Talai 2-6 Eine Waffe

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Eine Waffe

Müde zieht sich Thisàn ihren warmen Mantel enger um die Schultern. Sie kommt vom letzten Krankenbesuch eines langen Arbeitstages und fühlt sich ausgelaugt. Ihre Gedanken weilen noch bei dem kranken Kind, das wohl trotz aller Anstrengung bald sterben wird. Sie begreift immer noch nicht, warum manche Kinder, die von der Krankheit betroffen sind, sich rasch erholen, während andere dahinwelken wie abgeschnittene Blumen.
In Gedanken versunken achtet sich nicht auf den Weg, den sie bereits tausendmal gegangen ist. Deshalb blickt sie verwirrt auf, als ihr jemand unsanft einen Ellenbogen in die Rippen stößt. Aber der halbwüchsige Junge ist schon weitergeeilt und verschwindet in der Menge. Auf der Straße, die von der Fähre kommt, herrscht Aufregung. Thisàn weicht an den Straßenrand zurück und lehnt sich mit dem Rücken gegen eine sonnenwarme Hauswand, um der Ursache für die plötzliche Hektik auszuweichen. Andere tun es ihr gleich und bald ist die Straße frei für eine Gruppe bewaffneter Reiter, die sich von der Fähre her nähern. Die Krieger tragen Rüstungen und hellblaue Mäntel. Als sie herankommen, erkennt Thisàn das Sonnensymbol auf den Brustplatten. Dies sind Krieger der königlichen Garde von Kelèn. Sofort fällt ihr Talai ein, die erst gestern den Fluss überquerte. Sie muss diesen Kriegern auch begegnet sein. Vielleicht ist sie sogar der Grund für ihre Anwesenheit. Gespannt beobachtet die Heilerin die nahenden Männer. Inmitten der Gruppe reitet eine junge Frau in einfacher Kleidung. Allerdings erkennt Thisàn auf den ersten Blick, dass das nicht Talai ist. Ihre Haut ist zu dunkel und das lange, schwarze Haar trägt sie in einen dicken Zopf geflochten. Aber das da an ihrer Seite, ist das nicht der Kronprinz? Die blonden Locken fallen dem jungen Mann offen über die Schulterplatten der Rüstung, die deutlich sorgfältiger gearbeitet ist als jene der gewöhnlichen Krieger. Thisàns Vermutung wird durch ein aufgeregtes Flüstern bestätigt, das durch die Menge läuft.
«Ist das nicht Prinz Mirim? Was macht er hier in Zalkenar?»
«Wer wohl die Frau sein mag, die mit dem Prinzen reitet?»
«Das ist der Prinz? Bist du dir sicher?»
«Hast du den Prinzen gesehen? Sieht er nicht hinreißend aus?»
Neugierig sieht sich Thisàn nach der Besitzerin der hellen Stimme um, welche die letzte Bemerkung machte. Das Mädchen mag gerade mal elf oder zwölf Sommer alt sein, bestimmt zu jung, um dem Prinzen von Kelèn schöne Augen zu machen. Die Heilerin schüttelt lächelnd den Kopf und folgt mit vielen anderen Schaulustigen dem Thronfolger und seiner Eskorte bis zum großen Gasthaus am Hauptplatz. Sie bleibt an einer Ecke stehen und beobachtet, wie der Wirt sich beeilt, den edlen Gast und seine Eskorte zu begrüßen. Es entgeht ihr nicht, wie zuvorkommend der Prinz mit der jungen Frau in seiner Begleitung umgeht. Er hilft ihr aus dem Sattel und reicht ihr seinem Arm, um sie ins Haus zu begleiten. Thisàn fragt sich, wer die Frau wohl sein mag. Nach der Haarfarbe zu schließen muss sie mindestens zur Hälfte Tanna sein. Ihrer Kleidung nach zu urteilen könnte es sich sogar um eine Schattenwandlerin handeln.
Es ist lange her, seit ein Schattenmagier Zalkenar besuchte. Onish, der Schattenwandler vom Weg war im vorigen Sommer hier, und Thisàn hatte Gelegenheit, mit ihm einige Rezepte auszutauschen. Sie selber besitzt keine magischen Kräfte, nur eine Begabung und viel Erfahrung in der Heilkunst. Deshalb hofft sie auf den Besuch Onishs oder eines anderen Schattenwandlers, seit sie zum ersten Mal hilflos dieser Kinderkrankheit gegenüber stand. Nun könnte dieser Wunsch in Erfüllung gehen. Aber wie soll sie es anstellen, mit der Fremden in Kontakt zu treten? Sie kann nicht jemanden ansprechen, der in Begleitung des Thronfolgers reist. Bestimmt würde sie weggejagt. Ihr fällt nur ein einziger Grund ein, warum Mirim sie empfangen könnte. Aber sie hat Dánirah und Talai fest versprochen, das Geheimnis der Prinzessin von Kelèn unter allen Umständen zu wahren.

~ ~ ~

Der Tag war anstrengend, und Talai ist froh, als sie im Schneegestöber von einem flachen Hügel aus endlich das langersehnte Dorf erkennt. Nun wird es nicht mehr lange dauern, bis sie sich ausruhen und ihre feuchten Kleider trocknen kann. Es wird bereits dunkel, und ohne das Licht in den Fenstern wären die niedrigen Häuser im Schnee nicht zu erkennen. Talai sehnt sich nach der Wärme einer Stube. Die nette Wirtin bestätigte ihr am Morgen bei ihrer Abreise, dass es in diesem Ort ein Gasthaus gibt. Sie meinte auch, hier werde Talai bestimmt wieder ein dankbares Publikum antreffen.
Eigentlich hatte sie gehofft, mit dem freundlichen Händler und seiner Frau weiterziehen zu können. Aber diese waren gezwungen, einen Tag Pause einlegen, um vom Schmied ein defektes Achsenlager reparieren zu lassen. Deshalb brach Talai auch heute allein auf. Der Vorteil ist, dass sie in diesem Wetter bestimmt schneller vorankommt als ein schwerbeladener Wagen. Aber sie fürchtet sich vor Wegelagerern, jetzt, wo sie sich wieder vom Kernland Kelèns entfernt und in Gegenden reist, die ihren Vater, den Sonnenkönig, nur formell anerkennen.
Endlich erreicht sie die ersten Häuser. Die Nacht ist sehr dunkel und der Schnee fällt immer dichter. Sie zieht sich die Kapuze ihrer Winterjacke tiefer ins Gesicht. Einige unzusammenhängende Gedankenbilder zeigen an, dass das Kae erwacht. Je länger Talai mit ihm unterwegs ist, desto besser kann sie seine Bilder erkennen. Was es jetzt gerade aussendet, müssen Fetzen eines Traums sein. Talai glaubt den warmen Wind eines Sommerabends zu spüren und das sanfte Plätschern eines Bachs zu hören. Sie lächelt vor sich hin, als sie sich vorstellt, dass das Kae genau wie sie inzwischen genug von diesem schier endlosen Winter hat. Vor ihr öffnet sich der kleine Dorfplatz. Wenn die Beschreibung der Wirtin von heute morgen stimmt, müsste das Gasthaus gleich auf der anderen Seite liegen. Mit neuer Energie stapft sie durch den inzwischen knöcheltiefen Schnee und rempelt beinahe eine dick vermummte Gestalt an, die ihr über den Platz entgegenkommt.
«He, was ist mit dir los? Kannst du nicht aufpassen?»
Talai zuckt unwillkürlich zusammen. Die Stimme des Mannes ist rau und aus der Art, wie er die Wörter dehnt, schließt sie darauf, dass er getrunken hat. Eilig versucht sie, ihm auszuweichen.
«Entschuldigung, ich habe im Dunkeln...»
Bevor sie ihren Satz beenden kann, wird sie unsanft am Arm gepackt. Der Fremde ist nicht allein. Sie versucht, sich loszureißen, während der erste Mann bedrohlich näher tritt und ihr ins Gesicht starrt. Sein Atem riecht nach Alkohol.
«Sieh an, was wir hier haben. Wenn das nicht eine gebührende Entschädigung für den Rauswurf aus der Wirtsstube ist!»
Der zweite Mann packt von hinten auch Talais anderen Arm mit festem Griff. Langsam bekommt sie richtig Angst. Sie öffnet den Mund, um nach Hilfe zu rufen. Aber der Betrunkene scheint ihre Absicht zu erraten und presst ihr rasch seine Hand auf den Mund. Instinktiv beißt Talai zu, aber ihre Zähne sind dem dicken Handschuh ihres Gegners nicht gewachsen. Sie spürt grenzenlose Panik in sich aufsteigen und wehrt sich verzweifelt gegen die beiden Angreifer. Der Betrunkene, der immer noch seinen Handschuh auf ihr Gesicht drückt, lacht höhnisch. Talai nimmt alle Kraft zusammen und tritt dem Mann hinter sich gegen das Schienbein. Als sich daraufhin sein Griff lockert, ist sie selber überrascht. Seine Stimme wirkt etwas unsicher.
«Du, ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist. Komm, lass uns gehen.»
Daraufhin verdoppelt Talai ihre Anstrengungen. Es gelingt ihr, den rechten Arm zu befreien. Verzweifelt stößt sie den Mann mit dem Handschuh von sich weg. Er taumelt ungeschickt einige Schritte zurück. Nun kann sie sich auch vom Gegner hinter ihr losreißen. Als sie sich umwendet, hebt er besänftigend die Hände, fast als ob er Angst vor ihr hätte. Zischend flüstert er seinem Freund eine Warnung zu.
«Komm schon, bevor wir das bereuen.»
Ohne eine Antwort abzuwarten, wendet er sich um und stolpert im Schneegestöber davon. Nach einem kurzen Zögern folgt ihm sein Freund nach, bemüht ihn einzuholen. Verständnislos blickt Talai den beiden hinterher. Warum sie wohl so plötzlich ihre Absicht geändert haben? Sie atmet tief durch und versucht, sich zu beruhigen. Verspätet bemerkt sie, dass die kalte Angst, die ihr Herz umfasst hält, nicht von ihr selber stammt: Das Kae projiziert soviel Panik in die Nacht hinaus, dass es Talai beinahe übel ist.
Jetzt, wo sie die Quelle der Angst kennt, fällt es ihr leicht, sich davon zu befreien. Kopfschüttelnd wendet sie sich ab, um sich auf die Suche nach dem Gasthaus zu machen. Wer hätte gedacht, dass die kleine Dunkelheit in ihrer Laute soviel Macht über erwachsene Männer besitzt. Während Talai auf den einladend beleuchteten Eingang des Gasthauses zugeht, versucht sie mit der Kraft ihrer Gedanken, sich bei dem Kae für die unerwartete Hilfe zu bedanken. Die kleine Dunkelheit schickt ihr eine Reihe von Gedankenbildern, die Talai für einmal problemlos entschlüsseln kann. Auf ein Bild der Nacht, in der sie sich zum ersten Mal begegneten, folgt eines des Kae, das einen Becher mit Wasser leertrinkt. Das nächste Bild zeigt das Kae in Talais Schoss und ein weiteres, wie die kleine Dunkelheit in die Laute kriecht. Sie versteht, dass das Kae diesen Freundschaftsdienst als selbstverständlich ansieht. Trotzdem ist sie beeindruckt, welche Macht die Waffe Angst besitzt.

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