Talai 1-14 Dánans Tal

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Dánans Tal

Talai fällt erschöpft in das weiche Bett, das sie sich mit Dánirah teilt. In dem Gasthaus war nur noch dieses eine Zimmer frei und das große Bett bietet leicht zwei Personen Platz. Flüchtig kommt Talai der Gedanke, dass ihr Bett zuhause in Penira in diesem Fall drei oder vier Schläfer fassen würde. Sie lächelt über diese Vorstellung. Dánirah, die gerade die Kerze auslöschen will, bemerkt es.
«Was macht dich so glücklich, Blüte von Kelèn?»
«Ich habe an Zuhause gedacht. In den vergangenen Monden hatte ich nicht oft Gelegenheit, in einem weichen Bett zu schlafen.»
Dánirah löscht mit einem wissenden Lächeln die Kerze und schlüpft zu Talai unter die Decke. Diese begrüßt die zusätzliche Wärme. Das Zimmer liegt ganz unter dem Dach und ist kalt. Zudem nutzten die beiden Frauen die Gelegenheit, das heiße Badewasser zu brauchen, das ein reicher Kaufmann verschmähte. Ihm war die hölzerne Wanne zu schmutzig. Nun sind ihre Haare noch feucht, was in der kühlen Luft unangenehm ist. Dánirah hat sich aus diesem Grund ihren großen schwarzen Schal um den Kopf gewickelt. Talais eigenes Halstuch ist zu klein dafür, aber sie versuchte trotzdem, sich damit so gut wie möglich einzupacken. Sie zittert und ist froh, dass Dánirahs Körperwärme allmählich die Kälte aus dem Bett vertreibt. Im Lauf der letzten drei Tage legte sich ihr anfängliches Misstrauen der Tanna gegenüber.
Talai erinnert sich an den ersten gemeinsamen Abend, nach der Überfahrt über den Haon. Sie wurden vom Wirt des kleinen Gasthofs, der Dánirah von früher kannte, freundlich aufgenommen. Das Haus war gut besetzt, aber er überließ ihnen zwei Pritschen in der Unterkunft der Bediensteten. Dafür spielte Talai nach dem Essen in der Gaststube einige Stücke auf ihrer Laute, was den Gästen zu gefallen schien. Sie war überrascht, als Dánirah beim zweiten Lied mit ihrer angenehm warmen, etwas tieferen Stimme eine Begleitung mitsang. Das begeisterte die Zuhörer und sie verlangten nach mehr, sowohl mehr Musik als auch mehr Getränken. Der Wirt strahlte zufrieden über sein pausbäckiges Gesicht und Talai fürchtete nach einem Dutzend weiterer Lieder, ihr beschränktes Repertoire werde nicht ausreichen, um das Publikum zufriedenzustellen. Aber Dánirah, die bemerkte, dass sie müde wurde, machte ihr einen überraschenden Vorschlag. Talai sollte eine leise Begleitung spielen, während sie eine Geschichte erzählte. Sie hatte so etwas vorher noch nie gehört, aber Dánirah ließ sich nicht beirren. Sie erklärte den Zuhörern, das sei nun das letzte Stück des Abends, dafür ein ganz besonderes und vor allem langes. Sie wartete, bis die Bedienungen des Gasthauses eine weitere Runde Getränke serviert hatten und begann dann mit einem aufmunternden Nicken zu Talai eine einfache Melodie zu summen. Diese auf der Laute zu begleiten, war leicht. Nach einiger Zeit brach Dánirah das Summen ab und während Talai weiterspielte, erzählte sie eine Geschichte. Es war eine Legende, die Talai und offensichtlich auch die meisten Gäste noch nie gehört hatten. Gespannt lauschten sie, bis Dánirah zum Ende kam. Talai spielte noch etwas weiter und brachte die Musik im Beifall der Gäste zu einem passenden Schluss.
Am nächsten Morgen drückte der Wirt Dánirah einige Münzen in die Hand und forderte die beiden Frauen auf, sein Haus jederzeit wieder zu besuchen. Die Tanna reichte die Münzen Talai, welche das Geschenk zunächst nicht annehmen wollte. Schließlich war es Dánirah zu verdanken, dass der Abend so erfolgreich geendet hatte. Aber diese meinte, falls sie zusammen weiterreisen würden, spiele es keine Rolle, wer die Münzen trage. Und falls Talai sich entschließen sollte, alleine weiterzuziehen, hätte sie zumindest eine Notreserve für schlechte Tage.
Seither wandern die beiden ungleichen Frauen gemeinsam nach Norden. Talai muss zugeben, dass sie froh ist, eine Weggefährtin gefunden zu haben. Sie fürchtet sich nicht mehr, wenn sie anderen Reisenden begegnen und ist froh, dass die Tanna den Weg gut kennt. Außerdem weiß sie genau, wo es Übernachtungsgelegenheiten gibt, welcher Wirt mit sich reden lässt und welcher Bauer Reisenden gegenüber hilfsbereit ist.
Trotzdem haben sie bisher nie viel über ihre Vergangenheit gesprochen. Talai ist sicher, dass Dánirah seit jenem ersten Abend weiß, wer sie ist. Sie fragt aber nicht nach ihrer Geschichte und drängt sie nicht dazu, etwas von sich erzählen. Unterwegs verbringen sie die Zeit damit, Liedertexte auszutauschen und einander neue Balladen beizubringen. Talai holt zeitweise sogar im Gehen ihre Laute hervor, um die Melodien zu üben. Das geht natürlich nur, wenn sie auf einer guten Straße unterwegs sind. Die Tanna kennt viele Abkürzungen, die sie oft über Feldwege und durch tiefen Schnee führen. Talai ist froh, dass ihre Begleiterin unterwegs Stiefel anzieht. So fallen sie einerseits weniger auf, andererseits friert sie nicht ständig nur beim Gedanken daran, wie kalt sich Dánirahs Füße anfühlen müssen. Fröstelnd rückt Talai noch etwas näher zu ihrer Bettgefährtin. Obwohl sie müde ist, lassen sie die Gedanken, die unaufhaltsam in ihrem Kopf kreisen, nicht einschlafen.
«Erzähl mir etwas von dir, Dánirah.»
«Was möchtest du hören? Du weißt schon dass ich zum Volk der Tannarí gehöre und eine Wahrträumerin bin.»
«Ich weiß nicht viel über die Tannarí. Was ist eine Wahrträumerin genau? Eine Magierin?»
«Nein, ich besitze genau so wenig magische Kräfte wie du. Das Träumen ist eine Gabe und oft eine Last. Ich habe sie von meiner Mutter Shonai geerbt. Die Träume sind immer wahr, auch wenn ich oft nicht weiß, was sie bedeuten. Manchmal sagen sie wichtige Ereignisse voraus. Meist sind sie an eine bestimmte Person gerichtet. Es ist dann meine Aufgabe, diese Person zu finden und ihr von dem Traum zu erzählen. Ich habe Träume für Silàn von Silita geträumt, für Onish vom Weg und Kej, die Hüterin der Feuerdrachen. Manchmal träume ich aber auch für ein Kind, das krank ist oder einen Holzfäller, der in einer Schlucht verunfallen würde, an einem ganz bestimmten Tag. Ich weiß nicht woher die Träume kommen und weshalb. Vielleicht rettet dieses Kind später jemandem das Leben oder der Holzfäller ist der Vater eines zukünftigen Schattenwandlers. Vielleicht auch nicht.»
Talai lässt sich das durch den Kopf gehen. Einerseits ist es bestimmt schön, anderen Menschen zu helfen. Andererseits scheint Dánirah ein sehr ruheloses Leben zu führen.
«Bedeutet das, dass du immer unterwegs bist?»
«Meistens. Manchmal finde ich irgendwo etwas Ruhe, im Tal von Dánan vom Berg etwa oder auf Silita-Suan. Aber früher oder später schicken die Träume mich weiter.»
«Weißt du, weshalb du von mir geträumt hast?»
«Nein, Talai, noch weiß ich das nicht. Aber ...»
Schweigend wartet die Tochter des Sonnenkönigs auf die Fortsetzung. Schließlich seufzt Dánirah leise. Ihre Stimme ist nur noch ein Flüstern.
«Ich habe damals von deinem Bruder Mirim geträumt, als er krank war. Ich habe auch von Miràn geträumt, als sie beinahe starb, und sie in Dánans Tal gebracht. Du erinnerst dich bestimmt an sie. Ich bin immer noch sicher, dass das Schicksal der beiden irgendwie verwoben ist. Du warst damals ein kleines Kind und spieltest im Geschick der Welt keine Rolle und kamst in meinen Träumen nicht vor. Nun ist das anders, ich weiß nur noch nicht weshalb. Aber ich bin sicher, dass weitere Träume die Dinge klären werden.»

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