Erstes Buch
Sonnenkind
Zerbrochenes Geschirr
Die Sonne verdrängt die klammen Morgennebel über den Dächern und erwärmt den Palastgarten. Ihr Licht beleuchtet das Laub der Bäume in Gold- und Rottönen. Ein leichter Wind lässt Schattensprenkel über die sorgsam gepflegten Beete mit Herbstblumen und die Kieswege tanzen. Auf dem großen Platz herrscht emsiges Treiben. Gespannte Erwartung zeichnet die Gesichter der Dienerinnen, die eifrig die Tafel für das große Festmahl vorbereiten. In das Klirren von Gläsern und Tellern mischt sich freudiges Lachen.
Talai bemerkt nichts von der ausgelassenen Stimmung. Sie schlendert gedankenverloren und mit gerunzelter Stirn an den langen Tischen entlang, ohne darauf zu achten, wem sie dabei in den Weg kommt. Nicht dass jemand wagen würde, die Königstochter zurechtzuweisen. Eigentlich wäre es ihre Aufgabe, die Festvorbereitungen zu beaufsichtigen. Aber sie fühlt sich überflüssig und hat weder Interesse an diesem Auftrag noch besitzt sie dafür die nötige Geduld. Die Frauen, die seit Jahren im Palast arbeiten, wissen ohnehin genau, was zu tun ist. Sie arrangieren komplizierte Blumengestecke und legen feines Geschirr auf, bringen Wasserkrüge und Schalen mit Obst.
Normalerweise würde Talai sich auf das große Fest freuen, selbst wenn es das Ende das Sommers ankündet. Aber heute stört sie sich an der guten Laune der Menschen um sich herum. Ihre Gedanken drehen sich einzig und allein um die Frage ihrer Zukunft.
Energisch wendet sie sich ab, um in ihre Gemächer zurückzukehren. Zu spät bemerkt sie, dass sie damit einer jungen Dienerin den Weg abschneidet. Ein Tablett mit kostbaren Porzellantellern landet klirrend am Boden. Entsetzt starrt Talai auf den Scherbenhaufen, bevor sie ihren Blick zu dem Mädchen hebt, dem das Unglück passiert ist. Es ist noch sehr jung, vielleicht zwölf Sommer alt. Tränen stehen in seinen Augen, als es sich mit zitternden Händen bückt und hilflos beginnt, Scherben einzusammeln. Talai löst sich nur langsam aus ihrer Starre. Sie will sich hinknien, um dem Mädchen zu helfen, sich entschuldigen. Aber bevor sie dazu kommt, wird sie unsanft an der Schulter gepackt und beiseite geschoben. Unwillig schüttelt Talai die Hand der resoluten Frau ab, welche die jungen Dienerinnen beaufsichtigt. Diese würdigt sie keines weiteren Blickes, so, als sei die Tochter des Königs ihrer Aufmerksamkeit nicht würdig. Energisch ruft sie Hilfe herbei, um die Scherben wegzuräumen. Dann schilt sie das Mädchen, welches das Tablett fallen liess. Talai ist das nicht recht, sie möchte den Vorfall erklären. Aber niemand lässt sie in der Aufregung zu Wort kommen. Deshalb wendet sie sich schließlich ab und geht mit gesenktem Kopf langsam davon.
Daran, in den Palast zurückzukehren, ist im Moment nicht zu denken. Neugierige Bedienstete versperren den Eingang, angelockt von der Aufregung im Hof. Talai verzieht sich deshalb auf die andere Seite der Gartenanlage. Allerdings ist ihr das nicht annähernd weit genug vom Festplatz entfernt. Der Palast von Penira mag riesig sein, aber der Platz auf dem Felssporn hoch über der Hauptstadt ist trotzdem beschränkt. Der Hof mit dem königlichen Garten liegt im Zentrum der Anlage. Er ist großzügig ausgelegt, aber ein guter Bogenschütze könnte wohl einen Pfeil von einem Ende ans andere schicken. Talai ist zumindest überzeugt, dass sie das schaffen würde. Allerdings dürfte sie sich damit deutlich mehr Ärger einhandeln als mit einem Tablett zerbrochenen Geschirrs. Sie beschließt, den Hinterausgang des Hofs zu benutzen und durch den Gebäudeflügel mit den Ställen hindurch in den Trainingshof der königlichen Garde hinunter zu steigen.
Leise schließt sie die schwere Tür hinter sich und lehnt sich mit dem Rücken an die sonnenwarme Wand neben der Waffenkammer. Sie ist ein häufiger Gast in diesem Teil des Palasts und liebt es, den Gardisten bei ihren täglichen Kampfübungen zuzusehen. Einige junge Krieger üben sich unter der Anleitung eines Offiziers im Schwertkampf. Talai möchte sich am liebsten selbst ein Schwert holen und mittrainieren. Aber sie weiß, dass das ihrem Vater zu Ohren kommen würde. Und selbst wenn der Sonnenkönig Pentim seiner einzigen Tochter die Vorliebe für Kampfkünste und das Reiten nachsieht, ist ihre Mutter Fanlaita da entschieden anderer Meinung. Die Königin behauptet, Talai sei nun erwachsen und verlangt von ihr, sich wie eine junge Dame zu betragen. Und junge Damen in Penira tragen nun einmal weder Schwerter noch Pfeil und Bogen noch Wurfmesser auf sich.
Talai verfolgt gespannt den Trainingskampf und konzentriert sich aus alter Gewohnheit darauf, die Stärken und Schwächen der einzelnen Jungen zu erkennen. Sie ist so in diese Beschäftigung vertieft, dass sie erschrocken zusammenzuckt, als sich jemand dicht neben ihr räuspert.
«Nun, was hält die Tochter des Königs von unseren Nachwuchstalenten?»
«Berim! Du hast mich erschreckt!»
Sie wirft dem alten Krieger einen betont finsteren Blick zu. Aber Berim lächelt nur. Er kann die Stimmungen der Königstochter besser einschätzen, als die meisten anderen Bewohner des Palasts. Sein Stimme nimmt einen leicht vorwurfsvollen Ton an.
«Solltest du nicht im königlichen Garten die Festvorbereitungen beaufsichtigen?»
«Doch, schon, aber ich fürchte, dass ich dabei mehr Schaden anrichte, als dass ich eine Hilfe bin. Nachdem bereits ein Tablet mit feinem Geschirr zu Bruch ging, flüchtete ich hierher. Bitte sag meiner Mutter nichts.»
«Ich bin sicher, dass die Königin auch so herausfindet, wo ihre Tochter sich herumtreibt. Außerdem haben dich inzwischen all unsere neuen Rekruten gesehen.»
Talai seufzt. Berim hat natürlich recht. Bestimmt weiß ihre Mutter längst, was oben im Hof vorgefallen ist und wird bald nach ihr suchen lassen. Fanlaita kann sich aus langer Erfahrung vorstellen, wo Talai sich in einer solchen Situation versteckt.
«Berim, können wir nicht ausreiten? Ich hatte schon lange keine Gelegenheit mehr dazu.»
«Heute nicht. Ich will mir nicht den Zorn der Königin zuziehen. Außerdem kommst du bald mehr zum Reiten, als dir lieb ist.»
Talai nickt. Ihr ist klar, dass heute keine Möglichkeit besteht, den Palastmauern zu entfliehen. Zudem steht die große Reise nach Lelai tatsächlich unmittelbar bevor. Allerdings freut sie sich nicht mehr darauf seit sie weiß, was ihr Vater im Anschluss an den Staatsbesuch plant. Gewaltsam versucht sie die unangenehmen Gedanken zu verdrängen, die ihr heute schon einmal zum Verhängnis wurden.
«Berim, warst du schon einmal in Lelai?»
«Ja, damals nach dem Krieg, als ich noch ein einfacher Krieger war. Liha teilte mich überraschend den persönlichen Wachen des Königs beim ersten offiziellen Staatsbesuch zu. Vermutlich dachte er, ein dunkler Haarschopf unter all den blonden Keleni wirke vertrauenerweckend. Die weiße Stadt wird dir gefallen.»
«Das glaube ich auch. Ich habe mir schon immer gewünscht, Lelai und das große Meer zu besuchen. Aber anschließend will Vater nach Jadrash weiterreisen, um mich dort dem Sohn des Fürsten von Inoira vorzustellen. Darauf freue ich mich überhaupt nicht.»
Berim wirft Talai einen unergründlichen Blick zu, der ihr ein Lächeln entlockt. Sie weiß, dass sie ihren alten Freund mit solchen Aussagen in Verlegenheit bringt. Der Fährtenleser und Krieger ist inzwischen einer der bedeutendsten Männer in der Garde des Sonnenkönigs. Er besitzt sowohl das Vertrauen des Königs selbst wie auch jenes von Liha, seinem engsten Berater und obersten Feldherrn. Trotzdem verbindet ihn mit der Königstochter eine Freundschaft, die mit seiner Position nichts zu tun hat.
Als Talai noch sehr klein war, sah sich Königin Fanlaita gezwungen, ihre Kinder vor einem gefährlichen Magier in Sicherheit zu bringen. Berim, den damals bereits ein festes Band der Freundschaft mit dem Heerführer Liha verband, fiel die Aufgabe zu, die Königin ins Exil im abgelegenen Atara zu begleiten. Nur eine Handvoll ausgewählter Krieger bildete die Eskorte. Im Schutz der Schattenwandlerin Dánan verbrachten sie viele Monde. Seither verbindet Berim und das Mädchen eine ungewöhnliche, aber tiefe Freundschaft. Talai denkt manchmal, dass der Krieger ihr näher steht als ihr eigener Vater. Von ihm lernte sie als Kind den Umgang mit Pfeil und Bogen und später mit dem Schwert. Er ließ sie auf seinem Pferd reiten und brachte ihr bei, eine Fährte zu verfolgen. Im Nachhinein ist Talai überrascht, wieviel Zeit sie mit Berim verbringen durfte. Vermutlich war ihre Mutter froh, dass sie ihre überschüssige Energie bei ihm verausgabte anstatt im Palast herumzutollen.
Ein leises Räuspern des Kriegers reißt sie aus ihren Gedanken. Über den Hof kommt ein junger Mann zielstrebig auf sie zu. Er ist festlich in den Farben des Hauses Diun gekleidet, das goldene Sonnensymbol in einem auffälligen Kontrast zum himmelblauen Stoff seiner Jacke. Sein langes blondes Haar fällt ihm wie oft ziemlich unordentlich über die Schultern, seine blauen Augen blinzeln schalkhaft.
«Talai! Hab ich mir doch gedacht, dass ich dich hier finde. Mutter sucht dich. Es wäre wohl besser, wenn du nach oben gehst und dich umziehst, bevor sie richtig wütend wird!»
Obwohl die Königin niemals richtig wütend wird oder es sich zumindest nicht anmerken lässt, weiß Talai, dass ihr Bruder recht hat. Sie hat heute Pflichten und kann sich eigentlich nicht erlauben, im Trainingshof herumzustehen.
«Ich weiß, Mirim. Aber ich war da oben mehr im Weg, als dass ich helfen konnte. Außerdem bin ich schuld, dass eine ganze Ladung kostbares Geschirr aus Lellini zu Bruch ging. Damit habe ich mich beim Personal für heute schon unbeliebt genug gemacht.»
«Trotzdem, du musst bereit sein, wenn das Fest beginnt. Und wer weiß, vielleicht ist ja ein gutaussehender junger Edelmann unter den Gästen.»
Nur Berims Anwesenheit hindert Talai daran, sich auf ihren älteren Bruder zu stürzen. Sie kann seine Hänseleien nicht leiden, vor allem wenn er auf ihre Möchtegern-Liebhaber anspielt. Seufzend drückt sie sich deshalb von der Wand ab, um sich von Berim zu verabschieden. Der alte Krieger fährt sich mit der Hand durch sein langes schwarzes Haar.
«Nimm es nicht so tragisch, Talai. Die Entscheidung liegt bei dir. Du kannst hier in Penira einen Ehemann suchen oder mit dem König nach Jadrash reisen, um dir den Sohn des Fürsten von Inoira anzusehen. Ich bin sicher, dass dir dein Vater die Wahl lässt.»
«Das hoffe ich zumindest. Aber ich will überhaupt noch keine Wahl treffen. Ich habe keine Lust, mich für einen Ehemann zu entscheiden. Mirim ist immerhin drei Jahre älter als ich und auch noch nicht verheiratet.»
Sie wirft ihrem Bruder einen vorwurfsvollen Blick zu. Wie immer bringt ihn das nur zum Lachen.
«Ich glaube, Mutter und Vater würden sich weniger Sorgen um deinen Zukünftigen machen, wenn du auch nur das geringste Interesse am anderen Geschlecht zeigen würdest. Vielleicht solltest du heute Abend einem der jungen Edelmänner schöne Augen machen. Du musst dich ihm ja nicht gleich an den Hals werfen, und verlieren kannst du dabei nichts.»
«Doch, im schlimmsten Fall meine Unabhängigkeit. Dafür bin ich nicht bereit. Die Edelmänner von Penira verbringen ihre gesamte Zeit in ihren Palästen mit Festgelagen und politischen Spielen. Ich will etwas von der Welt sehen, nicht als Macht- oder Prestigeobjekt hinter den Mauern eines Stadthauses ersticken.»
Ohne auf eine Antwort zu warten, macht sie sich auf den Weg zu den Räumen der königlichen Familie. Es wird wirklich Zeit, dass sie sich umzieht. Wenn sie sich beeilt, kann sie vielleicht noch etwas auf ihrer Harfe spielen. Das beruhigt sie und ist zudem eine der wenigen Beschäftigungen, welche auch die Königin für ihre Tochter als angemessen betrachtet.
Während Talai die Treppen hochstürmt, überlegt sie, ob sie Mirims Rat folgen und sich nur zum Schein für einen ihrer Verehrer interessieren sollte. Sie will diese Möglichkeit für den Moment zumindest nicht ausschließen. Aber sie kann diese Taktik immer noch anwenden, sobald sie von der Reise nach Lelai zurückkommt. Vielleicht lernt sie ja unterwegs jemanden kennen, der sowohl ihren eigenen Ansprüchen wie auch jenen ihrer Eltern genügt. Allerdings bezweifelt sie, dass es der Sohn des Fürsten von Inoira sein wird.~ ~ ~
Berim starrt noch eine Weile auf die Tür, durch welche zuerst die Prinzessin und kurz darauf der Thronfolger verschwunden sind. Er kann sich noch gut daran erinnern, wie Talai als kleines Kind war. Ein gutes Stück jünger als ihr Bruder Mirim hielt sie als richtiger Wirbelwind den ganzen Palast in Atem. Inzwischen ist sie erwachsen geworden, aber sie besitzt immer noch einen starken Willen und viel ungebändigte Energie. Berim kann gut verstehen, dass sie sich ein Leben mit einem Edelmann in Penira nicht vorstellen kann. Sie verbrachte als Kind zu viel Zeit mit den Kriegern unter seinem Kommando und später in den Ställen und hier im Trainingshof der Garde.
Berim fühlt sich mitschuldig daran, dass die Tochter des Königs sich in den Reihen der Adligen unwohl fühlt. Vermutlich hätte er damals, als er Fanlaita, Mirim und Talai endlich nach Penira zurückbrachte, den Kontakt mit dem Mädchen abbrechen sollen. Aber die junge Prinzessin, die sich rasch an ein einfaches Leben in einem abgeschiedenen Bergtal gewöhnt hatte und sich plötzlich wieder in Palastmauern gefangen sah, tat ihm leid. Zudem war auch der König damals der Meinung, Bewegung und die Fähigkeit, sich selbst zu verteidigen, könnten seinem Wildfang von einer Tochter nichts schaden.
So kam es, dass der besonnene Mirim alles lernte, was ein Thronfolger von Kelèn wissen musste, während seine jüngere Schwester bald mehr von Pferden verstand als die meisten Mitglieder der königlichen Reiterei. Anstatt zu sticken oder sich im Tanz zu üben zog sie es vor, ihren Bruder zu den Waffenübungen zu begleiten. Fanlaita verfolgte diese Entwicklung mit Besorgnis. Aber seit ihrem gemeinsamen Aufenthalt in Atara setzte sie Vertrauen in Berim und ließ ihrer Tochter die Freiheit, Zeit mit ihm zu verbringen. Solange Talai daneben fleißig ihren Unterricht besuchte und gute Fortschritte im Harfenspiel machte, verbot ihr die Königin den Umgang mit den Kriegern nicht. Die Folge ist nun, das Talai viele nützliche Dinge weiß, die sie als Gattin eines Edelmanns bestimmt niemals anwenden kann.
Berim versteht deshalb ihre Unzufriedenheit. Außerdem sagt ihm ein nagendes Gefühl, dass die Prinzessin zu Größerem bestimmt sei, als möglichst rasch zu heiraten. Obwohl er es nicht gerne zugibt, enthalten seine Vorahnungen oft mehr Wahrheit, als ihm lieb ist. Dánan meinte einst, das sei sein Erbe als Sohn eines Tanna, eines Jägers aus dem Volk der Dämmerung. Magische Begabungen sind bei Tannarí nicht selten. Aber Berim, der im Dienst des Hauses Diun und des Sonnenkönigs steht, wird nicht gerne an seine gemischte Herkunft erinnert. Magischen Begabungen gegenüber ist er grundsätzlich misstrauisch, aber vor Dánan hat er große Achtung. Die Schattenwandlerin ist eine vollblütige Tanna und er lernte sie nicht nur als Magierin schätzen, sondern auch als Heilerin und weise Ratgeberin. Vielleicht könnte sie Talai helfen? Berim, der keine Kinder hat, kann nicht auf eigene Erfahrung zurückgreifen, um ihr Ratschläge zu geben. Vermutlich sollte er Dánan aufsuchen. Noch besser wäre es, wenn Talai selber nach Atara reisen würde, um bei der Schattenwandlerin Rat zu suchen.
Entschlossen richtet der Krieger sich auf. Er wird noch vor ihrer Abreise mit Talai sprechen.
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Talai
FantasyNach einem Überfall findet sich die rebellische Tochter des Sonnenkönigs allein in einem fremden Land - einem Land, dessen Kinder von einer tödlichen Krankheit heimgesucht werden. Auf dem langen Weg nach Hause findet Talai überraschend Hilfe und Fre...