Die Heilerinnen
Thisàn steht bereits sehr früh auf dem Dorfplatz und beobachtet das Gasthaus. Sie fand die ganze Nacht hindurch keine Ruhe. Falls die fremde Tanna tatsächlich eine Schattenwandlerin ist, weiß sie möglicherweise etwas über die Krankheit, welche die Heilerin täglich beschäftigt. Sie muss lange warten. Viele Gäste verlassen das Haus, um sich auf den Weg zu machen, einige mit Gepäck, das sie bequem zu Fuß tragen können, andere zu Pferd oder mit hoch beladenen Wagen. Erst als sie die Hoffnung schon beinahe aufgegeben hat, führt ein Krieger in der königlichen Rüstung Pferde aus dem Stall.
Thisàn wartet geduldig. Sie muss die Aufmerksamkeit der fremden Tanna gewinnen, möglichst ohne dass die Krieger sie bemerken. Die Garde des Prinzen wird bestimmt nicht leicht zu überzeugen sein, dass sie als einfache Frau, der ein Anteil fremdländisches Blut deutlich anzusehen ist, mit dem Thronfolger sprechen muss.
Endlich öffnet sich die Tür und der Prinz betritt an der Seite seiner Begleiterin den Platz. Eine Hand auf dem Schwertknauf ruhend, lässt er den Blick prüfend über die Umgebung schweifen. Einen Moment lang sieht er Thisàn direkt an, aber er scheint sie nicht als Bedrohung einzustufen und nimmt die junge Frau an seiner Seite fürsorglich am Arm. Das löst bei dieser ein belustigtes Zwinkern aus. Überrascht stellt die Heilerin fest, wie jung sie ist, bestimmt nicht älter als Talai. Im Gegensatz zu Dánirah scheint sie ebenfalls keine vollblütige Tanna zu sein. Trotzdem ist bei ihr das Erbe des Volkes der Dämmerung besser zu erkennen als bei Thisàn selbst. Mutig tritt diese einige Schritt vor und richtet das Wort an die Fremde.
«Mein Name ist Thisàn, ich bin die Heilerin von Zalkenar. Du trägst das Kleid einer Schattenwandlerin?»
Sofort tritt der Prinz schützend vor die Fremde und hinter sich hört Thisàn, dass die Krieger der Eskorte ihre Schwerter ziehen. Aber die junge Frau fasst den Prinzen am Arm und zieht ihn zurück. Ihre Augen sind tatsächlich beinahe so dunkel wie Dánirahs und der Akzent ihrer Stimme verrät ihre Herkunft aus dem östlichen Atara.
«Ich bin Miràn aus Atara, Schülerin von Dánan vom Berg. Es freut mich, deine Bekanntschaft zu machen, Thisàn.»
Misstrauisch mustert der Prinz die Heilerin. Immerhin bedeutet er den Kriegern, ihre Schwerter wieder wegzustecken. Sein Ton ist unfreundlich.
«Was willst du von uns, Thisàn von Zalkenar? Wir haben einen langen Weg vor uns und brauchen keine Heilerin.»
«Mirim, ich möchte mit dieser Frau sprechen. Soviel Zeit muss sein. Ich bin hierher gekommen, um etwas über die Krankheit zu erfahren, die Kelèn heimsucht. Vielleicht kann Thisàn mir mehr darüber erzählen?»
Thisàns Hoffnung zerfällt. Wenn Miràn auf der Suche nach Informationen ist, wird sie auch kein einfaches Heilmittel kennen. Aber behauptet sie nicht, die Schülerin von Dánan vom Berg zu sein? Dánan ist eine der größten Heilerinnen, die leben. Zumindest sie müsste etwas über diese Krankheit wissen. Miràn scheint ihre Gedanken zu erraten.
«Gibt es einen Ort, wo wir in Ruhe sprechen können? Du scheinst genau zu wissen, um welche Krankheit es geht.»
«Ja, ich werde täglich zu kranken Kindern gerufen. Aber ich kenne kein wirkungsvolles Heilmittel. Manche erholen sich rasch, andere werden immer schwächer und sterben schließlich. Ich hoffte, dass du mir einen Rat geben kannst.»
Miràn schüttelt den Kopf. Auch ihr steht die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Der Prinz beobachtet die beiden Frauen und scheint dann zu einem Entschluss zu kommen.
«Nun gut, vielleicht solltet ihr beide euch eines der kranken Kinder ansehen, bevor wir aufbrechen. Aber lange darf es nicht dauern, es ist schon spät und ich will das nächste Dorf noch vor Einbruch der Nacht erreichen.»
«Danke, mein Prinz. Wir werden uns beeilen. Es gibt da einen kleinen Jungen, den ich dir gerne zeigen möchte, Miràn. Er steckte sich gleichzeitig mit seinen Geschwistern an, vor mehr als einem Mond. Die beiden anderen Kinder erholten sich rasch, aber für ihn sehe ich keine Hoffnung.»
Bereitwillig folgt ihr die junge Schattenwandlerin in eine Seitenstraße. Es beunruhigt Thisàn etwas, dass der Prinz und sein Gefolge sich ihnen wie selbstverständlich anschließen. Miràn erkennt ihr Unbehagen.
«Mirim, ich bezweifle, dass die Eltern des kranken Jungen darauf vorbereitet sind, den Thronfolger und seine Eskorte zu empfangen. Könnt ihr hier am Platz auf uns warten? Wir werden uns beeilen. Aber das ist für mich die erste Gelegenheit, ein krankes Kind zu besuchen und nicht nur Geschichten über diese Seuche zu hören.»
Mirim ist deutlich anzusehen, dass er nicht viel von diesem Arrangement hält. In diesem Moment sieht er seiner Schwester sehr ähnlich. Talai zeigte den gleichen Gesichtsausdruck, als die Rede auf die Trennung von Dánirah kam. Thisàn unterdrückt ein Lächeln. Sie will Talais Geheimnis auf keinen Fall verraten. Aber während sie Miràn zum Haus des Patienten führt, sinniert sie darüber nach, weshalb wohl die jüngere Schwester des Prinzen so viel erwachsener wirkt.
Die Familie des kranken Jungen ist arm. Aber das scheint Miràn nicht zu stören. Jetzt, da sie nicht mehr in Begleitung der eindrucksvollen Krieger ist, wirkt sie auf Thisàn noch viel mehr wie eine bedeutende Magierin, aber auch wie eine Frau, deren Freundin sie werden könnte.
Das sorgenvolle Gesicht der Mutter des Jungen sagt deutlich, dass es ihm immer noch nicht besser geht. Sie führt die Besucherinnen ans Krankenbett und schickt die beiden älteren Kinder hinaus. Thisàn streicht dem Jungen sanft durch das wirre Haar. Er mag gerade zwei Sommer alt sein. Miràn legt ihm eine Hand auf die Stirn, betrachtet sich seine Augen und fühlt seinen Herzschlag. Dann schließt sie die Augen, während sie die kleinen, kalten Hände in den ihren hält. Thisàn ahnt, dass sie Magie wirkt. Tatsächlich scheint einen Moment lang etwas Farbe ins blasse Gesicht des Jungen zurückzukehren. Mit großen blauen Augen mustert er Miràn, aber ohne ihr Lächeln zu erwidern. Thisàn überlässt der Mutter ein Säckchen mit Tee und verspricht, Morgen noch einmal vorbeizukommen.
Schweigend verlassen die beiden Heilerinnen das ärmliche Haus im Hafenquartier. Miràn streicht sich müde eine schwarze Haarsträhne hinters Ohr, die sich aus ihrem Zopf gelöst hat.
«Ich habe versucht, Schattenmagie zu wirken. Es ist mir auch tatsächlich gelungen, dem Jungen etwas Energie zu geben. Aber er wird sie rasch aufbrauchen, denn eine richtige Heilung ist auf diesem Weg nicht möglich. Dies Krankheit hat keine magische Ursache. Deine Heilkunst ist hier genauso gut wie meine, Thisàn.»
«Oder genauso nutzlos. Ich hatte gehofft, Schattenmagie könnte helfen.»
«Es tut mir leid, dass es nicht so ist. Zumindest ich kann es nicht, und Dánan war eine solche Krankheit auch nicht bekannt. Wir haben gehört, dass auch die Kaedin, die kleinen Dunkelheiten von einer ähnlichen Seuche betroffen sind. Wir vermuteten deshalb, dass eine magische Ursache die Erklärung für diesen seltsamen Zufall ist.»
«Du weißt von der Krankheit der Kaedin? Woher?»
«Von Silmira. Sie ist eine Nsil und Vertraute der Königin der Nacht. Sie hat uns in Dánans Tal besucht. Woher weißt du davon?»
«Von Dánirah und einer Freundin, die mich vor kurzem besuchten. Das war einer der Gründe, weshalb ich so hoffte, dich sprechen zu können, als du gestern hier ankamst. Ich zog die gleichen Schlussfolgerungen wie Dánan und du.»
Miràn seufzt. Sie haben inzwischen den Dorfplatz erreicht und Mirim sieht ihnen ungeduldig entgegen.
«Hör zu, Thisàn. Ich muss nun mit Mirim nach Penira reiten. Aber der eigentliche Zweck meiner Reise ist, eine Heilung für diese Krankheit zu finden. Wenn ich irgendwie helfen kann, werde ich das tun. Wie kann ich dich finden?»
«Ich lebe hier. Jeder im Ort kann dich zu Thisàn, der Heilerin führen.»
«Gut. Ich werde auf jeden Fall auf dem Rückweg hier vorbeikommen. Ich hoffe, in Penira mehr zu erfahren. Immerhin hat der König eigene Heiler und ein gutes Informationsnetz.»
«Hoffen wir es. Gute Reise, Miràn, und viel Erfolg.»
«Danke. Das wünsche ich dir auch. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.»
Die beiden Frauen umarmen sich zum Abschied. Obwohl Thisàn die Schattenwandlerin gestern zum ersten Mal sah, ist es, als müsste sie sich von einer alten Freundin trennen. Miràn sitzt bereits im Sattel, als ihr noch etwas einfällt.
«Miràn, kennst du Dánirah?»
«Die Wahrträumerin? Sie ist eine gute Freundin von Dánan und besucht uns ab und zu. Warum?»
«Sie ist unterwegs nach Penira, auf den Spuren eines Traums. Halte Ausschau nach ihr, vielleicht ist auch das kein Zufall. Wir kämpfen alle gegen den gleichen Feind.»
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Talai
FantasyNach einem Überfall findet sich die rebellische Tochter des Sonnenkönigs allein in einem fremden Land - einem Land, dessen Kinder von einer tödlichen Krankheit heimgesucht werden. Auf dem langen Weg nach Hause findet Talai überraschend Hilfe und Fre...