Talai 3-2 Silberaugen

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Silberaugen

Talai lehnt sich entspannt zurück und schließt die Augen. Mit dem Kae, Ushin und He'sha hat sie soviel angenehme Gesellschaft, wie schon lange nicht mehr. Dass alle eher ungewöhnliche Bekannte für die Tochter des Königs von Penira sind, stört sie hier in der Abendsonne vor ihrem behelfsmäßigen Unterschlupf überhaupt nicht. Im Gegenteil, für einmal steht sie nicht wegen ihre Position im Mittelpunkt. Ein Leben lang beneidete sie die anderen Kinder im Palast, die stets eine gewisse Freiheit genossen, obwohl sie oft ihren Eltern helfen mussten. Vor allem hatten sie eine Menge Spaß, trotz harter Arbeit, der Talai verwehrt blieb. Während andere Mädchen in ihrem Alter zum Beispiel in der Küche aushalfen, war es ihr verboten, ihnen bei ihren Aufgaben zur Hand zu gehen. Dabei ging es beim Abwasch oder beim Gemüse rüsten meist fröhlich zu und her. Aber sobald Talai sich dazugesellte, hieß es, das gezieme sich nicht für eine Prinzessin.
Nun ist sie seit Monden auf sich allein gestellt und genießt es, selbst zu entscheiden, was sie tut und mit wem sie Umgang pflegt. Wenn dazu Stallburschen, Küchenmädchen oder Wesen der Nacht gehören, ist das allein ihre Sache. Und wenn ihr neuster Bekannter ein Schattenwandler und der Sohn der Königin der Nacht ist, ist es allein ihre Entscheidung, ob sie ihn mag oder nicht. Im Moment denkt sie, dass sie ihn mag. Ganz abgesehen davon, dass Ushin recht hat: er hat ihr vermutlich das Leben gerettet. Sie wirft dem jungen Mann einen ernsten Blick zu.
«Ushin sagt, du hättest mir das Leben gerettet. Danke.»
«Keine Ursache, Morgenstern. Der Wolf und dein kleines Kae haben tatkräftig mitgeholfen. Ohne sie wären Luok und ich zu spät gekommen. Erzählst du mir dafür, wie eine Kelen in den Besitz eines Tanna-Schals und eines Rings der Wahrheit kommt?»
Überrascht greift Talai nach ihrem Ring. Sie trägt ihn normalerweise gut versteckt unter ihrer Kleidung. He'sha muss ihn bemerkt haben, während er sie pflegte. Sie ist beruhigt, das er immer noch an seinem Platz an ihrem linken Handgelenk sitzt.
«Der Ring war ein Abschiedsgeschenk von Dánirah. Sie meinte, er werde mir helfen, mich richtig zu entscheiden. Der Schal war ebenfalls ein Abschiedsgeschenk, aber mit einer tieferen Bedeutung, fürchte ich. Senai gab mir ihren Schal, weil sie meinte, sie werde ihn nicht mehr brauchen.»
«Senai, die Älteste der Tannarí? Ist sie tot?»
«Ich bin nicht sicher. Aber laut Dánirah wird sie den Frühling nicht mehr erleben.»
«Der Frühling hat begonnen, und Dánirah spricht immer die Wahrheit.»
«Du kennst sie?»
«Sie besucht Silita-Suan, wenn ihre Wanderungen sie in die Gegend führen. Ich sollte meinem Vater die Nachricht von Senais Tod bringen.»
Erst jetzt fällt Talai ein, dass He'sha ja auch der Sohn des ungekrönten Königs der Tannarí ist. Sie sollte sich wirklich überlegen, was sie sagt. Offensichtlich hat sie ihre ganze diplomatische Ausbildung mit den verkümmerten Früchten der Erziehung ihrer Mutter über Bord geworfen. Überrascht stellt sie fest, dass sie bedauert, dass He'sha schon aufbrechen will.
«Wenn du gehen musst, lass dich nicht von mir aufhalten. Ich komme allein zurecht.»
«Da bin ich nicht so sicher. Ohne Schattenmagie wärst du immer noch ohne Bewusstsein. Ich bin nicht annähernd so gut wie mein Vater als Heiler, aber einige wichtige Dinge beherrsche ich trotzdem.»
«Ich wollte nicht undankbar sein. Aber wenn du Verpflichtungen hast...»
Talai beobachtet den jungen Mann abwägend von der Seite während er sich die Sache reiflich überlegt. Dann lächelt er ihr zu.
«Ich bleibe vorerst hier. Es ist möglich, dass A'shei schon längst von dem Tod Senais weiß, und sonst spielen einige Tage wohl keine Rolle. Vielleicht ist sogar Dánirah unterwegs nach Silita-Suan.»
«Das bezweifle ich. Wir trennten uns aufgrund eines Traums in Zalkenar. Sie zog nach Penira, ich nach Sié. Wir sollten uns im Frühling in Nirah wieder treffen. Wenn sie zuerst nach Eshte geht, ist es längst Sommer, bis sie wieder hier sein kann.»
«Warum seid ihr dann nicht gleich zusammen gereist?»
Diese Frage stellt sich Talai schon die ganze Zeit.
«Das musst du Dánirah fragen. Sie ist diejenige mit den Träumen. Ich muss zugeben, dass ich sie darum nicht beneide. Die Träume der vergangenen Nächte waren wirklich beängstigend.»
«Das sagt ausgerechnet die Kelen, die mit einem Kae unterwegs ist. Es kostet noch mich große Mühe, die Panik zu unterdrücken, die es ausstrahlt, wenn es fürchtet, dass du in Gefahr bist.»
«Was ist eigentlich so schlimm daran, dass ich aus Kelèn komme? Offensichtlich stören sich weder Ushin noch das Kae daran.»
«Ich störe mich nicht daran. Es ist bloß ungewöhnlich, blondes Haar in Kombination mit einem Tanna-Schal zu sehen. Außerdem sollen Keleni ausgesprochen zurückhaltend uns Wesen der Nacht gegenüber sein. Du bist da wohl die Ausnahme.»
Darüber muss Talai einen Moment nachdenken. Wenn sie ihren Vater als Maßstab nimmt, hat He'sha zweifellos recht. Schweigend beobachtet sie, wie die Sonne hinter den Horizont sinkt. Sofort wird es empfindlich kalt und sie zieht den schwarzen Schal enger um ihre Schultern. Sie will trotzdem noch nicht in den Unterstand zurückkehren. Hier draußen fühlt sie sich besser. Außerdem ist sie gespannt darauf, endlich Luok kennenzulernen. Gedankenverloren krault sie Ushin den Nacken. Der Wolf mag die Liebkosung. He'sha, der den Austausch beobachtet, schüttelt den Kopf.
«Wo habt ihr euch kennengelernt? In Sié warst du mit dem Kae allein unterwegs.»
«Das Kae habe ich im Haontal getroffen. Es war krank und halb verdurstet. Als es sich erholt hatte, blieb es einfach bei mir. Und Ushin fragst du am besten selbst.»
«Du kannst dich deutlich besser mit ihm verständigen als ich. Ich bin froh, dass mich Luok versteht. Magie der Nacht war nie meine Stärke.»
«Was meinst du mit Magie der Nacht?»
Talai blickt hoch, um im Dämmerlicht He'shas Gesicht zu mustern. Erschrocken zieht sie die Luft ein. Der Schattenwandler sieht sich besorgt um.
«Was ist? Was hast du gesehen?»
«Deine Augen! Sie leuchten silbern!»
«Ich habe dir doch erzählt, dass meine Mutter die Königin der Nacht ist. Silàn besitzt einen Anteil Mondlichtblut, ihr Großvater war Nsil. Bei ihr leuchtet auch das Haar im Mondlicht silbern. Meine Schwester und ich haben nur die Silberaugen geerbt. Dafür können wir nachts genauso gut sehen wie du am Tag.»
Bevor Talai darauf antworten kann, verdunkeln mächtige Schattenschwingen den Himmel. Ein riesiges Schattenwesen landet geräuschlos wenige Schritte vor dem Felsdach. Seine Stimme rumpelt tief in der Kehle und in den Drachenaugen mit den schrägstehenden Pupillen blitzt der Schalk.
«He'sha, stellst du mir nun endlich deine Freundin vor?»
Talai findet die Hrankae, von der sie nur den schattenhaften Umriss und die goldenen Augen erkennen kann, auf Anhieb sympathisch. He'sha rollt die Augen.
«Luok, das ist Talai, eine Freundin von Dánirah. Talai, das ist Luok, wie du wohl bereits erraten hast. Ushin kennst du ja schon, Luok. Wie er und Talai sich allerdings kennenlernten, ist immer noch ein Geheimnis.»
‹Talai hat mich aus einer Falle der Menschen befreit. Sie hat mir das Leben gerettet.›

TalaiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt