Talai 3-14 Alte Bekannte

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Alte Bekannte

He'sha und Ushin erwarten Talai und die beiden Kinder unter einer mächtigen Tanne am Weg nach Osten. Der Schneefall hat während der Nacht wieder aufgehört und ein dünner Nebel liegt über den frisch verschneiten Flächen. Die Sonne wird ihn bald vertreiben, ihre ersten Strahlen spielen bereits zwischen den Nebelschwaden. Talai bemerkt die beiden Freunde zunächst nicht, die ihr Herankommen von einem Versteck aus beobachten. Weder der Wolf noch der junge Magier haben vor, sich fremden Menschen zu zeigen. He'sha fällt auf, dass Talais Haar im fahlen Morgenlicht beinahe glänzt, besonders wenn ein Sonnenstrahl darauf fällt. Nicht zu unrecht werden die Keleni Sonnenkinder genannt. Er steht auf, um die Herankommenden zu begrüßen. Talai lächelt ihm zu.
«Guten Morgen! Ich hoffe, du hattest auch eine angenehme Nacht?»
«Wahrscheinlich nicht so angenehm wie deine. Ihr drei seht aus, als hättet ihr euch in richtigen Betten gut erholt.»
«Noch fast wichtiger war das heiße Bad und die Gelegenheit, meine Haare zu waschen. Aber ja, es war angenehm, wieder einmal ein weiches Bett zu benutzen. Allerdings habe ich das Gefühl, die Nacht sei viel zu kurz gewesen.»
Sorim grinst übers ganze Gesicht.
«Talai hat den ganzen Abend gespielt und gesungen. Du hättest sie hören sollen, He'sha, sie ist eine richtige Künstlerin.»
He'sha bedauert tatsächlich, dass er diese Gelegenheit verpasste. Auch Laiàn scheint von Talais Fähigkeiten begeistert. Überrascht stellt er fest, dass die junge Frau errötet. Ob das eine Angewohnheit von ihr ist? Auf jeden Fall ist ihm das bis jetzt nicht aufgefallen. Das mag mit dem Schmutz zu tun haben, den sie sich aus dem Gesicht und den Haaren gewaschen hat. Plötzlich blickt Talai zu der großen Tanne hinüber.
«Ushin meint, wir sollten uns auf den Weg machen, da kommt jemand.»
Ohne ein weiteres Wort setzen die vier sich in Bewegung. Schon bald begegnen sie einem Bauern, der ihnen mit einem Pferdewagen entgegenkommt. Er erwiderte ihre Begrüßung nur mit einem Brummen. Talai zuckt darüber die Schultern und geht schweigend weiter. He'sha ist sicher, dass Ushin ihnen in geringem Abstand folgt. Der Wolf nimmt seine Aufgabe, Talai zu beschützen, sehr ernst. Der Magier ist froh, dass außer Luok auch andere Wesen der Nacht überzeugt sind, dass die junge Frau wichtig ist. Letzte Nacht gelang es ihm wieder nicht, seiner Mutter, der Königin, eine Botschaft zu übermitteln. Luok und er trafen weder auf Nsilí noch Xylin. Ushin übertrug einigen Käuzchen und Fledermäusen die Aufgabe, sich nach möglichen Botschaftern umzusehen. Aber bisher fand sich keine einziges Wesen der Nacht, das in der Lage gewesen wäre, die lange Strecke bis nach Silita-Suan in nützlicher Frist zurückzulegen.
Talai scheint zu bemerken, dass er unerfreulichen Gedanken nachhängt.
«Warum so bedrückt, He'sha? Ist letzte Nacht etwas passiert?»
«Nein, leider nicht. Ich hoffte, wir würden einen Boten finden, der eine Nachricht zu meiner Mutter bringt. Aber weder Luok noch Ushin oder ich konnten jemanden finden, der diese Strecke in kurzer Zeit schafft. Vielleicht werde ich doch mit Luok hinfliegen müssen. Oder ich schicke Luok alleine los, aber auch das gefällt mir nicht.»
Nachdenklich mustert Talai die beiden Kinder, die etwas vorausgelaufen sind. Den beiden haben die letzte Nacht und zwei reichhaltige Mahlzeiten gut getan.
«Denkst du, dass deine Mutter helfen könnte?»
«Ich weiß es nicht, vielleicht. Auf jeden Fall sollte sie Bescheid wissen. Wenn wir nur jemanden von den Nsilí oder ein paar Xylin gefunden hätten!»
Talai runzelt die Stirn. Sie sieht plötzlich aus, als wäre sie tief in Gedanken versunken und verlangsamt ihre Schritte, wie um den Abstand zu den Kindern zu vergrößern.
«He'sha, da ist etwas, was ich dir erzählen sollte. In der einen Nacht, als du mit Luok in Atara warst, hatten wir Besuch auf der Alp. Ich wollte dir davon erzählen, aber irgendwie ergab sich nie eine Gelegenheit.»
«Besuch? Von wem?»
Talai wirkt verlegen, als wäre ihr etwas peinlich. He'sha weiß nicht, ob die Tatsache, dass sie vergaß, ihm davon zu berichten oder der Besuch an sich. Schliesslich spricht sie weiter.
«Da waren zwei Wesen, eines davon eine große Dunkelheit, ein Ijenkae. Es war eher schüchtern, aber sehr freundlich und sprach in schönen Gedankenbildern. Das andere bestand aus Licht, aber nicht wie die Diuneldí. Sie sagte, ihr Name sei Silmira, sie sei ein Mond...»
He'sha unterbricht mitten im Satz.
«Silmira? Silmira war bei dir und hat mit dir gesprochen?»
Talai blickt ihn mit erschrocken geweiteten Augen an. He'sha begreift, dass seine Reaktion etwas heftig war. Aber... Silmira! Wenn er das gewusst hätte, wäre er letzte Nacht nicht mit Luok durch halb Nirah gezogen auf der Suche nach einem Mondlicht. Er fühlt sich zu einer Erklärung genötigt.
«Silmira ist die Seherin der Nsilí und eine gute Freundin meiner Mutter. Was wollte sie von dir?»
«Nichts besonderes, glaube ich. Sie wollte mich wohl einfach kennenlernen. Sie behauptete, die Wesen der Nacht sprächen von mir.»
He'sha denkt fieberhaft nach. Silmira musste einen guten Grund haben, Talai zu besuchen. Sie zeigt sich nicht einfach so beliebigen Menschen. Aber Talai ist kein beliebiger Mensch, das konnte er selbst bereits beobachten. Die junge Frau ist selbständig, intelligent, hilfsbereit, ganz abgesehen davon, dass sie die Sprache der Wesen der Dunkelheit versteht. Zumindest erscheint es ihm nun nicht mehr ganz so dringend, eine Nachricht nach Silita-Suan zu schicken. Silmira hat bestimmt am letzten Vollmondrat von Talai berichtet. Allerdings erfuhren sie erst später von der Mine. Deshalb schadet es wohl nichts, weiter nach einem Boten zu suchen.
«Silmira und das Ijenkae waren möglicherweise im Auftrag meiner Mutter unterwegs. Bei ihr weiß man nie. Wir sollten damit rechnen, dass sie uns beobachtet.»
«Ist das ein Problem?»
«Nein, das Gegenteil. Wenn wir uns mit den Betreibern dieser Mine anlegen wollen, hilft jede Unterstützung. Eine große Dunkelheit auf unserer Seite zu haben, kann von Vorteil sein. Vor allem, wenn du mit diesem Wesen sprechen kannst. Das beherrscht meines Wissens kaum jemand.»

TalaiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt