Talai 1-15 Schattenflamme

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Schattenflamme

Dánan mustert ihren jungen Besucher nachdenklich über den Rand ihrer Tasse hinweg. Mirim hat der alten Heilerin während dem Frühstück alles erzählt, was er über die Krankheit weiß, die sich mit großer Geschwindigkeit in Kelèn auszubreiten scheint. Nun wartet er gespannt auf die Reaktion der Schattenwandlerin. Diese lässt sich Zeit.
Dánan sieht immer noch genauso aus, wie Mirim sie in Erinnerung hatte. Er fragt sich, wie alt sie wohl ist. Das bewegte Licht des Herdfeuers wirft tanzende Schatten auf ihr runzliges Gesicht. Ihr schwarzes Haar ist von silbergrauen Strähnen durchzogen und fällt ihr lang über den Rücken. War es früher vielleicht noch etwas dunkler? Mirim weiß es nicht genau. Die gütigen braunen Augen und das freundliche Lächeln sind aber immer noch gleich.
Die Schattenwandlerin gießt ihrem Besucher und ihrer Schülerin Tee nach und nimmt sich eine Scheibe Brot, um sie gemächlich mit etwas Honig zu bestreichen. Sowohl Mirim wie auch Miràn hängen wie gebannt an den langsamen Bewegungen der alten Frau. Endlich blickt sie von ihrer Beschäftigung auf.
«Mirim, du bist nicht der erste, der uns von dieser seltsamen Krankheit berichtet. Vor einigen Tagen erhielten wir Besuch von Silmira, sie ist eine Nsil und enge Freundin der Königin Silàn. Sie brachte Botschaft aus Eshte, aus Silita-Suan. Dort haben sie ebenfalls von dieser Krankheit erfahren, und die Königin der Nacht ist besorgt, denn sie kennt kein Heilmittel. Miràn und ich studieren seit Tagen die Schriften der Schattenwandler, bisher leider ohne Erfolg. Aber deine Beschreibung der Symptome ist genauer als alles, was Silmira wusste. Vielleicht hilft uns das weiter. Falls es bereits einmal eine ähnliche Krankheitswelle gab, ist sie bestimmt irgendwo erwähnt.»
«Wenn die Krankheit in Eshte ebenfalls wütet, muss es sich um eine große Sache handeln. Als ich in Penira aufbrach, glaubten wir noch, es seien nur einige Dörfer in der Keleniebene betroffen.»
«Es deutet vieles darauf, dass dies eine schlimme Geschichte ist. Allerdings gibt es hier in Atara keine vergleichbaren Krankheitsfälle, soweit ich weiß. Zur Zeit herrscht in Himenar eine heftige Grippewelle, wie das im Winter schon mal vorkommt. Deshalb war ich gestern bis spät unten im Dorf. Mit den Symptomen deiner unbekannte Krankheit wurde ich aber bisher nicht konfrontiert.»
Mirim weiß darauf nichts zu erwidern. Hilfesuchend blickt er seine alte Freundin Miràn an. Nach der anfänglichen Wiedersehensfreude tauschten sie gestern Abend ihre Geschichten aus. Dabei stellte Mirim betreten fast, dass ihre Leben nicht unterschiedlicher sein könnten. Heute morgen ergab sich noch keine Gelegenheit für ein Gespräch. Die junge Schattenwandlerin zuckt die Schultern und streicht sich eine Strähne ihres schwarzen Haars hinters Ohr.
«Es ist, wie Dánan sagt. All unsere Informationen stammen von Silmira und dir. Es wäre bestimmt hilfreich, wenn wir eines der kranken Kinder untersuchen könnten.»
Dánan nickt nachdenklich.
«Ja, das würde zur Klärung beitragen. Falls Magie am Werk ist, ist sie für einen Schattenwandler zu erkennen. Onish vom Weg hat eine besondere Gabe, die von Nutzen sein könnte. Silmira und ihre Nsilí suchen ihn, aber bisher vergeblich. Manchmal vergehen Monde bis sein verschlungener Weg ihn zu anderen Mitgliedern der Gilde führt. Aber ... »
Dánan unterbricht sich und starrt auf ihre runzligen Hände. Sie sind immer noch kräftig von der Arbeit im Garten und als Heilerin. Mirim wagt nicht, eine Frage zu stellen. Erst nach einer langen Pause fährt die Schattenwandlerin fort.
«Da gibt es noch ein seltsames Detail ... Es scheint, als ob eine unbekannte Krankheit gleichzeitig  die kleinen Wesen der Nacht heimsucht. Ich kann mir darauf keinen Reim machen. Etwas derartiges ist absolut unmöglich. Es sei denn, wir hätten es mit großer Magie zu tun. Allerdings habe ich noch nie von einer Art Magie gehört, die so etwas bewirken könnte.»

~ ~ ~

Dánirah schlägt kurz nach dem Sonnenhöchststand vor, bei einem kleinen Hof Rast zu machen. Es ist kalt und schneit bereits seit dem Morgen. Deshalb ist Talai noch so gern bereit, auf den Vorschlag ihrer Reisegefährtin einzugehen. Sie nähern sich dem Haus auf einer zugeschneiten alten Wegspur. Es liegt etwas abseits der großen Straße, geduckt zwischen verschneiten Bäumen. Das strohgedeckte Dach zieht sich weit über die kleinen Fenster hinunter. Wären nicht die Spur und der Rauch, der sich aus dem Kamin kräuselt, sähe es beinahe unbewohnt aus. Dánirah zieht ihren Handschuh aus und klopft an die verwitterte Holztür. Nach einer Weile öffnet sie sich zögernd. Ein Mann in einfacher Kleidung und mit einem struppigen blonden Bart mustert die beiden Besucherinnen skeptisch. Dánirah nimmt ihre Mütze ab und streicht sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht.
«Ich grüße dich. Wir wollten fragen, ob wir unter deinem Dach eine Rast machen dürfen. Das Wetter ist heute unfreundlich uns Reisenden gegenüber.»
«Das sehe ich. Nun, kommt herein, ihr könnt euch in der Küche hinsetzen. Aber seid bitte leise, meine Tochter ist krank.»
«Wenn das so ist, sollten wir wohl besser weiterziehen.»
«Nein, ist schon in Ordnung. Heute geht es ihr erstmals etwas besser. Kommt herein.»
Talai atmet auf. Die Aussicht, sich aufzuwärmen, ist sehr willkommen. Ihr Gastgeber tritt beiseite, so dass sie in die große Küche eintreten können. Der Raum besitzt keine Decke, sondern erstreckt sich bis ganz oben unters Dach. Im trüben Licht, das durch die Fenster fällt, sind die rußgeschwärzten Balken des alten Dachstuhls zu erkennen. Dankbar ziehen Talai und Dánirah ihre durchnässten Jacken aus und hängen sie in der Nähe des Herdfeuers auf. Der Bauer gießt Ihnen Tee ein. Talai stellt ihre Tasche mit der Laute vorsichtig in eine Ecke und nimmt dankbar den Becher entgegen. Sie genießt die Wärme, die schon bald ihre klammen Finger zum Kribbeln bringt. Da tritt aus einer angrenzenden Kammer eine Frau in die Küche. Auf dem Arm trägt sie ein blasses Kind. Das Mädchen mag vielleicht zwei Sommer alt sein. Es blickt die Besucherinnen aus großen Augen an. Seine Mutter lächelt den beiden zu, bevor sie das Kind seinem Vater reicht und beginnt, Zutaten für eine Mahlzeit zusammenzustellen. Dánirah versucht, abzuwehren.
«Wir wollen euch nicht zur Last fallen. Es genügt, wenn wir uns hier etwas aufwärmen und trocknen dürfen. Wir werden weiterziehen und uns im nächsten Ort eine Unterkunft suchen.»
«Nein, bitte, setzt euch. Wir haben etwas zu feiern und wenn ihr schon hier seid, sollt ihr teilhaben. Unsere Tochter war sehr krank, wir glaubten, sie würde sterben. Alles was wir versuchten, war vergebens, alle Heilmittel nutzlos. Heute geht es ihr zum ersten Mal wieder besser.»
Dánirah tritt zu dem Kind und legt ihm die Hand auf die Stirn. Sie kann kein Fieber spüren. Das Mädchen betrachtet erstaunt ihr schwarzes Haar und greift nach den klirrenden Silberringen an ihrem Handgelenk. Dánirah lässt das Kind damit spielen und wendet sich an die Mutter.
«Sie hat kein Fieber. Sprichst du von dieser Krankheit, die Kinder teilnahmslos macht?»
«Ja, teilnahmslos und appetitlos. Viele sterben. Weißt du etwas darüber?»
«Wir haben unterwegs davon sprechen hören. Wisst ihr, warum es eurer Tochter besser geht?»
«Nein, vielleicht haben die Gebete geholfen, vielleicht der Kräutertee des Heilers im Dorf oder der Schnee. Vorgestern hat sie zum ersten Mal wieder genügend getrunken und heute - sieh sie dir an!»
Während Talai ihrer Gastgeberin hilft, die Zutaten für eine Suppe vorzubereiten, spielt Dánirah mit dem Kind. Die Tanna zeigt dabei eine Seite, die Talai bisher nicht kennenlernte. Der Bauer holt inzwischen draußen Holz. Die Schläge seiner Axt dringen dumpf durch die Wand. Als er zurück in die Küche kommt, bleibt er mit seiner Ladung Holz stehen und beobachtet lächelnd, wie seine Tochter an Dánirahs Armringen zerrt.
«Wenn ihr wollt, könnt ihr hier übernachten. Der Schnee wird immer dichter und bald ist es draußen dunkel. Wir können euch hier in der Küche ein Lager einrichten.»
Dánirah blickt fragend zu Talai. Diese hat auf Anweisung der Bäuerin draußen einen Kessel mit Neuschnee geholt und hängt ihn nun zum Schmelzen über das Feuer. Sie hat keine Lust, wieder in den Schnee hinauszugehen. Deshalb nickt sie Dánirah zu.
«Wir bleiben gerne. Heute Nacht wird es gut sein, ein Dach über dem Kopf zu haben.»
Der Bauer scheint damit zufrieden zu sein. Er beginnt, aus Decken zwei Betten in der Nähe des Herds einzurichten. Dabei fällt sein Blick auf Talais Tasche.
«Ist das eine Laute, da in deiner Tasche? Spielst du für uns? Wir haben schon sehr lange keine Musik mehr gehört.»
Drei Augenpaare richten sich hoffnungsvoll auf Talai. Diese sieht sich nach Dánirah um. Die Tanna nickt aufmunternd. Talai packt ihre gut eingewickelte Laute aus und stimmt das kalte Instrument. Einen Moment lang blickt sie ins Herdfeuer, bevor sie leise ein altes Wiegenleid anstimmt.

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