Talai 1-10 Hartes Leben

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Hartes Leben

Sorim wischt sich den Schweiß von der Stirn. Obwohl draußen der erste Schnee liegt, ist es hier unten im Schacht heiß und stickig. Er klettert deshalb so rasch wie möglich die Leiter hinauf, die ihn auf ein oberes Niveau bringt. Hier muss er bis ganz ans Ende des Tunnels gehen, um dem Vorarbeiter neue Brennsteine zu bringen. Danach darf er endlich ganz hinaufsteigen, dem Tageslicht entgegen.
Neben dem Einstieg bleibt er kurz stehen und atmet tief die kalte, klare Bergluft ein. Seine Schicht ist noch nicht zu Ende, aber er genießt jeden Moment an der Oberfläche und am Tageslicht. Zeit vertrödeln darf er trotzdem nicht. Beim großen Schuppen lässt er sich vom Gehilfen des Magiers seinen Sack wieder mit aufgeladenen Brennsteinen füllen und geht hinüber zum zweiten Schacht. Diesen hasst Sorim noch mehr als den ersten, wenn das überhaupt möglich ist. Der Einstieg erfolgt zunächst durch einen horizontalen Stollen. Der eigentliche Schacht beginnt erst mehrere Dutzend Schritte tief im Berg. Hier ist es bereits komplett dunkel und anders als beim ersten Schacht erleichtert kein Tageslicht den Abstieg über die Leiter. Wie es ihm beigebracht wurde ruft Sorim zuerst seine Absicht in den dunklen Schlund hinunter, nun abzusteigen. Kreuzen ist auf der Leiter nicht möglich und wenn sich zwei Personen begegnen, gibt es nur die Möglichkeit, dass eine von beiden zurücksteigt, um die andere passieren zu lassen.
Endlich erreicht er die Sohle des Schachts. Von ihm wird erwartet, dass er in den Tunneln ohne das Licht der kostbaren Brennsteine auskommt, die allein den Arbeitern vor Ort vorbehalten sind. Deshalb tastet er sich vorsichtig durch die stickigen Gänge, bis er die erste Gruppe erreicht, die er versorgen muss. Der Vorarbeiter nimmt zwei neue Steine entgegen, überreicht ihm die aufgebrauchten und schickt ihn mit einem gebrummten Dank wieder auf den Weg. Er steigt ein Niveau höher, um in den niedrigen Seitenstollen hineinzukriechen. Hier wird nach einer neuen Ader gesucht. Das ist eine Aufgabe der zahlreichen Kinder, die in der Mine arbeiten. Sorim ist froh, dass er nicht zu den Unglücklichen gehört, welche die Suchstollen immer weiter vorantreiben, auf den Knien rutschend im gespenstisch blauen Dämmerlicht der Brennsteine. Anders als in den Abbaustollen, wo es kleine Wagen für den Abtransport der abgebauten Steine gibt, muss der Aushub hier in Kisten durch den Tunnel zurück zum Schacht geschafft werden, wo er über einen Flaschenzug ins Freie befördert wird. Etwa auf halbem Weg den Stollen entlang trifft Sorim auf einen etwas älteren Jungen, der einen Holzkasten mit Felsbrocken vor sich herschiebt.
«Seid ihr auf etwas gestoßen?»
«Vielleicht. Bringst du neue Steine?»
«Ja, willst du sie übernehmen?»
«Nein, bring sie nach hinten. Ich komme gleich zurück. Wir müssen uns diese Ader genauer ansehen und unsere Steine sind beinahe aufgebraucht.»
Sorim quetscht sich an dem Jungen vorbei und setzt den Weg fort. Das letzte Stück muss er auf allen Vieren kriechen. Die Suchstollen werden erst erweitert, wenn feststeht, dass sich der Abbau einer Ader lohnt. Es kostet den Jungen wie immer Mühe, die Angst zu unterdrücken, wenn er an die vielen Meter Fels denkt, die über seinem Kopf drohen. Endlich erkennt er voraus das blaue Leuchten eines beinahe aufgebrauchten Brennsteins. Er kriecht schneller und hält neben der Lampe an. Vorsichtig öffnet er die kleine Tür, nimmt den alten Stein heraus und setzt an seiner Stelle einen neuen in die Halterung. Sofort wird das Licht heller, als der Stein aktiviert wird.
Sorim blickt sich im engen Raum am Stollenende um. Hier müsste doch noch ein zweites Kind arbeiten? Sein Blick fällt zuerst auf die liegengebliebene Hacke. Erst danach erkennt er im blauen Licht eine bleiche Hand, die regungslos neben dem Stiel der Hacke ruht. Sorim kriecht näher. Das Mädchen ist kaum größer als er und liegt zusammengesunken auf der Seite. Seine Augen stehen weit offen, aber es sieht ihn nicht an. Erschrocken legt der Junge eine Hand auf die schmale Brust des Kindes. Es atmet noch, aber zeigt sonst keine Reaktion. Verzweifelt sieht er sich um. Irgendwo müsste doch ein Wasserbeutel liegen. Als er ihn findet, zögert er nicht, dem Mädchen etwas Wasser einzuflößen. Es schluckt reflexartig, ohne eine andere Reaktion zu zeigen. Sorim ist erleichtert, als ein kratzendes Geräusch das Herannahen des Jungen mit der Kiste ankündigt.
«Was ist mit ihr los?»
«Ich weiß nicht. Sie war schon den ganzen Morgen seltsam. Sie hat sich beklagt, sie sei müde. Eigentlich wäre es ihre Aufgabe, die Steine zum Schacht zu bringen. Aber sie hat es nur einmal geschafft. Deshalb haben wir getauscht. Als ich losging, hat sie noch Steine geklopft.»
«Ich glaube, sie ist krank, so wie der Junge gestern im ersten Schacht. Und erinnerst du dich an die beiden Mädchen im letzten Mond? Sie sahen auch so aus, als sie sie aus dem Stollen holten. Ich glaube, inzwischen geht es ihnen wieder besser. Komm, wir müssen sie hier rausbringen.»
«Das geht nicht, die Schicht ist noch lange nicht zu Ende. Wir dürfen nicht früher aufhören.»
Sorim versteht. Vermutlich werden die beiden schon bestraft, weil sie heute ihr Soll nicht erreichen. Er selbst ist inzwischen bestimmt auch schon spät dran. Trotzdem müssen sie dem Mädchen helfen.
«Hör zu, ich mache meine Runde mit den Steinen fertig und komme dann zurück, um dir zu helfen, sie zum Stollen zu bringen.»
«Wozu? Ich glaube kaum, dass sie die Leitern hochklettern kann. Und tragen kann ich sie nicht.»
«Der Vorarbeiter vom unteren Stollen ist ein anständiger Mann. Ich werde ihn bitten, sie mit dem Flaschenzug hochzuziehen. Wir können sie nicht einfach hier liegen lassen.»
Er sieht den älteren Jungen bittend an. Zögernd nickt dieser und nimmt die Hacke auf, die das Mädchen fallen ließ. Sorim verspricht, dass er sich beeilen wird, und krabbelt durch den niedrigen Stollen davon, für einmal seine Angst vor engen Räumen und der Dunkelheit vergessend.

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