist, das er vor vielen Jahren kennenlernte. Heute ist sie eine ausgebildete Magierin und Heilerin, eine selbstbewusste Frau, die entschlossen ist, den Kampf gegen eine unbekannte Krankheit aufzunehmen. Er fragt sich, ob es eine gute Idee ist, sie nach Penira mitzunehmen. Was sie wohl zum Königshof und den Menschen, die dort leben sagen wird? Er lächelt über seine jugendlichen Phantasien. Heute scheint es ihm unmöglich, sich Miràn bei einem Ball am Hof vorzustellen. Aber ihm fallen keine Argumente ein, mit denen er sie von ihrem Vorhaben abbringen könnte. Deshalb führt er seinen Hengst vor das Haus.
Miràn verabschiedet sich gerade von ihrer Lehrmeisterin. Dánan macht nicht viele Worte. Trotzdem ist Mirim sicher, dass es ihr schwerfällt, ihre Schülerin ziehen zu lassen. Diese scheint sich auf das bevorstehende Abenteuer zu freuen. Dánan umarmt sie herzlich und wendet sich dann dem Prinzen von Kelèn zu.
«Mirim, es hat mich gefreut, dich wiederzusehen. Ich hoffe, dass ihr rasch ein Heilmittel für diese Krankheit findet. Falls ich etwas erfahre, werde ich versuchen, es euch wissen zu lassen. Pass auf meine Miràn auf und bring sie mir heil zurück.»
«Ich werde mir Mühe geben, Dánan. Aber ich glaube, Miràn kann auf sich selber aufpassen.»
Dánan lächelt dazu nur und Miràn wirft ihm einen betont finsteren Blick zu. Nun, es wird sich in den nächsten Tagen bestimmt zeigen, ob er und seine erste große Liebe überhaupt noch irgendwelche Gemeinsamkeiten besitzen.~ ~ ~
Die Wintersonne lässt die Schneekristalle glitzern, als Dánirah und Talai sich auf den Weg machen. Ihre Kleider sind trocken und Talai verbrachte eine wunderbar erholsame Nacht in der Küche des Bauernhauses. Der Tochter ging es am Morgen eindeutig besser und Dánirah, die ein wenig von der Heilkunst versteht, war überzeugt, dass das Kindes sich nun rasch erholen werde. Trotzdem rätselt Talai dieser seltsamen Krankheit nach. Vor ihrem Besuch in Lelai hatte sie noch nie etwas davon gehört und nun wird auf jedem Marktplatz und in jedem Gasthaus von der Seuche gesprochen. Für sie klingt das Wort Seuche hässlich, so als gäbe es dafür keine Heilung. Weshalb also erholte sich dieses kleine Mädchen trotzdem? Sind vielleicht all die Geschichten, die sie im letzten Mond hörte, übertrieben? Dánirahs warme Stimme holt sie aus ihren Gedanken.
«Worüber denkst du so angestrengt nach, Talai?»
«Über diese Krankheit. Ich verstehe nicht, was sie auslöst und weshalb sie die Menschen so in Angst versetzt. Ich habe bereits soviel darüber gehört, aber irgendwie passt das alles nicht zusammen. Weißt du mehr darüber?»
«Nein, ich verstehe zu wenig von Krankheiten und der Heilkunst. Bei meinem Volk gibt es viele gute Heiler. Aber mir ist diese Gabe verschlossen.»
«Du verstehst auf jeden Fall viel mehr davon als ich.»
«Ich bin auch schon länger auf den Straßen dieses Landes unterwegs und habe in dieser Zeit einige Dinge erlebt und gelernt. Aber meine einzig wahre Gabe sind die Träume.»
«Du sprichst davon, als wären sie eine Last.»
«Das sind sie manchmal. Aber ich will mich nicht beklagen. Meine Träume bringen mich mit vielen interessanten Menschen zusammen und führen mich immer wieder in neue Gegenden. Ich bin auf dem Nordmeer gefahren und habe das Hochland von Eshekir durchquert. Ich kenne die Wälder von Atara und die Steppen von Sellei. Ich habe Freunde in abgelegenen Dörfern in Nirah und Inoira, aber auch in den großen Städten Penira und Lelai.»
Etwas an Dánirahs Worten weckt in Talai eine unerklärliche Sehnsucht. Sie versucht, sich vorzustellen wie ein Leben unterwegs aussehen muss, ohne Familie, ohne die Gewissheit, am nächsten Abend wieder ein Dach über dem Kopf zu haben. Sie ist nun schon lange unterwegs und sehnt sich ständig nach dem Ende ihrer Reise, nach ihrem warmen Bett und geregelten Mahlzeiten.
«Ich weiß nicht, ob ich leben könnte wie du, Dánirah. Immer unterwegs, bei jedem Wetter draußen, ohne je zu wissen, ob du am Abend irgendwo willkommen bist.»
«Dafür, dass du solche Zweifel hegst, schlägst du dich recht gut, Tochter von Kelèn.»
«Du hilfst mir ja auch. Du kennst dich mit so vielen Dingen aus, von denen ich keine Ahnung habe. Du kannst im Schnee ein Feuer entfachen und in einer Schlinge einen Hasen fangen. Du weißt, wo es gutes Wasser gibt und wo Wanderer Unterschlupf finden. Ohne dich wäre ich bestimmt längst erfroren. Ich bin wirklich dankbar, dass dein Traum uns zusammenführte.»
«Ich bin auch froh, dich getroffen zu haben. Aber glaube nicht, dass mein Traum mich nur zu dir brachte, damit ich dir zeige, wie du im Winter überleben kannst. Erinnerst du dich, dass ich träumte, wie wir zusammen durch den Schnee ziehen? Ich glaube, dieses Traumbild geht heute in Erfüllung. Das bedeutet, dass nun bald der nächste Traum in dieser Folge ansteht. Vielleicht heute Nacht, vielleicht morgen. Ich fürchte, dass noch ein langer Weg vor uns beiden liegt, der möglicherweise über die goldene Stadt des Sonnenkönigs hinausführt.»
Talai verspürt bei diesen Worten ein Frösteln. Sie zweifelt immer noch daran, dass Dánirahs Träume die Zukunft voraussagen. Wie ist so etwas möglich? Andererseits spricht alles dafür, dass ihre Weggefährtin die Wahrheit sagt. Was könnte sie mit einer Lüge gewinnen? Es wird ihr wohl nichts anderes übrigbleiben, als zusammen mit der Tanna geduldig auf die Fortsetzung des Traums zu warten - und dabei zu hoffen, dass er nichts Schlimmeres voraussagt, als einen Fußmarsch durch den Schnee.
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Talai
FantasyNach einem Überfall findet sich die rebellische Tochter des Sonnenkönigs allein in einem fremden Land - einem Land, dessen Kinder von einer tödlichen Krankheit heimgesucht werden. Auf dem langen Weg nach Hause findet Talai überraschend Hilfe und Fre...