Talai 1-11 Der Rat von Silita-Suan

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Der Rat von Silita-Suan

Der Vollmond wirft sein helles Licht in den obersten Burghof von Silita-Suan. Die kahlen Äste eines mächtigen Baums ragen ihm entgegen. Silfanu, der Mondbaum, ist das Wahrzeichen des Hauses Silita. Dessen Wappen zeigt Silfanus Silhouette vor dem Vollmond, darüber ein Drache. Ein Bild, das heute Nacht entstanden sein könnte, denkt He'sha. Denn in diesem Moment zieht der Schatten eines großen Drachens vor dem Mond vorbei. Kräftige Flügelschläge bringen den Hrankae zum Hof, wo er geübt neben dem Mondbaum aufsetzt. Er wirft schnaubend den Kopf zurück und mustert die Versammelten. Dann neigt Ranoz den Kopf vor Silàn, der Königin der Nacht. Seine Stimme rumpelt tief in der Kehle.
«Ahranan, ich grüße dich. Noak wird gleich hier sein. Sie trägt einen Reiter, das kostet Kraft.»
Silàn tritt zu Ranoz, um dem mächtigen Wesen der Nacht die Kehle zu kraulen. He'sha weiß, dass der Älteste der Harnkae diese Liebkosung schätzt, allerdings würde er nie jemanden anderes als die Königin so nahe an sich heranlassen. Um Ranoz' Nüstern kräuselt sich zufriedener schwarzer Rauch. He'shas Blick gleitet über die Anwesenden. Neben seiner Schwester Tanàn sitzt unter dem Mondbaum eine große weiße Wölfin. Ihre goldenen Augen blinzeln Ranoz freundlich zu. Talisha ist für einen Wolf sehr alt und eine alte Freundin der Königin und des Drachenschattens. Damit ist der Rat aber bei weitem nicht vollzählig. Das fällt auch Ranoz auf.
«Ahranan, wo sind Silmira, die Xylin und die Kaedin?»
«Silmira kommt aus Atara, ein weiter Weg für ein Mondlicht. Die Xylin und Kaedin sollten jeden Moment eintreffen. Außerdem habe ich ein Ijenkae gebeten, heute zu kommen.»
In diesem Moment tanzen einige farbig leuchtende Kugeln über die Burgmauer in den Hof. Das Glockenläuten der Xylin entlockt der Königin ein Lächeln. Die schillernden Kugeln verharren schwebend in der Krone des Mondbaums, um auf die fehlenden Ratsmitglieder zu warten.
Wie fünf kleine schwarze Schattenflecken gleiten die Kaedin über die Mauerbrüstung in den Hof. Obwohl die kleinen Dunkelheiten die Berge nicht besonders lieben, stellen sie regelmäßig eine Delegation im Rat von Silita. Heute werden sie von einem wesentlich größeren Schattenwesen begleitet. Das Ijenkae, das seit vielen Jahren engen Kontakt mit der Königin der Nacht pflegt, ist einer der letzten Vertreter der scheuen ‹großen Dunkelheiten›. Es begrüßt die Anwesenden mit einem starken Gedankenbild von Freundschaft und lässt sich im Schatten Silfanus nieder, wo es selbst für die anderen Wesen der Nacht kaum zu erkennen ist.
Nun fehlen noch Noak von den Hrankaedí mit ihrem Reiter und Silmira, die Seherin der Nsil.
Es dauert nicht lange, bis ein riesiger Schatten den Mond verdunkelt und Noak elegant im Hof landet. Die Hrankae ist etwas kleiner als Ranoz, ihre schuppige Haut schillert dunkelviolett während ihre Flughäute fast durchscheinend sind. Von ihrem Rücken lässt sich A'shei zu Boden gleiten. Der Tanna mit dem langen schwarzen Haar und den silbernen Augen nickt allen freundlich zu, bevor er Silàn, seine Partnerin, herzlich umarmt.
«A'shei, Noak. Wir sind froh, dass ihr hier seid. Wir warten nur noch auf Silmira.»
Kurz darauf taucht die silbern leuchtende Gestalt des Mondlichts auf. Die Nsil faltet ihre hauchdünnen Flügel zusammen, bis sie mit den Falten ihres Gewandes verfließen, und wendet sich an die Königin.
«Verzeih meine Verspätung, Silàn. Der Weg war lang für jemanden, der nur im Mondlicht reist.»
«Willkommen, Silmira. Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich bin dir dankbar, dass du diesen Auftrag übernommen hast. Was kannst du uns berichten?»
«Dánan vom Berg lässt dich grüßen. Sie sagte, sie spüre seit einiger Zeit eine Unruhe und sei überzeugt, dass eine Krise bevorstehe. Sie wird alles in ihrer Macht Stehende tun, um zu helfen. Ich habe auch versucht, Onish vom Weg zu erreichen. Es heißt, er sei in Sellei unterwegs, aber bisher haben meine Nsilí ihn nicht gefunden. Vielleicht hatten die Xylin mehr Erfolg?»
Eine der leuchtenden Kugeln lässt sich aus dem Baum auf Silàns ausgestreckte Hand sinken. Ihre glockenähnliche Stimme ist nur für die Wesen der Nacht verständlich und ihre Ausdrucksweise bedarf der Gewöhnung.
‹Xylin suchen vergeblich Schattenwandler vom Weg. Xylin bringen Botschaft zu Diuneldí.›
«Sehr gut. Die Diuneldí sind Wesen des Tages und werden Onish bestimmt schneller finden als wir. Also, was hast du uns zu berichten, A'shei?»
«Wir, das heißt Ranoz, Noak und ich, sind den Gerüchten über kranke Kaedin nachgegangen. Das war nicht einfach, da wir vor allem vom seltsamem Verhalten oder Verschwinden von einzelnen Kae gehört hatten. Wir suchten in Eshte und Kelèn, in Gerin und im südlichen Inoira. Schließlich berichtete uns eine besorgte Eule in Sellei von einem kranken Kae, das sie kannte. Sie führte uns sogar zu seinem Versteck. Noak gelang es mit einiger Mühe, es herauszulocken. Am besten erzählt sie, was sie in Erfahrung bringen konnte.»
Alle Augen richten sich auf die Hrankae. Noak überlässt das Sprechen meist lieber Ranoz oder A'shei. Aber wenn es um die Kommunikation mit Dunkelheiten geht, ist sie eindeutig die Expertin.
«Das Kae wollte zuerst nicht aus seinem Sumpfloch herauskommen. Es war kaum in der Lage, Gedankenbilder zu formen, und strahlte unaufhaltsam panische Angst aus. Zudem war es schwach und beinahe apathisch. Wir fanden nicht heraus, was ihm fehlte. Eigentlich wollten wir es überreden, mit uns zu kommen. Aber es wehrte sich mit aller Energie, die es noch hatte. Deshalb ließen wir es schließlich zurück. Ich fürchte, es hätte den Flug hierher nicht überlebt. Seine Chance, wieder gesund zu werden ist bestimmt in seiner vertrauten Umgebung am größten.»
Silàn nickt verständnisvoll. Trotzdem scheint ihr dieses Ergebnis der nächtelangen Suche etwas dürftig. A'shei scheint ihre Gedanken zu lesen.
«Nach allem, was wir gehört haben, glaube ich, dass es viele Fälle wie diesen gibt. In den Ebenen am Haon leben tausende von Kaedin. Wir haben so oft von verschwundenen oder kranken Dunkelheiten gehört, dass ich fürchte, unter ihnen sei eine Epidemie ausgebrochen.»
Ein Kae schiebt sich so nahe an Silàn heran, dass es sich mit ihr über Gedankenbilder verständigen kann. Es bestätigt A'sheis Worte und fügt die Befürchtung an, dass zahllose kleine Dunkelheiten krank oder umgekommen sind. Silàn übersetzt die Aussage des Kae. A'shei runzelt die Stirn.
«Ich bin überzeugt, dass das Kae recht hat. Ich hatte Gelegenheit, seinen kranken Artgenossen zu sehen, und ich kenne kein Heilmittel, das hier helfen könnte. Ich hoffe wirklich, dass Onish oder Dánan weiter wissen. Beide sind bessere Heiler als ich. Aber da ist noch etwas, was mich beunruhigt. Ich habe mich tagsüber, wenn Noak und Ranoz schliefen, in den Dörfern der Menschen umgehört. Dort geht ebenfalls eine unbekannte Krankheit um, zu der kein Heilmittel bekannt ist. Es sind vor allem Kinder und alte Menschen betroffen. Sie sind ständig müde, essen nichts mehr und werden apathisch. Meist erholen sich die Kranken nach einigen Tagen. Aber besonders bei kleinen Kindern kann die Krankheit auch zum Tod führen. So unmöglich es klingen mag, ich glaube, es gibt da einen Zusammenhang.»
«Eine Seuche, die Kaedin und Kinder befällt? Das ist wirklich ungewöhnlich. Umso wichtiger ist es, dass wir herausfinden, was die Krankheit verursacht und was dagegen zu tun ist.»
Ranoz, der Älteste der Hrankae, stößt tiefschwarzen Rauch aus, ein Zeichen, dass er nachdenkt.
«Die Heiler Dánan und Onish zu fragen, ist gut. Zudem sollten wir alle Wesen der Nacht vor der Krankheit warnen. Wer weiß, ob sie nicht auf andere übergreift als nur auf Kaedin und Menschen.»
«Das stimmt. Können die Xylin diese Aufgabe übernehmen?»
Die leuchtenden Kugeln bestätigen mit einem Glockenläuten, dass sie die Botschaft ins Land tragen werden. Da meldet sich das Ijenkae mit einer Reihe von Gedankenbildern. Noak übersetzt.
«Die Dunkelheit meint, sie hätte noch nie davon gehört, dass Kaedin krank werden. Sie fragt sich, ob Magie im Spiel ist und schlägt vor, herauszufinden, ob sich die Seuche auf bestimmte Gegenden beschränkt oder ob sie überall auftritt.»
Silàn schickt dem Ijenkae ein Bild der Dankbarkeit. Ranoz' Stimme lässt sie aufblicken.
«Das Ijenkae hat recht. Wir sollten nicht nur herausfinden, woher die Krankheit kommt, sondern auch wie rasch sie sich ausbreitet. Vielleicht können wir Hrankaedí in dieser Sache mit den Nsilí zusammenarbeiten?»
Silmira, an welche die letzte Frage gerichtet ist, lächelt Ranoz zu. He'sha fällt es schwer zu glauben, dass diese beiden vor Silàns Amtsantritt während vielen Jahren verfeindet waren.
«Die Nsilí werden den Hrankaedí helfen. Was meinst du, Silàn, bringt es etwas, in deiner alten Heimatwelt nach einem Heilmittel zu forschen?»
Tanàn nickt begeistert. Ihre Cousine, die Tierärztin werden will, hat ihr von den Wundern der Medizin jener Welt erzählt. Wer sagt, dass sie nicht auch bei kranken Kaedin und Kindern dieser Welt hilft? Silàn glaubt offensichtlich nicht recht an diese Möglichkeit, will aber kein Mittel unversucht lassen.
«Gut. Tanàn hört sich in der Welt auf der anderen Seite des Spiegels um. Vielleicht gibt es dort ja eine ähnliche Krankheit. Tanàn, lass dir von Noak die Symptome genau beschreiben und frag Salik, ob er dich nach Atara trägt. Mehr können wir wohl im Moment nicht tun. Ich bitte euch, hilfreiche Informationen so rasch wie möglich hierher zu schicken. Wir treffen uns in einem Mond.»
He'sha, der während der Ratsversammlung kein Wort gesagt hat, öffnet den Mund, um ihn aber gleich darauf wieder zu schließen. Es lohnt sich wohl nicht, nach seiner Rolle in den kommenden Ereignissen zu fragen. Seine Mutter ist zu beschäftigt, um sich darüber Gedanken zu machen. Geduldig wartet er, bis Silàn die Versammlung schließt. Er muss dringend mit Luok sprechen.

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