Der Berg
Der fremde Magier mustert He'sha mit stechendem Blick während er einige Schritte näher tritt. Nun trennt die beiden Schattenwandler nur noch die Feuerstelle mit dem unheimlich blubbernden Topf.
«Sieh an, ein begabter Schattenwandler. Aber du bist bereits zu alt, um die Begabung zu entwickeln und hast also bereits eine Ausbildung erhalten. Sag mir, was du hier willst.»
«Ich möchte von dir lernen, wie ich gesagt habe.»
«Hältst du mich für dumm? Wenn das der Fall wäre, hättest du an die Tür geklopft, wie es sich gehört, und wärst nicht heimlich hier eingedrungen.»
He'sha muss sich eingestehen, dass der Magier in diesem Punkt recht hat. Er bemerkt, wie dieser Energie aus den flackernden Schatten sammelt, die das Feuer an die Hüttenwände wirft und tut es ihm gleich. Er weiß, dass er einem mächtigen Schattenwandler in einem magischen Kampf nicht gewachsen ist. Deshalb appelliert er an die Vernunft seines Gegenspielers.
«Deine Magie setzt Gifte frei, die das Wasser der Flüsse verschmutzt. Gibt es keinen anderen Weg, deine Steine aufzubereiten?»
Der ältere Mann runzelt misstrauisch die Stirn.
«Was verstehst du schon von der Magie der Steine? Wer schickt dich? Die Gilde der Schattenwandler? Mit denen habe ich nichts zu schaffen.»
Bevor He'sha etwas erwidern kann, hebt der Fremde die Hände und malt mit geschickten Fingern in rascher Folge magische Zeichen in die Luft. Eine Welle starker Magie schlägt He'sha entgegen. Blitzschnell wechselt er in seine Schattenform, gerade noch rechtzeitig, um den Angriff durch sich hindurchfliessen zu lassen. Zögernd nimmt er wieder seine menschliche Form an. Der Magier starrt ihn berechnend an.
«Das ist ein netter Trick, wie machst du das?»
He'sha macht sich nicht die Mühe, zu antworten. Ein Zucken der rechten Hand seines Gegenübers verrät ihm, dass er gleich mit einem neuen Angriff rechnen muss. Der Magier ist wirklich stark, und nur als Schatten kann He'sha die Angriffe überstehen. Der Gestaltwandel benötigt aber ebenfalls magische Energie. Trotzdem nimmt er wieder feste Form an, während er sich einen gewagten Plan zurechtlegt.
Mit jedem Energiestoß, den der Schattenmagier in seine Richtung schickt, wird He'shas Reaktion etwas langsamer, und nach jedem Angriff dauert es etwas länger, bis er wieder die Kontrolle über seine Gestalt erringt. Nach der vierten Welle von Magie taumelt er unbeholfen zur Seite und greift nach der Lehne eines Stuhls, um sich abzustützen. Aber noch bevor ihm das gelingt, schlägt sein Gegner wieder zu. He'sha sackt in sich zusammen, während er zu einem schwarzen Nebel wird. Die Energie, die für ihn bestimmt war, entlädt sich in einem Korb voller ausgebrannter Brennsteine, die zu Staub zerkrümeln.
Über den Verlust wütend streckt der Magier beide Arme aus, um seine Vorräte an Schattenmagie zu erneuern. He'sha kämpft sich mühsam hoch und lehnt sich hustend gegen einen Tisch. Noch bevor sein Anfall vorbei ist, beginnt sein Gegner schon wieder, Zeichenmagie zu weben. Diesmal geht der Tisch in Flammen auf und einige Bündel mit getrockneten Kräutern an den Dachbalken fangen Feuer. He'sha verliert einen Moment, indem er zu den glimmenden Bündeln hochblickt. Der nächste Energieschub verfehlt ihn nur um Haaresbreite und er findet keine Zeit, Gestalt zu wechseln. Es wird Zeit, seinen Plan umzusetzen.~ ~ ~
Das ausgemergelte Mädchen, das ihr mit einem Korb Steine entgegenkommt, starrt Talai stumm an, als sie fragt, wie lang der Stollen noch sei. Sie schüttelt den Kopf und folgt dem Kae, ohne weiter Zeit zu verlieren. Die Decke ist so tief im Stollen zu niedrig, als dass sie aufrecht gehen könnte. Geduckt und manchmal auf allen vieren kämpft sie sich voran. Talai, die früher sogar die prächtigen Gänge des Palasts von Penira als beengend empfand, muss immer wieder den Gedanken an die große Felsmasse über ihrem Kopf zurückdrängen.
Das Ijenkae treibt sie zur Eile an. Es ist der Meinung, die Stollen würden nicht mehr lange standhalten. An einer Verzweigung hält Talai unschlüssig. Soll sie nach rechts oder links weitergehen? In beiden Stollen erkennt sie entfernt voraus das bläuliche Licht von Brennsteinen. Das Kae nimmt ihr die Entscheidung ab und wählt den rechten Stollen. Talai, die nicht bereit ist, sich von ihrem kleinen Beschützer zu trennen, folgt ihm hastig. Erst nach einigen Schritten merkt sie, dass das Ijenkae den anderen Stollen wählte. Sie zögert einen Augenblick, entschließt sich aber dann, dem Kae zu folgen.
Bereits nach kurzer Zeit erreichen sie eine größere Kammer. Hier verzweigt sich der Stollen weiter. Am Boden liegen Tragkörbe, gefüllt mit Steinen für den Abtransport. Aber im Moment beschäftigt etwas anderes die Kinder. Ein Junge rollt eine lange Schnur aus, die von anderen Kindern sorgfältig in einen der schmalen Seitenstollen hinein ausgelegt wird. Talai kauert am Eingang der Kammer und beobachtet das Treiben verständnislos. Plötzlich spürt sie wie einen kalten Schauer die Präsenz des Ijenkae. Es rückt näher, bis sein dichter Schatten die junge Frau berührt. Diese schnappt nach Luft, als die intensiven Gedankenbilder der großen Dunkelheit sie überfluten. Aber nun versteht sie.
Diese Kinder sind dabei, eine Erweiterung in den Stollen zu sprengen. Dazu verwenden sie die magischen Sprengmittel, von denen Laiàn sprach. Schlimm daran ist, dass sie damit die Berggeister stören, die mächtigen Kereshí. Ihr Grollen bringt den Berg zum Zittern. Wenn es Talai nicht gelingt, die Kinder rechtzeitig aus der Mine zu bringen, besteht die Gefahr, dass sie alle verschüttet werden. Entschlossen steht sie auf.
«Hört mir zu, der Stollen wird gleich einstürzen. Ihr müsst hier raus.»
Mit erschrockenen Gesichter starren die Kinder sie an, aber keines regt sich. Ihre hageren Körper wirken im blauen Licht der Brennsteine wie versteinert. Talai versucht es noch einmal.
«Hört ihr nicht? Der Stollen stürzt ein, ihr müsst raus hier, sofort.»
Ein etwas älterer Junge schüttelt den Kopf.
«Wir dürfen nicht, erst wenn die Schicht zu Ende ist.»
Bevor Talai etwas erwidern kann, kommt ein hagerer Mann aus dem Stollen mit der Schnur gekrochen. Sein faltiges Gesicht drückt deutlich Verärgerung aus.
«Was ist hier los? Weshalb arbeitet ihr nicht? Ihr wisst genau, dass wir gleichzeitig mit der anderen Gruppe zur Zündung bereit sein müssen.»
Erst da fällt sein Blick auf Talai. Sie tastet nach ihrem Bogen. Aber das Kae reagiert blitzschnell. Es strahlt so intensive Gefühle der Angst aus, dass weder der Mann noch die Kinder zögern, die Kammer zu verlassen. Talai kann gerade noch zur Seite springen, damit sie im Eingang nicht überrannt wird. Sobald alle Kinder an ihr vorbei sind, schließt sie sich ihnen an, um zur Verzweigung zum anderen Stollen zurückzukehren. Das Ijenkae mahnt zur Eile. Talai weiß, dass sie keine Zeit verlieren darf.
Diesmal ergeht es ihr besser. Das Kae, das immer noch Angst ausstrahlt, huscht vor ihr den Stollen entlang. Noch bevor sie die zweite Kammer erreichen, wo ebenfalls eine Sprengung vorbereitet wird, kommen ihnen die ersten Kinder entgegengekrabbelt. Talai drückt sich zur Seite, um sie passieren zu lassen und befiehlt ihnen, den Stollen sofort zu verlassen. Ein Mädchen nimmt sich Zeit, ihr zu antworten.
«Ist doch klar, der Sprengmeister hat soeben die Lunte angezündet.»
Talai läuft es kalt den Rücken hinunter. Sie muss diese Sprengung unter allen Umständen verhindern. Eilig zwängt sie sich an den entgegenkommenden Kindern vorbei durch den Stollen.
Keuchend erreicht sie die Kammer. Ein bärtiger Mann packt sie an der Schulter.
«Was machst du hier? Die Ladung geht gleich hoch, zurück zum Hauptschacht, schnell!»
«Die Sprengung, können wir sie stoppen?»
«Nein, die Lunte brennt. Wir müssen raus hier.»
Unsanft zieht er Talai am Arm mit. Es bleibt ihr nichts anderes übrig, als dem Sprengmeister zurück in den Stollen zu folgen. Von Angst getrieben hastet sie weiter. Sie kann inzwischen nicht mehr unterscheiden, welches ihre eigenen Gefühle sind und welche jene des Kae. Talai bemüht sich, den Aufseher nicht aus den Augen zu verlieren. Er trägt eine Laterne mit einem Brennstein. Trotzdem rennt sie von hinten in hin hinein, als er plötzlich stehen bleibt.
«Was ist los?»
«Eines der Mädchen. Sie war schon die ganze Schicht nicht gut drauf, die Seuche hat sie erwischt. Hier, nimm die Laterne, ich trage die Kleine.»
Talai ist froh, dass der Aufseher das Kind nicht einfach liegen lässt. Sie selbst hätte Mühe, das Mädchen durch die Stollen zu tragen. Stattdessen bemüht sie sich, dem Mann den Weg zu beleuchten. Trotzdem kommen sie zu langsam voran. Talai ist beunruhigt.
«Wie lange noch bis zur Sprengung?»
«Jeden Moment, jetzt. Aber wir sind inzwischen weit genug draußen.»
«Nein, sind wir nicht. Diesmal stürzt der Stollen ein.»
Talais Tonfall ist so sicher, dass der Fremde ihr bedingungslos zu glauben scheint. Zumindest beschleunigt er wortlos sein Tempo.
Sie erreichen die Stelle, wo der Stollen breiter wird. Hier warten dicht gedrängt viele der Kinder. Talai ist entsetzt.
«Geht weiter, ich müsst hinaus. Der Stollen wird einstürzen.»
Im blauen Licht ihrer Laterne erkennt sie die fragenden Blicke, die auf den Mann neben ihr gerichtet sind. Natürlich, das ist ein Aufseher. Die Kinder werden sich nicht gegen seinen Befehl in Sicherheit bringen. Erschöpft lehnt sich Talai gegen die Stollenwand.
«Bitte. Ihr müsst hier raus.»
Der Aufseher mustert sie einen Moment lang. Dann wendet er sich mit fester Stimme an die Kinder.
«Tut was die Kelen sagt. Macht dass ihr rauskommt.»
Erleichtert folgt Talai dem Aufseher. Aber sie kommen zu langsam voran. Zum Glück sind einige Kinder schon früher geflohen. Trotzdem dauert es eine Ewigkeit, bis alle auf der Leiter sind. Talai und der Aufseher sind die letzten. Sie hilft ihm, das Mädchen über die Schultern zu legen und mit einem Stück Seil festzubinden. Während weiter vorne die Kinder eines nach dem andern zu klettern beginnen, befinden sie sich immer noch im waagerechten Teil des Stollens. Ein dumpfer Knall, gefolgt von einem tiefen Rumpeln hallt durch die Mine.
Talai stützt sich an der Stollenwand ab. Der ganze Berg vibriert und ein dunkles Grollen nähert sich rasend schnell durch den Stollen. Bevor sie sich wieder in Bewegung setzen und dem Aufseher nacheilen kann, bricht ein faustgroßer Stein aus der Decke und trifft sie am Kopf. Talai bricht besinnungslos zusammen.~ ~ ~
Dánirah, Numesh und die anderen Krieger sind nicht mehr weit vom Haupttor der Mine, als die Erde bebt. Laiàn, die unter keinen Umständen zurückbleiben wollte, packt Dánirahs Hand.
«Die Mine stürzt ein. Sie werden alle verschüttet!»
Die Wahrträumerin weiß instinktiv, dass das Mädchen recht hat. Sie drängt zur Eile. Als sie das Tor erreichen, erkennen sie gerade noch, wie die Wachleute davoneilen.
Kurzentschlossen durchschlägt Marish mit dem Schwert den Riegel und öffnet das Tor für die anderen. Denirah bemerkt, dass alle Krieger die Schwerter gezogen haben. Laiàn übernimmt leichtfüßig die Führung. Bald erreichen sie den ersten Minenschacht. Kinder strömen daraus hervor. Einige Aufseher sind dabei, ihnen zu helfen. Dánirah packt Numesh am Arm.
«Warte. Hier können Krieger nicht viel ausrichten. Aber wenn du jetzt die Aufregung nutzt, um die Minenverwaltung zu besuchen...»
Dánirah muss den Satz nicht beenden. Numeshs Grinsen zeigt deutlich, dass er verstanden hat. Mit einem kurzen Befehl sind er und seine Männer unterwegs zu den Verwaltungsgebäuden. Dánirah ruft Laiàn zurück und folgt langsamer nach.~ ~ ~
Als Liha das Beben der Erde spürt, weiß er, dass die Zeit zum Handeln gekommen ist. Kialiàn wirkt nervös, versucht aber, ihm gegenüber eine unbekümmerte Fassade aufrecht zu erhalten. Kurz darauf stürzt ein Mann in den Raum, diesmal ohne zu Klopfen.
«Kialiàn? Wir haben einen Einsturz im neuen Stollen. Was sollen wir tun?»
Das Gesicht der Verwalterin ist bleich, als sie Liha bittet, sie zu entschuldigen. Er spielt den perfekten Unbeteiligten.
«Dann werde ich mich in mein Zimmer zurückziehen. Ich hoffe doch, niemand wurde verletzt?»
Kialiàn nimmt sich nicht die Zeit, zu antworten. Kaum ist sie in der Dunkelheit verschwunden, verlässt Liha leise das Gebäude. Auf dem Minengelände herrscht große Aufregung. Aus den Schächten strömen im Fackelschein Kinder hervor. Dies ist wohl der beste Moment, nachzusehen, ob der Ausreißer, von dem früher gesprochen wurde, tatsächlich Sorim ist. Vielleicht gelingt es ihm sogar, den Jungen in der allgemeinen Verwirrung zu befreien.
Der Drache von Kelèn nähert sich dem Zentrum der Mine, als er glaubt zwei Gestalten zu erkennen.
«Dánirah? Laiàn? Was tut ihr hier? Wisst ihr wo Sorim festgehalten wird?»~ ~ ~
Luok beobachtet durch das Loch im Dach, wie He'sha den Magier nach und nach dazu bringt, sein eigenes Haus und seine magischen Vorräte zu zerstören. Der Mann ist so aufgebracht, dass er Verluste ohne Zögern in Kauf nimmt. Wenn sich Luok nicht um ihren Freund sorgen würde, wäre das Schauspiel bestimmt lustig. So überlegt sie nur, wie sie He'sha zu Hilfe kommen könnte. Sie erkennt, dass seine Kräfte inzwischen wirklich nachlassen, nicht nur gespielt. Sie will sich gerade als Schatten durch das Loch im Dack zwängen, als ein dumpfes Grollen die Erde erzittern lässt. Luok hebt lauschend den Kopf. Der Hilferuf des Ijenkae trifft sie wie ein Hammerschlag.
‹He'sha, du musst hier allein fertig werden. Talai braucht meine Hilfe. Die Mine stürzt ein.›
Die Hrankae nimmt sich nicht die Zeit, auf He'shas Antwort zu warten. Das Bild von Talai in einem einstürzenden Stollen ist in ihrem Gedächtnis wie eingebrannt. Sie schwingt sich in die Luft und fliegt zu dem Schacht, den die große Dunkelheit in ihrem Gedankenbild zeigt.
Um seinen Eingang sind zahlreiche Menschen versammelt, Kinder wie Erwachsene. Aus dem Schacht klettern immer noch staubige Gestalten, um erschöpft den Wartenden in die Arme zu fallen. Als letztes kommt ein bärtiger Mann, der sich ein bewusstloses Mädchen wie einen Sack über die Schulter geschlungen hat. Er bricht neben dem Schacht zusammen nur um sich gleich wieder hochzustemmen und in das Loch hinunter zu blicken.
«Hallo? Kelen? Wo bist du?»
Luok weiß genug. Talai ist noch da unten. Zusammen mit dem Ijenkae, das die Führung übernimmt, lässt sie sich in den Schacht hinunter fallen, die Flügel eng angelegt und ohne Rücksicht auf die Gefahr, die ihr selbst droht.
DU LIEST GERADE
Talai
FantasyNach einem Überfall findet sich die rebellische Tochter des Sonnenkönigs allein in einem fremden Land - einem Land, dessen Kinder von einer tödlichen Krankheit heimgesucht werden. Auf dem langen Weg nach Hause findet Talai überraschend Hilfe und Fre...