Talai 2-17 Ein schlechter Traum

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Ein schlechter Traum

Tenar ist der größte Ort, den Talai auf ihrer Wanderung durch Nirah bisher zu Gesicht bekam. Dunkle Häuser stehen eng zusammengedrängt auf einer Terrasse weit über dem Tal des Dioàr. Hinter dem Dorf steigt das Gelände rasch an. Hier beginnt das mächtige Frostgebirge, Wahrzeichen des Landes Nirah. Seine Gipfel tragen auch im Sommer Kappen aus ewigem Schnee und nur wenige Menschen wagen es, die gefährlich hohen Pässe zu überqueren, die in die Länder im Süden führen. Jetzt, im Winter, wirkt das Gebirge majestätisch mit seinen tief verschneiten Flanken, die von gezackten schwarzen Felsbändern unterbrochen werden.
Der Schnee auf den Dächern der niedrigen Häuser des Dorfes schmilzt in der Sonne und tropft von den Schindeln. Auf der Straße liegt Matsch und Talais abgenutzte Schuhe sind rasch durchweicht. Die Gebäude sind kleiner als in Kelèn oder Gerin, mit schmalen Fenstern und niedrigen Türen. Das dunkle Holz zeigt Spuren der Witterung und des Alters. In der Dorfmitte liegt ein offener Platz mit einem öffentlichen Brunnen. Hier gibt es auch ein Gasthaus. Es ist nicht so groß, wie die Gaststätten in Kelèn, sieht aber ordentlich aus.
Talai klopft sich den Schnee von den Schuhen und streift ihre Kapuze zurück. Ihre Kleidung hat sie heute Mittag an einem Bach so gut wie möglich von Flecken gereinigt. Die Kleidungsstücke zeigen inzwischen unverkennbar Spuren ihrer langen Reise. Die Ärmel ihrer Jacke fransen aus, ihre Hose ist abgestoßen. Das Haar trägt sie in einen ordentlichen Zopf geflochten, der ihr weit über den Rücken hängt. Sie hofft, dass sie in Tenar für eine Übernachtung und ein Bad spielen kann. Schlimmstenfalls ist sie bereit, einige ihrer hart verdienten Münzen für diesen Luxus auszugeben.
Talai macht sich vergeblich Sorge. Die Wirtin des einzigen Gasthauses von Tenar bietet ihr einen herzlichen Empfang. Rotes Kraushaar und grüne Augen zeichnen sie als gebürtige Nirahn aus. Jünger als die meisten Wirtsleute, welche Talai unterwegs kennenlernte, besitzt sie eine grundlegend gute Laune. Bereitwillig erzählt sie von ihrem Unternehmen.
«Endlich geht dieser Winter zu Ende. Du bist wie der Vorbote des Frühlings! Im Sommer kommen laufend fahrende Sänger nach Tenar, aber im Winter haben wir kaum Gäste, und wenn, dann sind es Jäger und Fallensteller, die zur Winterjagd in die Berge hinaufziehen. Wirklich interessante Menschen reisen zu dieser Jahreszeit nicht hierher. Ich habe seit Monden keine fröhliche Musik gehört. Wenn sich deine Anwesenheit im Dorf herumspricht, ist die Gaststube heute Abend bestimmt zum Bersten voll. Möchtest du dich frisch machen? Das Mädchen kann Wasser wärmen. Ich werde kurz bei den Nachbarn vorbeischauen, um ihnen zu sagen, dass es heute Abend Musik gibt!»
Talai ist beinahe erschlagen von dem Redeschwall der Wirtin. Dankbar folgt sie dem Mädchen in die Küche und hilft ihm, Wasser für ein Bad zu wärmen. Das Kind ist erst zehn oder zwölf Sommer alt, auf einem Auge blind und sehr schüchtern. Erst nach einer Weile ist es bereit, Talai etwas mehr über das Leben in diesem Gasthaus zu erzählen. Die quirlige Wirtin führt den Betrieb seit dem Tod ihres Mannes alleine, mit einer Köchin und einem Stallburschen, welcher der ältere Bruder des Mädchens ist. Talai erfährt außerdem, dass alle gerne für die rothaarige Frau arbeiten und dass es heute Abend bestimmt ein richtiges Fest geben wird.
Nach dem Bad fühlt sich Talai wie neugeboren. Sie deponiert ihre wenigen Besitztümer in einer Kammer und macht sich in der Küche nützlich. Bald arbeitet sie mit der Wirtin und dem Mädchen daran, genügend Brot und Kuchen für den Abend zu backen. Die Köchin rührt unterdessen in einem Eintopf und der Stalljunge schleppt Getränke aus dem Keller heran. Talai genießt das fröhliche Treiben. Als ihr Magen ob all der leckeren Gerüche zu knurren beginnt, schöpft ihr die Köchin einen Teller voll Eintopf.
«Hier, du bist ja halb verhungert. Hör auf, Teig zu kneten und sieh zu, dass du wieder zu Kräften kommst. Du musst schließlich heute Abend in der Lage sein, deine Laute zu halten. Erzähl uns von deiner Reise, was führt dich mitten im Winter zu uns nach Nirah?»

Talai ist froh, als die letzen Gäste nachts das Wirtshaus verlassen. Die Einwohner von Tenar waren tatsächlich gerne bereit, ein spontanes Fest zu feiern. Sie spielte den ganzen Abend. Zum Glück fand sich irgendwann ein alter Mann ein, der sie auf seiner Flöte begleitete und sogar einige Stücke alleine spielte, damit sie sich ausruhen konnte, während fröhlich weiter getanzt wurde.
Sie genoss den Abend sehr, aber nun ist sie erschöpft und möchte eigentlich nur noch schlafen. Aber zunächst will sie nach dem Kae sehen. Sie darf eines der freien Gästezimmer benutzen, in welches das Mädchen bereits ihre Tasche brachte. Der Raum ist klein, aber er liegt über der Gaststube und ist gemütlich warm. Talai sieht sich nach dem Kae um. Die kleine Dunkelheit ist nirgends zu finden. Auch auf den Ruf mit einem Gedankenbild reagiert sie nicht. Das Wesen der Nacht ist vermutlich wieder auf seiner verzweifelten Suche nach Artgenossen. Talai hofft, dass es spätestens am Morgen wieder auftaucht. Sie macht sich jedesmal Sorgen, solange sie nicht weiß, wo ihr kleiner Begleiter sich befindet. Trotzdem fallen ihr die Augen zu, sobald sie in dem bequemen Bett liegt.

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