Talai 3-11 Besuch im Tal von Hilak

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Besuch im Tal von Hilak

Talai blickt He'sha und Luok so lange nach, bis sie die Silhouette der Hrankae vor dem dunklen Himmel nicht mehr erkennen kann. Erst dann verabschiedet sie sich auch von Ushin und dem Kae und kehrt zu Sorim und Laiàn in die Hütte zurück. Ihre beiden Freunde wollen diese Nacht Wache halten, für den Fall, das die Verfolger der beiden Kinder doch einen zweiten Versuch wagen, sie zu überfallen. Talai überprüft den Bogen, der auf dem Tisch bereitliegt, und setzt sich zu den beiden Kindern ans Feuer. Sorim sieht sie fragend an.
«Sind deine Freunde jetzt weg?»
«Ja, He'sha und Luok fliegen zu der Mine, um zu sehen, wie die Verhältnisse dort sind. Sie kommen morgen noch vor Sonnenaufgang zurück. Ushin und das Kae werden die Nacht über Wache halten und uns warnen, wenn jemand in die Nähe kommt. Ihr seid sicher, hier.»
Sorim nickt, er scheint aber nicht ganz von ihren Worten überzeugt zu sein. Überraschenderweise ist es Laiàn, die ihren Befürchtungen Ausdruck gibt.
«Meine Mutter hat mich immer gewarnt, mich vor den Wesen der Dunkelheit in Acht zu nehmen. Sie sagte, sie besitzen gefährliche Magie und stehlen den Menschen die Seele.»
Natürlich hat Talai solche Gerüchte auch schon gehört. Aber ähnliches wird über die Tannarí erzählt und über alle Menschen, die irgendwie anders sind.
«Ich weiß nicht, weshalb deine Mutter dir das erzählt hat, Laiàn, sie wird ihre Gründe gehabt haben. Aber das Kae hat mir mindestens einmal das Leben gerettet und mich vor schlechten Menschen beschützt. Und wenn He'sha und Luok nicht gekommen wären, als ich wirklich schwer krank in einer kalten Höhle lag, wäre ich bestimmt gestorben. Deshalb glaube ich nicht, dass Wesen der Nacht schlecht sind. Sie sind einfach anders, aber das sind die Diuneldí auch, die euch geholfen haben.»
Laiàn wirkt nachdenklich. Talai schenkt den Kindern Tee ein, dankbar für den neuen Vorrat, den He'sha aus Atara mitbrachte. Plötzlich hebt das Mädchen den Kopf.
«Dann kennst du He'sha und das Kae und diese andere Dunkelheit schon lange?»
«Das Kae, ja. He'sha und Luok habe ich am Brunnen von Sié kennengelernt. Das ist eine Wasserstelle im Hochland von Gerin. Damals hatte ich auch Angst vor den beiden. Aber später haben sie mir geholfen. Und jetzt sind wir Freunde.»
Sorim nickt entschlossen.
«Mein Großvater sagte immer, es spiele keine Rolle, ob ein Freund schwarzes oder rotes oder blaues Haar habe, solange er ein guter Freund sei.»
«Nun, das klingt als habe dir dein Großvater viele wichtige Dinge beigebracht. Er muss ein bemerkenswerter Mann gewesen sein.»
In Sorims Augen kann Talai ein verräterisches Glänzen erkennen. Obwohl der Junge von den beiden Kindern derjenige ist, der die Verantwortung übernimmt und Entscheidungen fällt, ist er doch der jüngere und scheint seinen Großvater ehrlich zu vermissen. Talai legt tröstend eine Hand auf seinen Arm und greift mit der anderen nach ihrer Laute.
«Hört zu, ihr beiden. Wir können heute Nacht nicht viel tun. Wir werden morgen früh entscheiden, wie wir weiter vorgehen, sobald He'sha und Luok zurückkehren. Wahrscheinlich werden wir bald von hier weggehen, hinunter ins Tal. Deshalb solltet ihr so viel wie möglich schlafen, damit ihr morgen Kraft habt. Wenn ihr euch jetzt hinlegt, werde ich noch etwas für euch spielen. Was haltet ihr davon?»
Laiàns Augen leuchten auf und Sorim trocknet seine Tränen.
«Kennst du das Lied von den mächtigen Feuerdrachen? Singst du es für uns?»

~ ~ ~

Es ist nicht schwer, die Mine im Tal von Hilak zu finden. Sorims Beschreibung war ziemlich genau, der Junge scheint einen guten Orientierungssinn zu besitzen. Luok zieht langsame Kreise hoch über dem Tal.
Einige Fackeln beleuchten das Minengelände. Rings um die beiden Schachteingänge herrscht reges Treiben. He'sha vermutet, dass gerade ein Schichtwechsel stattfindet. Soeben klettern die letzten einer Reihe von kleinen, verschmutzten Gestalten aus dem Stollen und schleppen sich müde in Richtung der Schlafbaracken. Dann steigen zahlreiche andere Personen in die Mine hinunter. Darunter befinden sich nur wenige Erwachsene, genau wie Sorim berichtete. Das meiste sind Kinder, manche nicht älter als Sorim, manche in Laiàns Alter oder bereits Jugendliche. Ihnen allen gemeinsam ist das abgehärmte Aussehen. Kein Lachen und kein lautes Wort dringen durch die Nacht, und sogar die harschen Aufforderungen der Aufseher, schneller voranzumachen, klingen müde und hoffnungslos.
He'sha schaudert beim Gedanken daran, dass die meisten der Kinder, die nun nach und nach in den Stolleneingängen verschwinden, krank sind. Einige von ihnen werden diese Schicht vielleicht nicht überleben. Er sieht sich weiter um, während Luok zu einer neuen Schleife ansetzt. Dort drüben, etwas oberhalb der Schlafhütten der Kinder, liegen die Verwaltungsgebäude der Mine. Sie sind deutlich solider gebaut und von einem hohen Zaun umgeben. He'sha erkennt dahinter Hunde, die das Gelände bewachen. Und dort, unterhalb der Mine, liegt der Friedhof, wo die toten Kinder bestattet werden. Entsetzt zählt He'sha die frisch aufgeschütteten Gräber. Es sind weit mehr, als er erwartet hat. Luok schnaubt unterdrückt.
«Ich glaube, Talai hat recht. Es ist die Mine, die die Kinder krank macht. So schlimm wie hier war es noch nirgends, wo wir nach Zeichen dieser Krankheit suchten.»
«Das ist gut möglich. Aber weshalb beschränkt sich die Krankheit dann nicht auf die Mine? So wie es aussieht, wird das Erz aus den Stollen geholt und dort drüben weiterverarbeitet. Siehst du die große Schlackenhalde und die Glut der beiden großen Schmelzöfen? Die Minenbesitzer ließen bereits fast den ganzen Wald im Tal abholzen, um sie Tag und Nacht zu betreiben. Bald werden sie neues Holz mit Wagen heranschaffen müssen. Die Öfen liegen direkt an der Straße. Daneben stehen die Wagen für den Transport des fertig aufbereiteten Silbers. Weshalb wird also die Krankheit bis weit hinunter ins Haontal verschleppt, wenn sie hier in diesem abgelegenen Tal wurzelt?»
«Ich weiß es nicht. Aber es muss irgend einen Grund geben. Spürst du auch die seltsame Magie an diesem Ort?»
«Ja. Sorim hat mir heute erzählt, dass in der Mine Magier arbeiten. Sie bereiten Brennsteine auf, damit die Kinder in den Stollen genug Licht haben, um das Erz abzubauen. Ich vermute, dass eine besondere Art der Schattenmagie dazu verwendet wird. Er sagt, die Steine würden von dem Magier in einem großen Kessel mit Licht gefüllt. Leider konnte er mir nicht mehr über den Prozess berichten, als dass die behandelten Steine während längerer Zeit ein bläuliches Licht abgeben. Sorims Aufgabe als Lichtjunge war es, die aufgebrauchten Steine einzusammeln und durch neue zu ersetzen. Die alten Steine wurden dann wieder aufgeladen.»
«Das klingt tatsächlich nach starker Magie. Ich frage mich, wozu dieser Magier sonst noch in der Lage ist.»
«Keine Ahnung. Auf jeden Fall scheint er kein Heiler zu sein.»
Luok schnaubt verächtlich.
«Hat dir Sorim gesagt, wo wir den Magier finden können?»
«Da müsste ein freistehendes Haus ganz im Norden sein, in der Nähe des Bachs. Vielleicht dort drüben?»
Bald kreist Luok über der Stelle. He'sha schließt die Augen, um sich auf die seltsame magische Ausstrahlung zu konzentrieren, die von dem großen Haus ausgeht. Es ist tatsächlich eine Art Schattenmagie, aber er hat keine Ahnung, wie sie genau funktioniert. Dazu müsste er näher herankommen.
«Luok, kannst du mich hinter dem Haus absetzen? Ich möchte nachsehen, was dieser Magier genau macht.»
Durch ihre Gedankenverbindung spürt der junge Mann deutlich die Besorgnis der Hrankae. Trotzdem setzt sie kommentarlos etwas abseits des großen Hauses zur Landung an. He'sha lässt sich geräuschlos von ihrem Rücken gleiten. Bevor die Schattenverbindung abreißt, sendet Luok ihm eine  Mahnung.
‹Sei bitte vorsichtig, bleib in deiner Schattenform. Wir wissen nicht, wie stark dieser Magier ist.›
‹Versprochen. Ich bin bald zurück.›

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