Zweites Buch
Weiße Blüte, Schwarzes Feuer
Sorim
Sorim lässt geschickt einen flachen Stein hinaus über die kleine, offene Wasserfläche schnellen. Der Steinsplitter hüpft ein ... zwei ... drei ... vier ... fünf Mal, bevor er kurz vor dem anderen Ufer des Teichs auf das Ufereis prallt. Das hätte sein Großvater sehen sollen! Sorim lächelt beim Gedanken an den alten Mann, der ihm beibrachte, wie man einen flachen Stein über die Wasseroberfläche hüpfen lässt. Das ist bereits so lange her, dass er manchmal fürchtet, das Gesicht des Großvaters zu vergessen, die tausend Fältchen um die graugrünen Augen unter den wuchtigen Augenbrauen, die etwas krumme Nase und den Mund, in welchem immer eine Tabakspfeife hing.
An seine Eltern kann sich Sorim nicht erinnern, aber sein Großvater war der beste Mensch, den er in seinem kurzen Leben kennenlernte. Alles, was er übers Überleben weiß, hat er von ihm gelernt. Er vermisst den alten Mann sehr. Aber niemand kann die Zeit zurückdrehen und Sorim hat längst gelernt, dass es nichts hilft, sich den Großvater zurück zu wünschen. Nur manchmal, wenn er die Gelegenheit findet, einen halben Tag das hektische Treiben der Mine hinter sich zu lassen, erlaubt er sich einen Moment der Erinnerungen.
Heute ist so ein seltener Tag. Ein Einsturz in einem der Hauptschächte brachte die Förderung zum Erliegen. Durch die Erschütterungen wurde auch der zweite Einstiegsschacht in Mitleidenschaft gezogen. Zum Glück geschah der Einsturz während des Schichtwechsels, so dass zumindest keine Menschen unten in der Mine eingeschlossen sind. Für Sorim ist deshalb heute ein Glückstag. Bis all der Schutt beiseite geräumt und die Holzversteifungen des Schachts erneuert sind, werden seine Dienste nicht gebraucht. Die Räumungsarbeiten sind zu schwer für die kleineren der Kinder und er genießt die unerwartete freie Zeit.
Sorim verbringt diese kostbaren Momente oben in den Bergen, an seinem Lieblingsplatz. Von dem kleinen Tal mit dem Bach und dem beinahe zugefrorenen Teich aus ist die Mine weder zu sehen, noch zu hören. Hier kann er sich vorstellen, es sei alles noch wie früher, als er noch mit dem Großvater unten in Diek lebte. Der alte Mann nahm ihn oft mit in die Berge. Er war ein guter Jäger und kannte Stellen, wo kostbare Steine in Felsspalten verborgen liegen. Sie verkauften das Fleisch im Dorf und die Steine an fahrende Händler. Vom Erlös konnten der alte Mann und der Junge gut leben. Im letzten Winter begann der Großvater aber zu husten. Er hatte die Krankheit abgetan und war weiterhin mit Sorim auf Winterjagd gezogen. Der Husten wurde immer schlimmer und es nützte auch nichts, dass Sorim ihr Erspartes aufbrauchte, um einen Heiler zu bezahlen.
Als der Großvater schließlich starb, blieb dem Jungen nichts anders übrig, als der Anweisung des Dorfältesten zu folgen. Dieser schickt ihn mit einem Fremden weg. Der Mann sprach kaum ein Wort zu Sorim, während er ihn in ein abgelegenes Seitental des Diòar brachte. Dort stellte sich heraus, dass der Mann zu den Betreibern der Mine von Hilak gehört, in der Sorim nun zusammen mit zahlreichen anderen Kindern arbeitet. Dafür bekommt er regelmäßig etwas zu essen, hat ein Dach über dem Kopf und erhält sogar einen kleinen Lohn. Dieser geht allerdings nicht an die Kinder selbst, sondern an ihre Eltern. In Sorims Fall bezieht der Dorfälteste von Diek die jährliche Entschädigung. Dagegen kann der Junge nichts unternehmen. Natürlich hat er sich schon oft überlegt, einfach davonzulaufen. Aber wo soll er hin? Allein in den Bergen zu überleben, traut er sich nicht zu. Zumindest nicht jetzt, im Winter. Aber er nimmt sich fest vor, es sich noch einmal zu überlegen, sobald es wärmer wird.
Bis dahin muss er sich ohnehin um Laiàn kümmern, das Mädchen, das er vor beinahe einem Mond aus der Mine holte. Es war damals sehr krank, und lange Zeit sah es aus, als würde es nicht überleben. Er bringt ihm regelmäßig frisches Wasser, das er jeden Morgen mit einer verbeulten Blechkanne aus einem kleinen Bach oberhalb der Mine holt, und etwas zu essen. Das letzte ist gar nicht so einfach, musste er doch zunächst einen Küchengehilfen überzeugen, ihm doppelte Rationen zu geben. Zum Glück stellte sich heraus, dass einer der Jungen Laiàn kennt und deshalb bereit ist, zu helfen. Zu Beginn aß das Mädchen ohnehin fast gar nichts und manchmal legte Sorim einfach einen Teil seiner eigenen Mahlzeit beiseite. Mindestens alle paar Tage besorgt sein Freund in der Küchenmannschaft aber etwas altes Brot und einen Teller Suppe für seinen Pflegling.
Laiàn ist nicht das einzige kranke Kind im Minendorf. Die meisten sterben rasch, nur wenige erholen sich soweit, dass sie die schwere Arbeit in den Schächten wieder aufnehmen können. Deshalb sind die Betreiber der Mine nicht bereit, viel für die Kranken zu tun. Wer nach drei Tagen nicht wieder wohlauf ist, wird aus der Arbeitsliste gestrichen. Damit hat er auch kein Anrecht auf Nahrung mehr. Wer keine Freunde hat, die ihn danach pflegen und versorgen, hat kaum Überlebenschancen. Sorim weiß von vielen anderen Kindern, die sich um kranke Geschwister oder Freunde kümmern. Manche von ihnen werden rasch selber krank, weil sie wenig essen und so von Tag zu Tag schwächer werden.
Sorim hatte bisher Glück, auch wenn er nicht weiß, warum. Laiàns Krankheit scheint zumindest nicht ansteckend zu sein. Inzwischen geht es ihr sogar soweit besser, dass sie wieder aufsitzen kann und etwas Appetit hat. Gestern Abend bestand sie sogar darauf, einen kleinen Spaziergang zu machen. Sorim führte sie einmal durch den ärmlichen Teil des Dorfes, in dem die Kinder untergebracht sind. Sie stützte sich schwer auf ihn, aber ihr Lächeln war ihm die Anstrengung wert. Das, und die großen Augen der anderen Kinder, die geglaubt hatten, Laiàn sei ein hoffnungsloser Fall. In einigen Gesichtern sah Sorim aber förmlich die Hoffnung aufblühen. In diesem Moment wurde ihm klar, dass Laiàns Überleben vielleicht zahllosen anderen Kranken helfen wird, die von ihren Freunden bereits aufgegeben wurden.
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Talai
FantasyNach einem Überfall findet sich die rebellische Tochter des Sonnenkönigs allein in einem fremden Land - einem Land, dessen Kinder von einer tödlichen Krankheit heimgesucht werden. Auf dem langen Weg nach Hause findet Talai überraschend Hilfe und Fre...