Abstieg ins Tal
Das Wetter, das nun lange Zeit freundlich war, verschlechtert sich zusehends. Wolken ziehen auf und Talai fürchtet, dass es bald zu schneien beginnt. Ushin, der ihren Gedanken auffängt, hebt den Kopf und studiert ebenfalls den Himmel.
‹Du hast recht, es riecht nach Schnee. Aber wir können das Dorf der Menschen erreichen, bevor es beginnt, wenn Laiàn durchhält.›
Talai nickt und spricht Laiàn ein weiteres Mal freundlich zu. Das Mädchen ist müde und stolpert ab und zu beinahe über die eigenen Füße. Aber seine Augen leuchten freudig auf, als kurz vor Einbruch der Dunkelheit endlich die Lichter von Tenar zu erkennen sind. Talai führt das Mädchen an der Hand. Sorim, der etwas vorausgeht, wendet sich um.
«Ist das Tenar?»
«Ja, bald sind wir da. Ich hoffe bloß, dass im Gasthaus ein Zimmer für uns frei ist.»
He'sha, der schon seit einer Weile schweigsam war, fasst Talai am Arm. Im Dämmerlicht beginnen seine Augen bereits silbern zu leuchten. Plötzlich begreift Talai, warum der Sohn der Königin der Nacht nicht mit ins Dorf kommen will.
«Ich sollte mich verabschieden. Dort im Dorf werden sie sich über meinen Besuch nicht freuen. Luok kommt bestimmt bald. Ich werde morgen früh am Ausgang des Dorfes auf euch warten, wie abgemacht.»
Laiàn betrachtet den jungen Mann besorgt.
«Aber wo wirst du schlafen, wenn du nicht mit uns mitkommst?»
Talai findet, dass die Frage berechtigt ist. He'sha war den ganzen Tag mit ihnen unterwegs, und bestimmt wird er nicht viel zum Ruhen kommen, wenn er sich nun mit der nachtaktiven Luok trifft. Aber der junge Mann zuckt nur die Schultern.
«Ich brauche nicht viel Schlaf. Das liegt in meiner Familie. Mach dir keine Sorgen, Laiàn.»
Er drückt Talai einige Münzen in die Hand. Sie nickt dankbar. Es besteht keine Sicherheit, dass sie mit ihrem Lautenspiel auch die Unterkunft für die beiden Kinder bezahlen kann.
«Danke, He'sha. Ich gebe es dir zurück, sobald ich Gelegenheit finde, genug zu verdienen. Ushin meint, es werde heute Nacht Schnee geben. Bist du sicher, dass du draußen bleiben willst?»
«Ja, ich muss Luok treffen. Außerdem waren wir den ganzen Winter zusammen draußen unterwegs. Schnee macht uns nicht viel aus.»
«Wie du meinst. Wenn wir Glück haben, kann ich heute Abend für ein Publikum Laute spielen. Dabei gelingt es mir vielleicht, etwas über die Mine in Erfahrung zubringen.»
«Das ist eine gute Idee, aber sei vorsichtig. Schade dass ich nicht hören kann, wie du spielst. Versprich mir, dass du einmal einen Abend lang für mich allein spielst.»
«Dann bekomme ich bestimmt Ärger mit Luok.»
«Nun gut, dann musst du für Luok, Ushin, das Kae und mich spielen. Und natürlich für Sorim und Laiàn. Ist das besser?»
«Das ist ja ein richtig großes Publikum. Gut, das verspreche ich!»
Die beiden tauschen einen langen, besorgten Blick aus. Talai ist froh, dass He'sha sich bemüht, die beiden Kinder aufzuheitern. Sorims ernstes Gesicht lässt sie ahnen, dass der Junge trotzdem an seine Leidensgenossen in der Mine denkt. Mit einem Gedankenbild verabschiedet sich Talai von Ushin, der ebenfalls nicht mit ins Dorf kommen will. Der Wolf lässt sie ungern ziehen.
‹Pass auf dich und auf die Kinder auf.›
Talai streicht ihm beruhigend durchs Fell und nimmt Laiàns Hand. Das Mädchen winkt He'sha und Ushin zum Abschied zu. Sorim wirkt nachdenklich.
«Was ist mit He'shas Augen los?»
«Sie leuchten im Mondlicht. Das liegt in seiner Familie.»
«Kommt er deshalb nicht mit uns?»
«Deshalb, und weil er mit Luok auf Erkundung fliegen will. Wenn wir den anderen Kindern in der Mine helfen wollen, brauchen wir einen Plan.»Talai fühlt sich unwohl, als sie zwischen die Häuser kommen. Es scheint ihr endlos lange her, seit sie sich unter fremde Menschen begab. Sie bemüht sich, die beiden Kinder nichts von ihrer Unsicherheit merken zu lassen. Noch bevor sie den Dorfplatz erreichen, an dem das Gasthaus liegt, wird sie angerufen.
«He, bist du nicht die Lautenspielerin, die vor einem halben Mond drüben im Goldenen Schlüssel spielte? Schön dass du wieder da bist. Wirst du heute Abend spielen?»
«Ich weiß nicht, ich muss die Wirtin fragen, ob sie mich haben will.»
«Die will bestimmt. Falls nicht, entgeht ihr ein gutes Geschäft. Komm, ich begleite dich. Ich kann dann gleich den anderen Bescheid sagen, dass es heute Abend ein Fest gibt!»
Talai ist nicht sicher, ob sie über diese Begegnung glücklich sein soll. Der fremde junge Mann ist aber freundlich und sie versucht, sich an ihn zu erinnern. Aber an jenem Abend waren zu viele Leute anwesend, und vermutlich setzte bei ihr bereits damals das Fieber ein.
Als sie das Wirtshaus erreichen, merkt sie, dass sie sich tatsächlich vergebens Sorgen machte. Die Wirtin schließt sie zur Begrüßung in die Arme.
«Talai! Schön, dass du wieder da bist. Du kommst gerade richtig, wir hatten schon lange keine richtig Musik mehr im Schlüssel! Und wer sind denn diese beiden kleinen Spatzen? Kommt herein, ihr seht ja halb verfroren und verhungert aus. Und ein heißes Bad könntet ihr auch vertragen, alle drei. Zum Glück haben wir schon Wasser aufgesetzt. Kommt, kommt herein, in der Küche ist es warm.»
Die Wirtin redet immer noch ununterbrochen und Talai kann sich ein Lächeln über ihre Begeisterung nicht verkneifen. Der junge Mann sieht es und blinzelt verschwörerisch zurück, bevor er sich verabschiedet, um im Dorf die Nachricht über den unerwarteten Musikabend zu verbreiten.
DU LIEST GERADE
Talai
FantasyNach einem Überfall findet sich die rebellische Tochter des Sonnenkönigs allein in einem fremden Land - einem Land, dessen Kinder von einer tödlichen Krankheit heimgesucht werden. Auf dem langen Weg nach Hause findet Talai überraschend Hilfe und Fre...